soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 16 (2016) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/468/882.pdf


Epple, Ruedi / Schär, Eva (2015): Spuren einer anderen Sozialen Arbeit. Kritische und politische Sozialarbeit in der Schweiz 1900-2000. Zürich: Seismo Verlag.


424 Seiten / EUR 38,00

Ruedi Epple und Eva Schär machten sich auf die Suche nach historischen und aktuellen Beispielen von Sozialer Arbeit in der Schweiz, die sich als kritische und politische begreift und die in Theorie und Praxis auf Gesellschaftskritik aufbaut. Kurz: nach einer anderen Sozialarbeit. Solcherart Dichotomisierung macht vorerst stutzig, aber auch neugierig und man wird bei der Lektüre nicht enttäuscht. Dem Autorenpaar gelingt es, spannende, innovative Projekte Sozialer Arbeit des 20. Jahrhundert in vier detailreichen, chronologisch aufgebauten Kapiteln zu präsentieren und vor allem in Erinnerung zu halten.

Das Buch beginnt mit den Auswirkungen der internationalen Settlement-Bewegung in der Schweiz in den 1920er-Jahren, am Beispiel der „Ulme“ in Basel, wo im Geiste der Arbeiterbewegung nachbarschaftliche Unterstützungs- und Bildungsarbeit mit sozialpolitischem Engagement verknüpft wurde.

Im Zentrum des zweiten Kapitels steht die Arbeit des „Schweizerischen Arbeiterhilfswerks“ (SAH), das im kriegszerstörten Bochum von 1946-48 ein Sozialzentrum errichtete. Das SAH entstand aus der „Konferenz für sozialistische Wohlfahrtspflege“, die eine „gebundene Hilfe“ (Hilfe für die Mitglieder und AnhängerInnen) als zentral ansah. Das Spannungsverhältnis zwischen ungebundener bzw. neutraler und gebundener bzw. politischer Sozialarbeit, v. a. im ehemals faschistischen Deutschland, wird von Epple und Schär eingehend analysiert.

Das dritte Kapitel führt die Leserschaft zu den Auswirkungen von 1968, als mit großem Elan das Fürsorgerinnen-Seminar des „Seraphischen Liebeswerks Solothurn“ in die „Schule für Sozialarbeit Solothurn“ umgebaut wurde. Das Aufeinanderprallen einer konservativen katholischen Tradition mit dem gesellschaftskritischen Elan von Lehrenden und Studierenden, die eine „solidarische Professionalität“ entwickeln wollten, einen „Solothurner Frühling“ erlebten, jedoch in einem eskalierenden Konflikt die Auseinandersetzung verloren.

Im vierten Kapitel stellen Epple und Schär die Sans-Papiers-Bewegung in der Schweiz vor, die nach der Jahrtausendwende mit einer Reihe von Kirchenbesetzungen ihren Ausgang fand, sich in der Zusammenarbeit von Solidaritätsgruppen und Betroffenen auszeichnet und Sozialarbeit auch als politische Arbeit und Mandat versteht &nash; ein Kapitel, das durch die Globalisierung weit über die Gegenwart hinausreicht, weil es auf die internationale Bedeutung moderner Sozialarbeit hinweist.

Beeindruckend, dass alle vier Kapitel nicht nur in organisatorischer und praxisnaher Hinsicht beleuchtet, sondern dass einzelne ProtagonistInnen biografisch vorgestellt werden, die führend in den jeweiligen sozialen Initiativen engagiert waren. Einer lesbaren Zeitreise gleich, erfährt man aus den biografischen Vignetten über Christine Brugger (1908-1997), Verena Conzetti (1914-1999), Therese Frösch (*1951) und Pierre-Alain Niklaus (*1970) eindrucksvoll den Verlauf unterschiedlicher Generationen der Sozialarbeit im je unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontext.

Leider leidet das Buch etwas an Langatmigkeit. Weniger wäre Mehr gewesen. Die Reprints von historischen Quelltexten sind grundsätzlich eine Bereicherung, wenn sie sich auf die Schweizer Projekte und ProtagonistInnen beschränkt hätten. Die Auswahl von Texten, wie etwa aus den USA, Deutschland oder Frankreich, erscheint willkürlich und diese wären in einer speziellen Publikation besser aufgehoben gewesen.

Dieser Einwand tut der ausdrücklichen Empfehlung der vorliegenden Arbeit von Ruedi Epple und Eva Schär keinen Abbruch. Ein wichtiges, detailreich recherchiertes Buch über eine „andere“ Soziale Arbeit am Beispiel der Schweiz, das man sich auch für andere Länder wünschen würde.



Karl Fallend / karl.fallend@fh-joanneum.at