soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 16 (2016) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/478/870.pdf


Schirilla, Nausikaa (2016): Migration und Flucht. Orientierungswissen für die Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer.


263 Seiten / EUR 34,00

Das in der Reihe „Handlungsfelder Sozialer Arbeit“ erschienene Werk hält, was der Untertitel verspricht. Im Stil eines Lehrbuches werden unterschiedliche Themen behandelt, die in der Sozialen Arbeit mit Migrant_innen und Geflüchteten relevant sind. Statistische Daten zu Migration haben ebenso Platz wie ein historischer Überblick über Migrationsgeschichte und Migrationssozialarbeit sowie methodische Ansätze. Die didaktischen Fähigkeiten der Autorin, die an der Hochschule für Soziale Arbeit in Freiburg unterrichtet, zeigen sich daran, dass Themenfelder übersichtlich behandelt werden, Fallbeispiele eingeflochten und weiterführende Literaturtipps und Anregungen gegeben werden. Auch wenn rechtliche Grundlagen und historische Entwicklungen auf Deutschland bezogen sind, bleibt noch genügend Stoff übrig, der es wert ist, auch in österreichische Fachhochschulcurricula einzufließen.

Wesentlich ist die klare Positionierung von Nausikaa Schirilla auf Seiten jener, die gesellschaftlich marginalisiert werden. Strukturelle Rassismen, die sich beispielsweise in Problemen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche und in der Nicht-Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsabschlüssen äußern, werden deutlich angesprochen. Eine Thematisierung der (Re-)Produktion von Rassismen im Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit durch Sozialarbeiter_innen fehlt jedoch weitgehend. Eingangs präsentiert sie sich zunächst weder als Befürworterin noch als Gegnerin des Interkulturalitätsdiskurses und scheint etwas zu sehr um (ohnehin nicht existente) Objektivität bemüht zu sein. Es ist ihr ein Anliegen, verschiedenste Zugänge möglichst wertfrei darzustellen, sie bildet aber auch immer die Kontroversen dazu ab. Dennoch zieht sich ihre Rassismuskritik durch das ganze Buch und ist wesentlich bei diesem Thema, denn Probleme von Migrant_innen und Geflüchteten können nicht einfach als individuelles Versagen gedeutet werden, sondern sind im Kontext struktureller und individueller Formen von Gewalt zu betrachten. Im Laufe ihres Buches kristallisiert sich zudem doch eine sehr kritische Haltung gegenüber hegemonialen Konzepten zu Interkulturalität und Diversität heraus. Im Detail richtet sich Schirillas Kritik beispielsweise gegen ein assimilatorisches Verständnis von Integration, welches von Migrant_innen die unhinterfragte, völlige Anpassung an den sogenannten westlichen Lebensstil erwartet. Dem hinzuzufügen wäre, dass bei diesem Prozess auch nicht genau festgelegt wird, was diesen auszeichnet, beziehungsweise ein völlig idealisiertes Bild europäischer Werte gezeichnet wird, was in Österreich und Deutschland gegenwärtig daran erkennbar ist, dass behauptet wird, Phänomene sexualisierter Gewalt wären ausschließlich auf männliche Migranten als Täter zurückzuführen. Schirilla zeigt auf, wie problematisch es ist, dass auch in der Sozialen Arbeit soziale Probleme häufig als kulturspezifische Probleme gedeutet werden und dies in einem fragwürdigen Kulturverständnis im Sinne voneinander getrennter und völlig unterschiedlicher Räume wurzelt. Bezugnehmend auf Prozesse des Otherings, der Konstruktion der vermeintlich „Anderen“, schreibt sie:

„Zugänge der Sozialen Arbeit haben sich (…) nicht mit Fremdheit und angemessenen Reaktionen auf Fremdheit auseinanderzusetzen, sondern mit der Frage, wann, wer und wie etwas zu Fremden gemacht wird.“ (Schirilla 2016: 98)

In ihrer Argumentation nimmt sie Bezug auf postkoloniale Theoretiker wie Homo Bhabha und Stuart Hall und deren Überlegungen zu Identität und Kultur.

Im Allgemeinen werden im Großteil der sozialarbeiterischen Fachliteratur die Themen Antirassismus und Feminismus getrennt voneinander verhandelt. In diesem Buch haben feministische Ansätze zumindest insofern Platz, als dass ein affirmativer Zugang der Autorin dazu deutlich wird. Die Bedeutung intersektionaler Zugänge wird betont und stereotype Zuschreibungen an muslimische Frauen werden im Unterkapitel 3.3 zu Migration und Gender aufgezeigt. Dennoch wäre zuweilen eine radikalere Positionierung zugunsten feministischer Ansätze notwendig, um nicht vorsensibilisierte Leser_innen auf die Potenziale dieser Zugänge aufmerksam zu machen. Leider fehlen im historischen Überblick auch Bezugnahmen auf autonome Migrant_innen-Selbstorganisationen wie FeMigra (Feministische Migrantinnen) und auf queere Migrant_innen-Vereine wie Lesmigras. Die Autorin widmet sich aber anderen Randthemen, wie beispielsweise dem Thema Alter und Behinderung im Zusammenhang mit Migration.

Migration muss, so Schirilla, als Faktum anerkannt werden, anstatt andauernd deren Notwendigkeit, Sinnhaftigkeit oder Verwertbarkeit zu beurteilen. Auch der Ansatz, Entwicklungshilfe als Gegengewicht zu Migrationsbewegungen einzusetzen, sei weder erfolgversprechend noch ethisch vertretbar, wenn damit die Bewegungsfreiheit von Menschen eingeschränkt wird.

Stellenweise wäre eine deutlichere Kontextualisierung von Sozialer Arbeit als politische Arbeit wünschenswert. Ansatzweise geschieht dies, wenn Schirilla aufzeigt, dass die Unterstützung illegalisierter Menschen ebenfalls Aufgabe Sozialer Arbeit ist, auch wenn dafür die rechtlichen Rahmenbedingungen fehlen. Ermunternd ist, dass das Buch mit der Falldarstellung von Sozialarbeiter_innen, die Widerstand gegen eine Abschiebung leisten, endet. Es bleibt zu hoffen, dass sich davon viele Leser_innen inspirieren lassen und ebenso handeln.



Tina Füchslbauer / tina.fuechslbauer@gmx.at