soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 16 (2016) / Rubrik "Thema" / Standort Linz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/466/836.pdf


Iris Kohlfürst:

(Un-)Moral in der Sozialen Arbeit

Über die Umsetzung der Professionsmoral im beruflichen Alltag


1. Die Wichtigkeit von Moral im Kontext der Sozialen Arbeit

Moral und Soziale Arbeit sind eng miteinander verflochten: Ausgehend von der Vermeidung, Aufdeckung und Bewältigung sozialer Probleme als Ziele der Sozialen Arbeit (vgl. Gruber 2009: 21) greift Soziale Arbeit – teilweise ungefragt und unerwünscht – in das Leben der ihr anvertrauten Menschen ein und ist mit einer entsprechenden Handlungsmacht ausgestattet. Moralisches Wissen ist daher unerlässlich, um das professionelle Handeln daran zu orientieren und damit zu rechtfertigen (vgl. Gruber 2009: 21ff, Otto/Ziegler o.J.: 3).

Im Rahmen des Professionalisierungsprozesses der Sozialen Arbeit wurde die Professionsmoral (Ethos der Sozialen Arbeit) formuliert (vgl. Heiner 2010: 169f, Bohmeyer/Kurzke-Maasmeier 2007: 164), unter anderem im von der International Federation of Social Workers (IFSW) und der International Association of Schools of Social Work (IASSW) verfassten Dokument „Statement of Ethical Principles“ (vgl. IFSW 2012), dem internationalem Ethikkodex der Sozialen Arbeit. Das Vorhandensein einer kodifizierten Professionsmoral führt allerdings nicht per se zu deren Umsetzung bzw. zur Vermeidung unmoralischen Verhaltens im Feld der Sozialen Arbeit – so gibt es beispielsweise neben der Extremform der sexualisierten Übergriffe (vgl. beispielsweise Hofmann 2010) gegenüber der Klientel auch Korruption im beruflichen Alltag (vgl. Linssen/Litzcke 2010: 248ff, Linssen/Schön/Litzcke 2012: 27ff).


2. Bezugsrahmen der empirischen Studien

Ausgehend von bis dato fehlenden Daten zur Verankerung und zum Nutzen des internationalen Ethikkodex im beruflichen Alltag und zur Frage, inwieweit der Ethikkodex seine gewünschte Wirkung entfaltet (vgl. Bohmeyer/Kurzke-Maasmeier 2007: 166), führte Kohlfürst (2014a) eine Analyse zur Umsetzung von Werten und Normen im beruflichen Alltag der Sozialen Arbeit durch, deren wesentliche Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden.

Im Feld der Metaethik finden sich unterschiedliche Theorien bezüglich der Frage, warum Menschen sich moralisch bzw. unmoralisch verhalten. Dieses kann zum einen davon abhängen, dass nicht eindeutig ist, was das moralisch Richtige in einer jeweiligen Situation ist. Patzig (1983: 79) kommt zu dem Ergebnis, dass

„bei gleichen zugrunde liegenden moralischen Grundsätzen doch vollkommen verschiedene ‚moralische Landschaften‘ entstehen können, je nach den aktuellen geographischen, ökonomischen und historischen Bedingungen, unter denen die Angehörigen solcher Gruppen leben“.

Auch wenn Menschen dieselbe Moral teilen, kann es dennoch zu voneinander abweichendem Verhalten kommen, abhängig davon, wie sie individuell interpretiert wird. Im Alltag begegnen dem Menschen zudem „Binnenmoralen“ (Honnefelder 2011: 509), deren besondere Werte und Normen nur den jeweiligen Mitgliedern bekannt sind und miteinander im Widerspruch stehen können. Banks (2012: 117) unterscheidet vier solcher Moralsysteme, wenn es in der Sozialen Arbeit zu moralisch relevanten Entscheidungen kommt: (1) das individuelle Moralsystem, (2) die Professionsmoral der Sozialen Arbeit, (3) das Moralsystem der jeweiligen Organisation, in der man tätig ist (festgehalten im Leitbild) und (4) die vorherrschenden gesellschaftlichen Normen, die öffentliche Meinung sowie die Gesetze. Für die Soziale Arbeit in Österreich charakteristisch sind (1) eine heterogene Personalstruktur (vgl. Züchner/Cloos 2012: 934f) und eine entsprechende Ausbildungslandschaft (vgl. Spitzer 2010: 321ff), (2) unterschiedliche Tätigkeitsfelder (vgl. Thole 2012: 25ff), (3) die enge Verbundenheit mit und die finanzielle Abhängigkeit vom Wohlfahrtssystem (vgl. Halfar 2011: 407ff) sowie (4) das Tätigsein in verschiedenen Organisationen (vgl. Heiner 2010: 76f). Diese Charakteristika, ebenso wie das Tripelmandat (der gleichzeitigen Verpflichtung gegenüber der Klientel, dem Sozialstaat und der Profession) der Sozialen Arbeit (vgl. Maaser 2010: 94), können dazu führen, dass das aus professionsmoralischer Sicht Gesollte nicht immer eindeutig erkennbar ist.

Zum anderen bedeutet die Festlegung dieses Gesollten nicht per se dessen Umsetzung. Wesentliche Voraussetzungen dafür sind das Erkennen des Vorliegens der moralisch relevanten Situation (vgl. Göbel 2010: 255ff) sowie die Erfüllung des Brückenprinzips – moralisches Sollen erfordert entsprechendes Können (Albert 1991: 91f). Zudem werden widersprechende Theorien zur Erklärung (un-)moralischen Verhaltens unterschieden: Der Internalismus sieht die Motivation zum moralischen Verhalten ausschließlich in der jeweiligen Person begründet; im Externalismus muss es äußere Motive (beispielsweise die Angst vor Sanktionen oder der Wunsch nach Anerkennung) geben, sodass es zum gesollten Verhalten kommt (vgl. Williams 1999: 105ff, Scarano 2011: 451). Nisan (1986: 347ff) erklärt in seinem Modell der moralischen Bilanz, dass, wenn Menschen sich im Allgemeinen moralisch verhalten, sie sich im Einzelfall bewusst unmoralisches Tun erlauben. Weitere Ursachen für Unmoral können Gedankenlosigkeit, Unbeherrschtheit und Willensschwäche sein, aber auch fanatische (man glaubt sich im Besitz der einzig wahren Moral) und amoralische (man selbst hält sich nicht an die vorherrschende Moral) Haltungen (vgl. Bayertz 2006: 23ff). Dass es zum moralisch gesollten Verhalten kommt, ist also nicht selbstverständlich.


3. Beschreibung des methodischen Zugangs

Die Fragen, wie moralische Werte und Normen der Sozialen Arbeit im beruflichen Alltag umgesetzt werden und welche Faktoren diese Umsetzung beeinflussen, wurden multimethodisch untersucht (vgl. Flick 2011: 12). Die normative Grundlage bildeten fünf Richtlinien des internationalen Ethikkodex der IFSW/IASSW, die in der Hauptsache den Umgang von Professionellen der Sozialen Arbeit mit der Klientel thematisieren. Es wurde ein sequenzielles (qualitativ-quantitativ-qualitativ) Forschungsdesign (vgl. Kelle 2008: 285ff) gewählt:

Studie 1: Leitfadengestützte Befragung von 30 Sozialarbeitenden (Personen, die im Kontext der Sozialen Arbeit KlientInnen betreuen) in Oberösterreich im Sommer 2012.

Studie 2: Schriftliche Befragung von 380 Sozialarbeitenden in Oberösterreich im Herbst 2012 (postalische Befragung, Rücklaufquote 50,2%; 69,3% Frauen und 30,7% Männer).

Studie 3: Leitfadengestützte Befragung von 17 ExpertInnen (13 ausgebildete SozialarbeiterInnen, 1 Psychologe mit Erfahrungen in der KlientInnenbetreuung und zusätzlich in unterschiedlichen Bereichen im sozialarbeiterischen Feld tätig: Leitung, Lehre und Ausbildung, Supervision und Berufsvertretung sowie 3 Personen aus dem Bereich der NutzerInnenvertretung) in Oberösterreich im Frühjahr/Sommer 2014.

Alle drei Studien sind gleichwertig zu sehen und dienten zur Erfassung unterschiedlicher Phänomene des Forschungsgegenstandes. Da in der Realität Personen mit unterschiedlichem professionellen bzw. beruflichen Hintergrund in der KlientInnenbetreuung tätig sind, wurden nicht ausschließlich ausgebildete SozialarbeiterInnen befragt; für diese Studien werden diese Personen als die „Gruppe der Sozialarbeitenden“ zusammengefasst. Die Personenauswahl erfolgte bewusst; die persönlichen Gespräche und die offenen Fragen im schriftlichen Fragebogen wurden mittels der interpretativ-reduktiven Analyse nach Lamnek (vgl. 2010: 367ff), die geschlossenen Fragen in der schriftlichen Befragung wurden mittels SPSS (einfache Häufigkeiten, nichtparametrische Analysen) ausgewertet (vgl. Kohlfürst 2014a: 118ff).


4. Ergebnisse

Im Folgenden werden wesentliche Ergebnisse bezüglich der Umsetzung und Einflussfaktoren der fünf Richtlinien beschrieben. Der genaue Wortlaut der Richtlinie sowie der detaillierte methodische Zugang werden den Resultaten vorangestellt. Grundsätzlich lässt sich als Ergebnis von Studie 1 festmachen, dass der internationale Ethikkodex der IFSW/IASSW eher unbekannt ist. Fast alle Befragten von Studie 2 (90,4%) sind der Meinung, dass es zwar einen solchen Ethikkodex geben muss, stehen aber dessen Wirkung eher skeptisch gegenüber. Nur 54 Prozent sind (eher) der Meinung, dass das Vorhandensein eines solchen Ethikkodex zu mehr moralischem Verhalten führen wird (vgl. Kohlfürst 2014a: 243ff).


4.1 Richtlinie 3 – redliches Handeln

Einer der Schwerpunkte der durchgeführten Studien war die Untersuchung der Umsetzung der Richtlinie 3 des internationalen Ethikkodex der IFWS/IASSW (Avenirsocial o.J.: 3):

„(3) Professionelle der Sozialen Arbeit sollen redlich handeln. Das beinhaltet, dass sie die Vertrauensbeziehung zu den Menschen, die ihre Dienste nutzen, nicht missbrauchen, dass sie die Grenzen zwischen privatem und beruflichem Leben sorgfältig einhalten und dass sie ihre Position nicht für persönlichen Vorteil oder Gewinn ausnutzen.“

In den Interviews von Studie 1 wurde nach Beispielen unredlichen Verhaltens gefragt; anschließend wurden 22 solcher Beispiele in der schriftlichen Befragung (Studie 2) zur Bewertung gestellt (auf einer Skala von 1 bis 6) und ermittelt, ob ein solches Verhalten bereits im Alltag beobachtet wurde. In den ExpertInneninterviews (Studie 3) wurde unter anderem nach den Ursachen der unterschiedlichen Bewertung und des Auftretens eines solchen Verhaltens gefragt. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse von acht ausgewählten Beispielen.


Tabelle 1: Bewertung sozialarbeiterischen Handels bezüglich Redlichkeit und beobachtete Häufigkeit (die Geschlechterkonstellationen bei den Fallvignetten sind zufällig gewählt; vgl. Kohlfürst 2014b: 329)


Die teilweise unterschiedliche Beurteilung der Fallvignetten bezüglich ihres Grades der Redlichkeit zeigt, dass die Gruppe der Sozialarbeitenden eine voneinander abweichende Vorstellung der Umsetzung der Professionsmoral haben kann – was für die eine Person gar nicht redlich ist, mag für jemand anderen sehr redlich sein. Einigkeit herrscht bei jenen Beispielen, bei denen es um die persönliche Bereicherung geht; die Varianz wird größer, wenn die Beispiele die persönliche Abgrenzung und die Vermischung von beruflichem und privatem Leben berühren. Zudem wurde jedes Beispiel von mehreren Befragten bereits beobachtet – Verstöße gegen die Richtlinie 3 sind im sozialarbeiterischen Alltag Realität.

Faktoren, die die korrekte Umsetzung von Richtlinie 3 beeinflussen, sind zum einen in der handelnden Person selbst zu finden (umfassende Ausbildung, ausgeprägte Reflexionsfähigkeit, die Persönlichkeit und das eigene Wohlbefinden) und zum anderen in äußeren Umständen (das Verhalten in der jeweiligen Organisation, Reflexionsmöglichkeiten, Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und strukturelle Vorgaben im Arbeitskontext). Im Umkehrschluss führen unter anderem eine fehlende Ausbildung, eigene Unzulänglichkeiten, private Probleme, Abstumpfung, überfordernde Rahmenbedingungen, eine schlechte Teamkultur sowie Tabuisierung/Relativierung unredlichen Verhaltens zu Verstößen gegen die Richtlinie 3. Für einige der befragten ExpertInnen sind zudem Fanatismus und Amoralismus zu beobachtende Haltungen von Sozialarbeitenden, die zu nichtredlichem Verhalten führen können. So wurde das „Robin-Hood-Phänomen“ genannt – für den guten Zweck ist (auch in der Sozialen Arbeit) alles erlaubt bzw. der Zweck heiligt die Mittel. Aber auch die Schaffung eines eigenmächtigen Ausgleichs als Ergebnis ungerecht erlebter Arbeitsbedingungen führen zu Verstößen gegen die Richtlinie (vgl. Kohlfürst 2014a: 174ff).


4.2 Richtlinie 4 – Behandlung mit Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit

Ein zweiter Schwerpunkt in den Studien bildete die Richtlinie 4 des internationalen Ethikkodex der IFSW/IASSW (Avenirsocial o.J.: 3):

„(4) Professionelle der Sozialen Arbeit sollen die Menschen, welche ihre Dienste nutzen, mit Mitgefühl, Einfühlungsvermögen und Achtsamkeit behandeln.“

Aufbauend auf die in Studie 1 zu Richtlinie 4 genannten Begriffe wurde in der schriftlichen Befragung erhoben, (1) woran die Klientel erkennt, dass sie gemäß dieser Richtlinie behandelt wird, (2) ob es möglich ist, die Handlungsgrundlage im aktuellen Arbeitskontext umzusetzen und (3) ob bereits Verstöße gegen diese Richtlinie beobachtet wurden. In den ExpertInneninterviews wurde wiederum nach beeinflussenden Faktoren gefragt (vgl. Kohlfürst 2014a: 184ff).

Die Umsetzung der Richtlinie zeigt sich zum einen in der von Wertschätzung, Respekt, Achtung der Selbstbestimmung des Gegenübers, Interesse und Aufmerksamkeit geprägten Haltung der Sozialarbeitenden und zum anderen in der konkreten Gesprächsführung und im professionellen, zuverlässigen, authentischen und freundlichen Verhalten. Wesentlich sind zudem passende Rahmenbedingungen sowie ausreichend zeitliche Ressourcen. Fast 60 Prozent der Befragten (n=215) gaben an, im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit schon einmal beobachtet zu haben, dass KlientInnen nicht gemäß dieser Richtlinie behandelt wurden. Die beschriebenen Beispiele lassen sich grob in fünf Kategorien unterteilen; zur Illustration werden im Folgenden exemplarisch Zitate aus den Fragebögen (Studie 2) angeführt.

(1) Die Missachtung der Bedürfnisse der Klientel durch die Sozialarbeitenden:

(2) Der Missbrauch der Machtposition der Sozialarbeitenden gegenüber der Klientel:

(3) Der inadäquate Umgang im direkten Kontakt mit der Klientel:

(4) Die Rollendiffusion:

(5) Das abwertende Sprechen über die Klientel:

Ähnlich wie bei der Richtlinie 3 ist die Umsetzung der Richtlinie 4 abhängig von intrapersonalen Bedingungen (das Vorhandensein eines humanistischen Menschenbildes, Selbstkompetenz, Fachkompetenz und Selbstreflexionsfähigkeit) sowie äußeren Bedingungen (ausreichend zeitliche und räumliche Ressourcen, passende Unternehmenskultur/-struktur, vorhandene Reflexionsmöglichkeiten und Erfahrung von Anerkennung; vgl. Kohlfürst 2014a: 202ff).


4.3 Richtlinie 5 – eigene Bedürfnisse vs. Bedürfnisse der Klientel

Die Umsetzung der Richtlinie 5 des internationalen Ethikkodex der IFSW/IASSW (Avenirsocial o.J.: 3) wurde ausschließlich in Studie 1 thematisiert – es wurde nach beobachteten Verstößen gegen die Richtlinie gefragt.

„(5) Professionelle der Sozialen Arbeit sollen die Bedürfnisse oder Interessen der Menschen, welche ihre Dienste nutzen, nicht ihren eigenen Bedürfnissen oder Interessen unterordnen.“

Die Analyse der Antworten zeigt, dass Verstöße gegen diese Richtlinie Bestandteil des sozialarbeiterischen Alltags sind und unterschiedlich motiviert sein können (vgl. Kohlfürst 2014a: 214ff): persönliche Interessen stehen aus eigennützigen Motiven über jenen der Klientel; als Beispiele wurden das Datum der Weihnachtsfeier in einer Dauerwohneinrichtung (auf Wunsch der MitarbeiterInnen nicht am 24.12.) oder grundsätzlich die Erhöhung des eigenen Selbstwerts durch die Betreuung hilfsbedürftiger oder abhängiger Menschen genannt. Aber auch strukturelle bzw. organisatorische Interessen können über jenen der Klientel stehen – beispielsweise wenn aufgrund finanzieller Rahmenbedingungen der Betreuungsbedarf von KlientInnen entsprechend ausgelegt wird, sodass eine ausreichende Finanzierung der Einrichtung gesichert wird. Ein weiteres Beispiel in diesem Kontext ist die Vermittlung der Klientel in nicht passende Maßnahmen, da „dort gerade ein Platz frei und zu besetzen ist“. Auch die zwangsweise Betreuung von KlientInnen wurde als Beispiel für einen Verstoß gegen diese Richtlinie gewertet. Es zeigt sich die Schwierigkeit der Bedienung der unterschiedlichen Interessen im Kontext der Sozialen Arbeit (Tripelmandat), die scheinbar nicht gleichzeitig erfüllt werden können.


4.4 Richtlinien 10 und 11 – ethisches Bewusstsein und Verantwortung

Die Richtlinien 10 und 11 des internationalen Ethikkodex der IFSW/IASSW thematisieren beide den Stellenwert ethischen Bewusstseins und der Übernahme von Verantwortung im beruflichen Alltag (Avenirsocial o.J.: 4):

„(10) Professionelle der Sozialen Arbeit sollen die ethische Debatte mit ihren Kolleg/innen und Arbeitgebern fördern und pflegen und die Verantwortung übernehmen, Entscheidungen ethisch begründet zu treffen.“

„(11) Professionelle der Sozialen Arbeit sollen bereit sein, basierend auf ethischen Überlegungen, die Gründe für Entscheidungen darzulegen und Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungen zu übernehmen.“

Diese beiden Richtlinien wurden in der Empirie zusammengefasst und anhand der Dimensionen Stellenwert von Ethik in der Praxis, die Rolle moralischer Überlegungen im Alltag sowie der Zugang zur Übernahme von Verantwortung untersucht (vgl. Kohlfürst 2014a: 223ff). Die Frage nach dem Stellenwert von Ethik wurde sowohl in Studie 2 als auch in Studie 3 thematisiert. Als wesentliche Ergebnisse lassen sich festmachen, dass moralische Fragen im Alltag mehr Zeit und Relevanz bekommen sollten und Ethik fixer Bestandteil in der Ausbildung sein muss. Allerdings erscheint Ethik als Bezugswissenschaft im Vergleich nicht so bedeutend, was die ExpertInnen auf das Folgende zurückführen: (1) einer generellen Skepsis und Unsicherheit gegenüber Ethik, (2) geringe Erfahrungen mit ethischer Reflexion und (3) fehlende Wahrnehmung von moralischen Fragestellungen im Alltag. Ethik ist in der Theorie wesentlich, allerdings scheint es so, als kann die Verbindung zur Praxis nicht gezogen werden. Moralische Überlegungen – ausschließlich thematisiert in Studie 1 – werden angestellt zum einen bezüglich des (un-)moralischen Verhaltens der Klientel (wenn also deren Verhalten evaluiert wird), aber zum anderen auch bezüglich des eigenen professionellen Handelns. So scheint es schwierig bis unmöglich, im Alltag immer moralisch zu agieren, vor allem, wenn gegen den Willen der Klientel gehandelt werden muss. Die Bereitschaft zur Übernahme von mehr Verantwortung wurde in Studie 2 dahingehend untersucht, ob Sozialarbeitende stärker für ihr Tun zur Verantwortung gezogen werden sollen und ob es eine einheitlich zuständige Beschwerdestelle für die Klientel geben soll. Hier zeigt sich ein Widerspruch in den Antworten: Während die Mehrheit eine solche Beschwerdestelle (eher) befürwortet, wird eine eigene stärkere Verantwortungsübernahme jedoch abgelehnt. Dieses lässt sich – als Ergebnis von Studie 3 – auf einen grundsätzlichen Widerwillen gegenüber Kritik/Fehlern sowie einer Angst vor den Folgen einer (berechtigten oder unberechtigten) Beschwerde zurückführen.


5. Ein Modell zur Umsetzung der Professionsmoral der Sozialen Arbeit im beruflichen Alltag

Bezug nehmend auf den der Empirie zugrundeliegenden ethischen Grundlagen und den Ergebnissen der drei Studien wurde ein Verlaufsmodell konstruiert, welches aufzeigt, wie und warum es zu einem (aus Sicht der Professionsmoral) moralischen oder unmoralischen Ergebnis im Kontext der Sozialen Arbeit kommen kann (siehe Abbildung 1). Dabei sind vier Momente entscheidend (vgl. Kohlfürst 2014a: 268ff):

(1) Das Wissen um die Professionsmoral:

An erster Stelle stehen das Wissen um die Professionsmoral der Sozialen Arbeit und die korrekte Interpretation dieser, welche beeinflusst werden durch persönliche Merkmale wie Fachkompetenz und berufliche Identität (inklusive der Kenntnis der aus dem Tripelmandat der Sozialen Arbeit resultierenden moralischen Herausforderungen des Alltags), errungen durch Ausbildung/Weiterbildung sowie der professionsmoralischen Sozialisation in Organisationen. Fehlen Ausbildung/Weiterbildung und/oder professionsmoralische Sozialisation und ist damit die Professionsmoral nicht bekannt, werden moralisch relevante berufliche Entscheidungen auf Basis der individuellen Alltagsmoral (vgl. Leist 2000: 6ff) und/oder der jeweiligen Organisationsmoral getroffen. Die so getroffene Entscheidung kann zufälligerweise zu einem aus professionsmoralischer Sicht gebotenen Ergebnis führen, aber ebenso zu einem unmoralischen.


Abbildung 1: Modell zur Umsetzung der Professionsmoral der Sozialen Arbeit (Kohlfürst 2014a: 269)


(2) Das Wollen zur Umsetzung der Professionsmoral:

Ist die Professionsmoral bekannt, ist der Wille zu ihrer Umsetzung von besonderer Relevanz. Persönliche Merkmale wie eine entsprechende Haltung (geprägt vom Grundsatz, immer moralisch zu agieren) und Selbstkompetenz (charakterisiert durch Reflexionsfähigkeit, Stabilität und eigenem Wohlbefinden) tragen ebenso positiv zu dem Wollen bei wie passende äußere Faktoren. Zu diesen zählen eine entsprechende Organisationskultur (das Verhalten der KollegInnen und Vorgesetzten, auch als Vorbild) und gerecht erlebte Arbeitsbedingungen. Negativ wirken sich persönliche Grundhaltungen wie Amoralismus (der Eigennutzen steht im Vordergrund), Fanatismus (die Ablehnung der Professionsmoral zum scheinbaren Wohle der Klientel) oder Bequemlichkeit aus, aber auch fehlende Selbstkompetenz und Wohlbefinden. Ungerecht empfundene Arbeitsbedingungen sowie KollegInnen bzw. Vorgesetzte, die selber keinen Wert auf die Umsetzung des moralisch Gebotenen legen, tragen ebenso dazu bei, dass die Umsetzung der Professionsmoral nicht gewollt ist, man sich ihr gewissermaßen nicht verpflichtet fühlt.

(3) Das Müssen zur Umsetzung der Professionsmoral:

Ist der Wille zur Umsetzung der Professionsmoral nicht vorhanden, sind es letztlich äußere Faktoren – wie die Organisationskultur und vor allem Kontrollmechanismen – die entscheiden, ob und wie die Professionsmoral umgesetzt wird. So kann trotz eines entsprechenden Unwillens gemäß der Professionsmoral gehandelt werden, um eine negative Sanktion zu vermeiden. Fehlen diese äußeren Faktoren, ist es wahrscheinlich, dass es zu einem unmoralischen Ergebnis kommt.

(4) Das Können zur Umsetzung der Professionsmoral:

Falls gemäß der Professionsmoral gehandelt werden will, ist das entsprechende Können letztes entscheidendes Moment, ob es zu einem moralischen oder unmoralischen Ergebnis kommt. Auch dieses Können wird zum einen von persönlichen Merkmalen (wie der entsprechenden Fach- und Selbstkompetenz) und zum anderen von äußeren Faktoren wie einer unterstützenden Organisationskultur und passenden Rahmenbedingungen (speziell von zeitlichen und finanziellen Ressourcen) gespeist. Fehlen die persönlichen Merkmale und/oder die äußeren Faktoren, wird (bzw. muss) unmoralisch gehandelt (werden).


An einem Beispiel soll dieses Modell erprobt werden – der Tag, an dem in stationären Einrichtungen klassischerweise Weihnachten gefeiert wird. Die Professionsmoral gibt vor, dass die Interessen der Klientel nicht den eigenen untergeordnet werden dürfen (Richtlinie 5) – und falls diese am 24.12. ihre Weihnachtsfeier haben möchte, dann ist der Termin aus Sicht der Professionsmoral der Gebotene. Ist dieses bekannt (durch Ausbildung/professionsmoralische Sozialisation), stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, ob die SozialarbeiterInnen dieses auch wollen. Gegebenenfalls wollen sie dieses nicht (da sie an dem Tag lieber bei ihrer eigenen Familie feiern wollen), dann sind die Rahmenbedingungen innerhalb der Organisation entscheidend: Gibt es entsprechende Kontrollmechanismen bzw. Vorgaben (Vorgesetzte, die bestimmen, dass die Weihnachtsfeier am 24.12. stattfinden wird), dann kann es gegen der Willen der SozialarbeiterInnen dennoch zum moralischen Ergebnis kommen. Fehlen diese Strukturen (also das Müssen zur Umsetzung der Professionsmoral), führt es in dieser Situation zu einem unmoralischen Ergebnis und die Weihnachtsfeier wird an einem anderen Tag stattfinden. Ist der Wille zur Umsetzung der Professionsmoral gegeben, stellt sich die Frage nach dem entsprechenden Können dazu. Eventuell sind die SozialarbeiterInnen nicht in der Lage, eine Weihnachtsfeier auszurichten bzw. kommt dieses einer Organisation „zu teuer“, sodass es nicht möglich ist und es letztlich zu einem entsprechenden Verstoß gegen die Professionsmoral kommt. Ist das Können vorhanden, kommt es zu einem aus Sicht der Professionsmoral moralischen Ergebnis.


6. Conclusio

Die Ergebnisse der drei Studien und das entwickelte Modell zeigen, dass es im sozialarbeiterischen Alltag zu Verstößen gegen die Professionsmoral kommt bzw. kommen kann, und es verschiedene Momente gibt, die darüber entscheiden. Entsprechend ist es essenziell, sowohl in Ausbildung als auch in der Praxis diese Momente und ihre Zusammenwirkung umfassend zu thematisieren und zu reflektieren. Aufgrund der wesentlichen Bedeutung der Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit müssen diese so beschaffen sein, dass Handeln gemäß der Professionsmoral möglich und gewünscht ist; die Implementierung eines Beschwerdeinstruments würde ebenfalls einen positiven Beitrag leisten. Letztlich müssen die (eigenen) Schattenseiten der Sozialen Arbeit reflektiert werden, sodass so wenig wie möglich gegen die Professionsmoral verstoßen wird bzw. werden muss.


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Über die Autorin

Dipl. Soz. Päd.in (FH) Mag.a Dr.in Iris Kohlfürst
iris.kohlfuerst@fh-linz.at

Professorin für Ethik der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Oberösterreich in Linz. Sie promovierte 2015 im Fach „Sozialwirtschaft“ an der Johannes Kepler Universität Linz. Mehrjährige Tätigkeit in der Praxis der Sozialen Arbeit und als nebenberuflich Lehrende.