soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 16 (2016) / Rubrik "Einwürfe/Positionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/467/860.pdf


Wolfgang Benedek im Interview mit Klaus Posch:

Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession

Perspektiven eines Völkerrechtlers


Seit mehr als 20 Jahren wird – angeregt durch Silvia Staub-Bernasconi – in der Diskussion um den wissenschaftlichen Standort der Sozialarbeit die These vertreten, wonach die Sozialarbeit sich als Menschenrechtsprofession verstehen kann und soll. Was sagt ein renommierter Völkerrechtler dazu? Prof. Benedek ist Vorstand des Instituts für Völkerrecht und Internationale Beziehungen sowie Direktor des Europäischen Trainings- und Forschungszentrums für Menschenrechte und Demokratie der Universität Graz; er ist Erster Vorsitzender/Mitglied des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz und langjähriger Leiter der Grazer Refugee Law Clinic. Er blickt auf mehr als 40 Jahre an wissenschaftlicher und praktischer Erfahrung im Bereich Menschenrecht zurück und emeritiert mit dem Wintersemester 2016/2017.


Menschenrechte und Refugee Law Clinic?

Posch: Herr Prof. Benedek, was sind Ihre Arbeitsschwerpunkte als Experte für Menschenrechtsfragen?

Benedek: Wir haben am Institut für Völkerrecht und internationale Beziehungen die Menschenrechte als einen Schwerpunkt. Dann haben wir außerdem noch das europäische Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie an der Universität, wo die Arbeit auf Menschenrechte ausgerichtet ist. Wir können und wollen nicht sämtliche Bereiche der Menschenrechte abdecken. Die Frage nach den Schwerpunkten war und ist zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich zu beantworten. Derzeit arbeiten wir an einem großen Forschungsprojekt, in dem wir uns mit der Menschenrechtspolitik der EU, nach außen und nach innen, befassen. Nach innen nennt man das Grundrechtspolitik. Ansonsten gibt es derzeit einen Schwerpunkt im Hinblick auf Migration und Asyl. Hier haben wir am Institut seit 2001 eine sogenannte „Refugee Law Clinic“, die ich seinerzeit eingerichtet habe. Wir sind allerdings nicht in der Lage, Studierende direkt zu Beraterinnen und Beratern auszubilden, sondern wir bieten eine zweistündige Lehrveranstaltung mit einem sehr engen Praxisbezug an – durch den Einbezug von Praktikerinnen und Praktikern mit verschiedensten Hintergründen. Im kommenden Wintersemester 2016/2017 wird diese zu mehreren Lehrveranstaltungen in Kooperation, etwa mit Rechtsanwälten [und Rechtsanwältinnen, Anm. d. Verf.] und Betreuungsinstitutionen ausgebaut. Dann sollten die Studierenden nach zwei Semestern in der Lage sein, direkt in den Beratungsprozess einzutreten, wobei diese Beratungsprozesse in erster Linie eine Rechtsberatung zu Asyl, Flüchtlingsrecht, Migration sein sollen. Das sind Themen, die uns im letzten Jahr durch die Verstärkung der Zuwanderung noch viel stärker beschäftigt haben als davor. Wo wir auch in vielfacher Weise gefordert waren, sind Einladungen zu Vorträgen, Diskussionen, Lehrveranstaltungen. Da geht es etwa um die Frage der „Versicherheitlichung“ der Migration – wir beobachten hier einen Trend: das heißt Migrantinnen und Migranten werden immer stärker als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und wir wollen eben darauf hinweisen, dass es vielmehr um Migration aus der Sicht der Menschenrechte gehen muss, also um eine menschenrechtsbasierende Sicht oder einen menschenrechtsbasierten Ansatz der Migration und insbesondere von Asyl und Flüchtlingsrecht und nicht eben um einen sicherheitsbasierten Ansatz. Da geht es uns darum, das bestehende Recht und die bestehenden Verpflichtungen überhaupt aufrecht zu erhalten, da in den letzten Monaten und in dem letzten Jahr verstärkt Rufe laut geworden sind, die gesagt haben, dass das Asylrecht in dieser Form nicht weiterbestehen kann, wir nicht alle Menschen nehmen können und wir nicht allen das Asylrecht anbieten können. Nachdem wir es offensichtlich nicht schaffen, die Leute entsprechend auf die EU zu verteilen, müssen wir hier quasi die Verpflichtungen zurücknehmen. Uns geht es darum darauf hinzuweisen, dass es sich hier um menschenrechtliche Verpflichtungen handelt, die man nicht so einfach zurücknehmen kann und völkerrechtliche Verpflichtungen, für die es ein Verfahren gibt, wenn man sie zurücknehmen will und dass der Staat oder einzelne Akteure nicht einfach in diese Rechte eingreifen können.

Dann kommen für uns Menschenrechte noch in einer Reihe von anderen Aspekten zum Zug: z. B. in meiner Funktion als Mitglied des Menschenrechtsbeirates der Stadt Graz, wo wir uns immer wieder mit der Frage der Behandlung der Roma-Bettler und -Bettlerinnen in Graz befassen. Dort stellt sich die Frage inwieweit deren Menschenrechte gewährleistet sind. Es gibt dazu ein weiteres Projekt, das teils ein historisches und teils ein aktuelles ist. Es geht dabei um die Frage, inwieweit die Erinnerungskultur dessen, was Roma und Romnija bei uns in der Steiermark und im südlichen Burgenland in der Vergangenheit erfahren haben, inwieweit diese bei uns noch lebendig ist, beziehungsweise inwieweit Nachfolgefragen, die sich heute als Menschenrechtsfragen darstellen, aufgegriffen werden. Dazu machen wir ein Projekt gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte, wo einerseits zeithistorische und andererseits menschenrechtliche Fragestellungen untersucht werden.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Menschenrechtsbildung: ich gehe davon aus, dass wenn die Menschen ihre Rechte nicht kennen, sie in weiterer Folge auch nicht dazu kommen werden – dafür braucht es eben Menschenrechtsbildung. Wir hatten die Möglichkeit im Auftrag des Außenrechtsministeriums, schon 2003, ein Handbuch der Menschenrechtsbildung, mit einer ganzen Reihe von Expertinnen und Experten rund um die Welt, auszuarbeiten, welches heute in 17 Sprachen verfügbar ist und weltweit im Einsatz steht und ständig weiterentwickelt und gepflegt werden muss.

Wenn es um einzelne Menschenrechte geht, habe ich einen gewissen Schwerpunkt in Hinblick auf Freiheit der Meinungsäußerung und das Recht auf Privatleben und Datenschutz. Ich habe vor zwei Jahren zusammen mit einem Kollegen ein Buch über Meinungsäußerungsfreiheit herausgebracht – im Hinblick auf das Internet. Uns ging es um die Frage: Wie lässt sich Meinungsäußerungsfreiheit und ihre Bedrohung im Internet am besten darstellen und gewährleisten? Das hat dazu geführt, dass ich bei verschiedensten Anlässen eingeladen worden bin, einerseits vom Europarat und andererseits von der EU, sogenannte Peer reviews – das sind „Fact findings“ im Hinblick auf die Situation der Meinungsäußerungsfreiheit – in verschiedenen Ländern durchzuführen. Das war etwa die Türkei, oder Serbien, oder Bosnien-Herzegowina. Ich habe auch im Zusammenhang mit dem Europarat an der Frage gearbeitet, wie man die Menschenrechte im Internet den Menschen näherbringen kann, sodass sie sie besser verstehen und auch davon Gebrauch machen können, beziehungsweise Rechtsmittel nutzen können und ähnliches mehr. Hier geht es nicht nur um die Frage, wie weit hier Staaten als Verletzer oder Verhinderer von Menschenrechten auftreten, sondern auch private Unternehmen. Das wirft dann ganz eigene Fragestellungen auf. In diesem Zusammenhang haben wir auch am Institut seit etlichen Jahren einen Arbeitsbereich – das ist vielleicht zu viel gesagt – aber wir kümmern uns jedenfalls auch um die Frage der Unternehmen und Menschenrechte oder auf Englisch „business and human rights“. Das ist ein Thema, das in den letzten zwei Jahrzehnten durch die Globalisierung stärker präsent geworden ist. Da war die Frage, inwieweit Unternehmen und nicht-staatliche Akteure an die Menschenrechte gebunden sind und wie man gewährleisten kann, dass sie die Menschenrechte einhalten.

Das ist ein Stichwort für einen anderen Bereich, nämlich den Bereich der Globalisierung: ich habe neben den Menschenrechten auch eine Ausrichtung im Bereich Wirtschaftsvölkerrecht und Entwicklungsvölkerrecht. Nachdem ich auch den Menschenrechtsschwerpunkt habe, hat es sich angeboten, die Schnittstellen genauer zu betrachten, und daher beschäftige ich mich mit Fragen wie Globalisierung und Menschenrechte oder internationale Wirtschaft und Menschenrechte, Wirtschaftsvölkerrechte und Menschenrechte. In diesem Zusammenhang sind der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Welthandelsorganisation und die Menschenrechte ein Forschungsfeld.

Dann gibt es noch eine Reihe von weiteren Bereichen: ich war involviert im Aufbau von Menschenrechtszentren in Süd-Ost-Europa. Einerseits in Sarajewo, andererseits in Priština und einer Reihe von anderen Orten. Diese Menschenrechtszentren sollten nach dem Krieg den Universitäten, in denen sie eingerichtet worden sind, helfen, eigene Kapazitäten im Bereich der Menschenrechte zu entwickeln und nicht in Abhängigkeit von internationalen Experten zu bleiben. Nachhaltigkeit war uns in diesem Zusammenhang ein Anliegen. Das Know-how dafür habe ich aus meiner Arbeit mit der Afrikanischen Menschenrechtskommission mitgenommen, wo ich in den 90er-Jahren als Berater tätig war. Da ging es auch um das Forschungsfeld außereuropäischer Sichtweisen auf die Menschenrechte: wie sehen Afrikaner und Afrikanerinnen das Thema? Ich war auch in China in einer ähnlichen Mission unterwegs: wie stellen sich Chinesen und Chinesinnen, Asiaten und Asiatinnen usw. die Menschenrechte vor? Diese außereuropäische Dimension hat mich immer sehr interessiert.


Verbindung zur Sozialarbeit? Zum Innovationspotenzial von Migranten und Migrantinnen

Posch: Bei Ihren Ausführungen zeigen sich Andockmöglichkeiten zur Sozialarbeit. Ein gegenwärtig wichtiges Arbeitsgebiet der Sozialarbeit ist die Sozialarbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind wahrscheinlich diejenigen, die am kontinuierlichsten am Alltag der bei uns zugewanderten Menschen in irgendeiner Weise teilhaben. Was können Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen tun, um dieses Programm, das Sie in unserem Gespräch skizziert haben, zu unterstützen?

Benedek: Letztes Wochenende war eine Tagung in Venedig und da habe ich einen Abend mit Kilian Kleinschmidt verbracht. Er war Regierungsberater zur Flüchtlingsproblematik, vor allem für das Lager Traiskirchen und auch für die deutsche Bundesregierung, weil er viel Managementerfahrung mit der Administration von Flüchtlingslagern hat. Er berichtete, dass es in Deutschland derzeit einen Trend bei den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen gibt, in diesem Handlungsfeld zu arbeiten. Und er sagte auch, dass das ganz wichtig ist, weil sehr viel mehr gebraucht werden, um sich diesen Menschen anzunehmen, damit diese möglichst schnell in die Gesellschaft integriert werden können. Damit spart sich der Staat Geld und bekommt letztlich auch Innovationen. Er hat immer wieder hervorgehoben, dass es ein innovatives Potenzial gibt, das durch die Migranten und Migrantinnen geweckt werden kann, wenn man es richtig macht, wenn man also diese Menschen fördert und ihre Stärken weiterentwickelt. Das haben in der Vergangenheit auch andere Länder gemacht und es gab in diesen Ländern dadurch auch viele positive wirtschaftliche Effekte. Natürlich gibt es Probleme, wenn Menschen aus anderen Kulturen kommen. Da braucht es auch Verständnis und Vermittlung und eben auch Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die das auch können. Das heißt, sie müssen eine interkulturelle Kompetenz mitbringen und in der Lage sein, in den Gastgesellschaften als Vermittler zu fungieren, um Konflikte anzuhalten, oder zu lösen, wenn sie auftreten. Es geht nicht nur darum, die Migrantinnen und Migranten zu betreuen, sondern eigentlich um mehr, nämlich ihnen zu helfen in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen. Dazu bedarf es auch einer Arbeit mit unserer Gesellschaft, die dafür noch zu wenig offen ist. Hier bestehen große Ängste und es muss daran gearbeitet werden, diese Ängste aufzulösen. Dafür braucht es in erster Linie Begegnung. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diejenigen Menschen, die mit Migranten und Migrantinnen zu tun haben, sehr rasch Ängste abbauen und dann oft extrem hilfreich und engagiert auftreten. Wie nimmt man den Menschen der Gastgesellschaften diese Barriere, die anfangs existiert und wie hilft man ihnen dabei, diese Erfahrungen zu machen? Insofern gibt es tatsächlich für die Sozialarbeit jetzt viele Betätigungsfelder, die in diesem Ausmaß bisher vielleicht nicht bestanden haben.


Sozialarbeit, junge Männer und Benachteiligungen

Posch: Ich möchte ein Stichwort aufgreifen, nämlich das Stichwort Konflikt: SozialarbeiterInnen arbeiten ja auch mit jungen Männern, die häufig feindselige Einstellungen gegenüber Migrantinnen und Migranten haben. Es sind junge Männer, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen oder arbeitslos sind. Die Sozialarbeit mit diesen jungen Männern ist auch ein Handlungsfeld der Sozialarbeit und das heißt, die Sozialarbeit ist auf dem Hintergrund der Prekarisierung der Lebensverhältnisse eines gar nicht unbeträchtlichen Teils der Gesellschaft in einem heftigen gesellschaftlichen Spannungsfeld gelandet. Jetzt kommen mit den Migrantinnen und Migranten noch stärker benachteiligte Menschen zu uns und wir Sozialarbeiter arbeiten in dem täglichen Konflikten zwischen armen und noch ärmeren Menschen. Wie soll das aus Ihrer Sicht auf Dauer gehen?

Benedek: Wir nehmen das oft dadurch wahr, dass eben die letzte Migrantengeneration der stärkste Gegner der nächsten ist. Also die haben am meisten Sorge und wollen keine weiteren mehr haben. Ich glaube, das lässt sich nicht leicht auflösen, weil es zum Teil einfach stimmt, dass sie mehr verlieren könnten, als andere, die gut versorgt sind oder einen Dauerjob haben und so weiter. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass man sich um beide Gruppen kümmern muss.


Sozialarbeit und Ressourcen

Posch: Der zweite Konfliktpunkt, den Sie ebenfalls angesprochen haben, ist der Konflikt zwischen den politischen Funktionären, die über die Mittelzuführung für die Sozialarbeit entscheiden und den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Gegenwärtig gibt es einen Prozess zunehmender Verarmung der Sozialarbeit. Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen verdienen in Relation zu anderen gleich gut ausgebildeten Menschen immer weniger, z. B. der „Gap“ in den Einkommen von Ingenieuren und Ingenieurinnen und den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen wird größer.

Benedek: Das ist mir nicht bewusst gewesen, aber ich stelle nur fest, dass es wirklich schwierig ist, hier Unterstützung zu bekommen. Also um ein Beispiel zu geben: auf Vorschlag des Menschenrechtsbeirats der Stadt Graz wurde eine sehr umfangreiche Arbeitsgruppe eingerichtet. Da sind viele Vertreter, von der Wirtschafts-, über die Arbeiterkammer bis zur Universität gesessen, um sich Gedanken zu machen, wie man mit der Frage der Roma-Bettler und -Bettlerinnen in Graz besser umgehen kann, aber auch mit den Ängsten der Bevölkerung ihnen gegenüber. Herausgekommen ist der Vorschlag der Einrichtung eines Zentrums, in das sowohl die Roma und Romnija, als auch die Österreicher und Österreicherinnen kommen können, Informationen erhalten oder sich auch beschweren können. Es wurde also eine Anlaufstelle geschaffen, weil so etwas in Graz bisher fehlte. Und wir haben gesagt, dass es da auch Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen braucht, die sich dann um diese Menschen kümmern. Daran scheint es bisher zu scheitern, weil kein Budget zur Verfügung gestellt wird, um solche Leute einzustellen. Wir brauchen aber kein Schaufenster, in dem Plakate hängen und wo die Leute sich dann selbst informieren sollen, das reicht nicht. Es ist nun mal eine zeitaufwendige und personalintensive, nachgehende, aufsuchende Arbeit notwendig. Allein der Gedanke, dass dann im Zentrum irgendjemand sitzt und das Telefon abhebt und dann kommen die Leute von selbst dorthin, ist unrealistisch. Also wenn man mit den Menschen wirklich Kontakt haben möchte, muss man sie dort aufsuchen, wo sie sind und vielleicht lassen sich dann Barrieren abbauen und sie werden dann auch in so ein Zentrum kommen. Aber bei uns ist das schwer durchzubringen. Dazu kommt noch der Sicherheitsgedanke, so in die Richtung, wir tun gar nichts für die Leute, solange wir nicht wissen, wer sie sind; die müssen sich also identifizieren. Natürlich kann man nicht damit rechnen, dass die Leute auf einmal alles über sich erzählen werden. Diese Meinungsunterschiede haben dazu geführt, dass bis heute dieses Projekt, das der Bürgermeister bereits vor eineinhalb Jahren in der Presse verkündet hat, noch nicht realisiert wurde.


Menschenrechte und Globalisierung: Todesstrafe und LGBTI-Rechte

Posch: Das dritte Thema, über welches ich mit Ihnen sprechen möchte, ist das Thema „Menschenrechte im Globalisierungsprozess“. Sie haben darauf hingewiesen, dass Sie das Thema, wie die Menschenrechte in China oder in Afrika betrachtet werden, sehr interessiert. Nun versteht sich Sozialarbeit auch als internationale Sozialarbeit und es gibt starke internationale Verbände. Dabei gibt es immer wieder die Debatte, ob nicht das Verständnis von Sozialarbeit, das hauptsächlich vertreten wird, in Wirklichkeit ein kolonialistisches ist. Z. B. gibt es in Afrika Projekte, bei denen wir beobachten, dass sich Eliten der Sozialarbeit bedienen, um ihren Anspruch auf ihre privilegierte Position in der Gesellschaft weiter aufrecht zu erhalten. Wie sehen Sie das?

Benedek: Wenn man Sozialarbeit als Entwicklungshilfe versteht, dann gibt es natürlich diese Debatte. Ich würde aber annehmen, dass heutige Entwicklungshelfer nicht mehr paternalistisch auftreten, wie zum Beispiel noch vor dreißig Jahren. „Hilfe zur Selbsthilfe“ hat sich als Leitidee durchgesetzt. Das große Thema ist eigentlich immer, die richtigen Partner zu finden. Das Problem, das ich auch erlebt habe, ist folgendes: man kommt mit hoher Motivation dorthin und ist bereit, auch eigene Zeit und Mittel zu opfern um Ergebnisse zu erzielen. Man trifft dann aber auf Partner, die fragen, warum sie irgendetwas opfern oder hergeben sollen. Das ist für uns, das ist unser Leben, unser Beruf, also wir versuchen uns an den Mitteln, die ihr hierher bringt, so gut wie möglich zu beteiligen und unseren Einsatz zu optimieren. Das muss auch erst einmal in Einklang gebracht werden. Ein Engagement, das viele mitbringen, wenn sie im Süden arbeiten, und wo sie von der lokalen Seite nicht unbedingt ein ähnliches Engagement vorfinden, weil es für diese der Alltag ist und sie wollen nicht Entwicklungshelfer sein, sondern ihr individuelles Leben verbessern. Das führt dann oft zu Frustrationen, bis hin zum Burnout und Zynismus. Aus meiner Sicht ist es wichtig, Menschen, die dorthin gehen, darauf vorzubereiten, dass sie nicht in diese Falle tappen, eines naiven Engagements des Helfens, welches dann sehr schnell zu einer Ernüchterung führt, weil die Leute dort halt nicht alle lieb sind und sich so gerne helfen lassen und auch nicht genau so helfen lassen, wie man sich das bei uns vorstellt. Hier die Wahl der richtigen Partner zu treffen, die wirklich etwas wollen und die nicht nur in ihre eigene Tasche wirtschaften, das ist ein großes Thema.

Posch: Der zweite Punkt war, dass es auch eine Kritik an den Menschenrechten gibt, z. B. in China und Afrika.

Benedek: Hier muss man unterscheiden: die Menschenrechte stehen derzeit relativ stark in der Kritik. Wir haben im Bereich der Menschenrechte auch Rückschläge zu beobachten. Da muss man jetzt zwischen Fehlannahmen auf unserer Seite und Verbesserungen, die notwendig sind, und dem Missbrauch des Themas für machtpolitische Aspekte unterscheiden. Wenn also zum Beispiel autoritäre Herrscher in Asien sagen, dass bei ihnen andere kulturelle, religiöse und historische Aspekte maßgeblich sind und sie daher die Menschenrechte nicht so gewährleisten können, wie sich das der Westen wünschen würde, dann steckt in dieser Aussage natürlich ein Körnchen Wahrheit. Allerdings wird das Argument benutzt, um die eigene Zivilgesellschaft erst recht zu knechten, die Opposition unter Kontrolle zu halten und um letztendlich die Menschenrechte auszuhebeln. Daher brauchen wir einen ständigen Diskurs. Es kann nämlich nicht sein, dass die Definition oder die Festlegung, was unter Menschenrechten und menschenrechtlichen Prioritäten zu verstehen ist, nur vom Norden kommt. Aber es kann auch nicht sein, dass wir, weil wir nicht dominieren wollen, akzeptieren, dass die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, denn hierbei geht es immer um die Menschen. Das ist in China zum Beispiel klar, das habe ich dort auch erlebt: die Chinesen kommen mit einem Weißbuch der Menschenrechte und präsentieren das als ihr Konzept der Menschenrechte: bei ihnen soll keiner hungern oder unter der Brücke schlafen. Bei ihnen sind also die wesentlichen wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte gewährleistet. Geht es jedoch um die bürgerlich-politischen Aspekte, wie Meinungsäußerungsfreiheit, Privatleben oder ähnliches, dann können sie das nicht so wie im Westen gewährleisten und dafür müssen wir Verständnis haben. Ich sage dann immer, dass ich gerne mit den Leuten aus der Zivilgesellschaft reden möchte, denn wenn diese dafür Verständnis haben, dann habe ich das auch. Aber wenn die Menschen aus der Zivilgesellschaft sagen, dass sie hier schlecht behandelt und ihre Rechte mit Füßen getreten werden, dann ist mir das wichtiger, als das, was die Regierung sagt. Hier muss man sehr aufpassen, dass man nicht in die Falle tappt. Also, dass man nicht bestimmen will, dass man quasi Gleichberechtigung und gleiche Augenhöhe haben will, aber, dass das dazu führt, dass es für die Betroffenen letztendlich die Menschenrechte überhaupt nicht mehr gibt. Natürlich kann man darüber diskutieren, was die Prioritäten sind. Die EU zum Beispiel wird oft kritisiert, weil es für sie offensichtlich nichts Wichtigeres mehr gibt als die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare. Also LGBTI-Rechte [Anmerkung: LGBTI ist eine aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender und Intersex], die die EU tatsächlich weltweit vertritt, sind sehr kontrovers in manchen Ländern und diese fragen dann, wie die EU dazu kommt, ihnen vorzuschreiben, wie sie gleichgeschlechtliche Beziehungen zu behandeln haben. Natürlich stimmt das gar nicht, sondern die EU arbeitet hier auch mit afrikanischen und anderen Ländern des Südens zusammen, die eine ähnliche Vorstellung haben, dass es hier keine Diskriminierung geben darf. Gleichzeitig gibt es eben Länder, in denen es diese Diskriminierung gibt. Und das ist nicht die EU gegen den Süden, sondern eine Gruppe von Ländern, denen das ein Anliegen ist gegen eine andere Gruppe, für die es kein Anliegen ist. So ähnlich wie bei der Todesstrafe. Da sind eben die US-Amerikaner in der Gruppe, die die Todesstrafe haben, mit einer Reihe von Ländern, gegen eine Reihe von Ländern, die sie nicht haben und auch nicht wollen.

Es war einer der großen Fortschritte im Europäischen Menschenrechtsschutz, dass nach und nach die Todesstrafe völlig eliminiert worden ist und heute auch rechtlich in keiner Weise mehr besteht – also auch nicht für den Fall des Krieges. Nahezu alle Europaratsstaaten haben das mittlerweile in ihrer Rechtssetzung verankert, allerdings gibt es noch ein paar, die dies nicht haben, die aber die Todesstrafe ausgesetzt haben.

Posch: Und das Ziel ist es, dass in jedem Land dieser Welt es untersagt ist, die Todesstrafe durchzuführen?

Benedek: Der Trend geht in diese Richtung. Es gibt alle zwei Jahre eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die auch von der EU sehr stark unterstützt wird. Dort sind es jedes Mal ein paar Länder mehr, die für die Abschaffung, beziehungsweise Aussetzung, der Todesstrafe eintreten. Aber es sind leider noch zu viele andere, die sie beibehalten wollen.


Wünsche an die Sozialarbeit?

Posch: Meine letzte Frage: was wünschen Sie sich von der Sozialarbeit?

Benedek: Auf der einen Seite würde ich mir wünschen, dass wir weit mehr Zusammenarbeit haben in diesem Bereich, weil wir vielleicht mehr verstehen sollten, was die Sozialarbeit tut. Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sollten in die Grundlagen der Menschenrechte eingeführt sein und auch in der Lage sein, Menschen zu helfen, zu ihren Rechten zu kommen. Sie sollten also wissen, was gibt es ganz grundsätzlich für Mittel, nicht nur Rechtsmittel, sondern auch ganz allgemein Mittel, mit denen man gegen Menschenrechtsverletzungen vorgehen kann. Und sie sollten auch darüber Bescheid wissen, welche Institutionen hier maßgeblich sind und an welche man sich wenden kann und so weiter. Also so eine Basiskompetenz im Bereich Menschenrechte würde ich mir für die Sozialarbeit wünschen. Dann denke ich mir auch, dass es bei Projekten durchaus spannend sein könnte, das Eine oder Andere gemeinsam zu versuchen. Wir arbeiten in der Forschung immer wieder mit Disziplinüberschreitungen: derzeit gibt es ein Projekt in Graz, wo Künstler und Künstlerinnen mit Juristen und Juristinnen zusammenkommen, um über Menschenrechte zu diskutieren. So könnte ich mir vorstellen, wäre das auch im Hinblick auf die Sozialarbeit möglich.

Posch: Wir haben am August-Aichhorn-Institut einige Projekte mit Roma und Sinti gemacht. So gibt es eine Reihe von Fallstudien, die den Alltag und die Lebenswelt und den rekonstruierten Alltag der Menschen zeigen.

Benedek: Das ist der Punkt. Wir arbeiten zwar auch von Zeit zu Zeit empirisch, aber generell doch eher weniger. Die Sozialarbeit ist eben vor Ort und hat die Wahrnehmungen, die uns oft fehlen. Bei dieser Arbeitsgruppe, von der ich berichtet habe, waren Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter dabei. Das war sehr wichtig, weil diese, wenn manche Herrschaften fantasiert haben, sagen konnten, wie die Realität aussieht. Und wenn sie uns das nicht gesagt hätten, dann wären wir vielleicht nie zu so realistischen Vorstellungen gekommen.


Literatur

Benedek, Wolfgang (2016): Die Flüchtlinge und der Rechtsstaat. Einladung zu einem Perspektivenwechsel. In: politicum, 119, S. 50-53.

Benedek, Wolfgang (2015a): Die Relevanz der lokalen Ebene für die Umsetzung der universellen Menschenrechte. In: Biaggini, Giovanni / Diggelmann, Oliver / Kaufmann, Christine (Hg.): Polis und Kosmopolis. Festschrift für Daniel Thürer. Zürich: Dike Verlag, S. 17-32.

Benedek, Wolfgang (2015b): Internationale Politik und Diversität. In: Amt der Steiermärkischen Landesregierung (Hg.): Angewandte Vielfalt – Diversität in der Praxis. Wien/Graz: NWV, S. 27-48

Benedek, Wolfgang (2015c): Menschenrechte zwischen Anspruch und Realität: Von der Menschenrechtsstadt Graz zur Menschenrechtsregion Steiermark. In: Scherke, Katharina (Hg.): Spannungsfeld „Gesellschaftliche Vielfalt“. Begegnungen zwischen Wissenschaft und Praxis. Bielefeld: transcript, S. 125-139.

Benedek, Wolfgang / Kettemann, Matthias (2014): Freedom of Expression and the Internet. Strasbourg: Council of Europe.

Staub-Bernasconi, Sylvia (1995): Das fachliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit – Wege aus der Bescheidenheit. Soziale Arbeit als Human Rights Profession. In: Wendt, W. R. (Hg.): Soziale Arbeit im Wandel ihres Selbstverständnisses – Beruf und Identität. Freiberg: Lambertus.


Weitere Quellen

Europäisches Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie der Universität Graz (ETC Graz): http://www.etc-graz.at/typo3/index.php (25.09.2016).

Europäisches Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie (ETC Graz): Menschenrechte verstehen. Handbuch zur Menschenrechtsbildung http://www.etc-graz.at/typo3/index.php?id=510 (25.09.2016).

Refugee Law Clinic: http://refugee-law-clinic.uni-graz.at/de/ (25.09.2016)

Widersprüche – Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, Heft 107, März 2008: Themenschwerpunkt Soziale Arbeit und Menschenrechte: http://www.widersprueche-zeitschrift.de/IMG/pdf/widersprueche_107.pdf (25.09.2016).


Über die Autoren

Wolfgang Benedek

Univ.-Prof. Mag. Dr. DDr. H.c. Wolfgang Benedek, Jg. 1951

Wolfgang Benedek studierte Rechtswissenschaften sowie Sozial- und Wirtschaftswissenschaften; seit 2002 ist er Leiter des Instituts für Völkerrecht an der Universität Graz.
Umfangreiche Lehr- und Forschungstätigkeiten zu den Themen Völkerrecht, Menschenrechtsschutz, Wirtschafts- und Entwicklungsvölkerrecht, Asyl- und Flüchtlingsrecht, Menschenrechte und Religion.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen u. a. im Bereich Menschenrechte, Menschenrechenrechtsbildung und Menschenrechtspolitik, Menschenrechte der Frau, Asyl- und Flüchtlingsrecht, Informations- und Medienfreiheit sowie Meinungsäußerungsfreiheit.
Als Experte war und ist er u. a. für die Europäische Union, den Europarat, der UNESCO, der Afrikanischen Kommission für die Rechte des Menschen und der Völker, des World University Service (WUS), zahlreicher Universitäten und Regierungen Südosteuropas, der Stadt Graz und des Landes Steiermark und des Innenministeriums.
Er gründete u. a. das Europäische Forschungszentrum für Menschenrechte und Universität (UNITEC) sowie das ETC Graz.
Die Universitäten von Prishtina und Sarajewo verliehen ihm Ehrendoktorate, Sarajewo die Ehrenbürgerschaft.
Weitere Informationen: http://static.uni-graz.at/fileadmin/rewi-institute/Voelkerrecht/CVs/CV_Benedek_2012.pdf

Klaus Posch

FH-Prof. HR i.R. Mag. Dr. Klaus Posch, Jg. 1950

Fachhochschul-Professor und von 2001 bis 2015 Leiter des August-Aichhorn-Instituts für Soziale Arbeit an der FH JOANNEUM in Graz.
Zuvor ab 1979 Bewährungshelfer und von 1983 bis 2001 Leiter der Bewährungshilfe Steiermark.
Studium der Evangelischen Theologie, Psychologie und Soziologie an den Universitäten Wien und Salzburg; außeruniversitäre Ausbildungen zum Psychoanalytiker und Gruppenpsychotherapeut.
Publikationen auf den Gebieten der Sozialen Arbeit, insbesondere Methoden in der Sozialarbeit, klinische Psychologie (Dissozialität), Psychoanalyse und Sozialmanagement.