soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 16 (2016) / Rubrik "Nachbarschaft" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/487/852.pdf


Lucie Procházková:

Entwicklung der Zugänge zu Menschen mit Behinderung in der (heutigen) Tschechischen Republik1


1. Wahrnehmung von Behinderung und von Menschen mit Behinderung

Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung und die Einstellung der Gesellschaft ihnen gegenüber haben sich in der Geschichte der Menschheit entwickelt und wesentlich verändert. Sie wurden akzeptiert, aber auch ignoriert und beseitigt. Sie wurden für etwas Besonderes, aber auch für etwas Schreckliches gehalten. Sie wurden angenommen, aber auch abgelehnt. Für sie wurde gesorgt, sie wurden aber auch ihrem Schicksal überlassen. Sie wurden betreut, gebildet, unterstützt, aber auch unterschätzt, gedemütigt und ausgeschlossen.

Bereits der Begriff Behinderung wird unterschiedlich angegangen. Behinderung kann unterschiedlich definiert werden. Für manche Definitionen ist der Ausgangspunkt die Behinderungsart, für andere die Folgen für den Menschen oder für bestimmte Bereiche des Lebens. Die Änderungen in der Benennung der Menschen stützen sich vor allem auf zwei Aspekte: Zum einen tritt der Mensch in den Vordergrund. Wir sprechen nicht mehr von einem Behinderten, sondern von einem Menschen, einer Person (mit Behinderung). Zum anderen wird der Mensch nicht mehr nur (fast ausschließlich) in Bezug auf seine Behinderung, seine Einschränkungen, Mängel wahrgenommen, sondern auch im Hinblick auf sein Potenzial und seinen Hilfe- und Unterstützungsbedarf (vgl. Procházková 2009). Von Defiziten und defizitorientierter Einstellung bewegen wir uns zur potenzialorientierten Einstellung.

Dies zeigt sich auch in der neuen Klassifizierung der WHO (2001), in der neue Begriffe Aktivität und Partizipation und die Umweltfaktoren eingeführt wurden. Sie betont die Notwendigkeit, sich auf die Möglichkeiten eines Menschen (mit Behinderung) und seine Eingliederung in die Gesellschaft zu orientieren (vgl. Procházková 2009) und die Umwelt, in der ein Mensch lebt, einzubeziehen.


2. Sorge für den Menschen in der Geschichte

In der Zeit des Christentums galt die Liebe zu den Mitmenschen. Alle sollen beschützt und versorgt sein. Die Gesellschaft hat relativ früh angefangen, bestimmte Formen der institutionellen Betreuung in Anspruch zu nehmen. Sie wollte mit jenen Menschen, die nicht eingegliedert werden konnten oder laut mancher eine Bedrohung für die Gesellschaft darstellten, auf irgendeine Weise fertig werden. Institutionen, die zu dieser Zeit entstanden sind, waren Klöster, Spitäler und Armenhäuser. Sie waren nicht nach dem Grund differenziert, warum sie jemand aufsuchte. Zusammen lebten dort Menschen mit Behinderung, arme, alte, kranke Menschen oder Waisenkinder. Mittelalterliche Institutionen dienten der Gesellschaft. Den Menschen wurde nur Grundbetreuung angeboten (vgl. Matoušek 1999), jedoch keine Bildung oder besondere Unterstützung zur Verbesserung ihrer Situation. Mit dem Einzug des Humanismus drehte sich die Institution etwas mehr zugunsten der Insassen. Im Mittelalter stand Gott im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, nun ist es der Mensch. Erste spezialisierte Institutionen wurden gestiftet, zum ersten Mal kam auch der Gedanke nach der Bildung von Menschen mit Behinderung.

Eine wichtige Persönlichkeit dieser Zeit war Jan Amos Komenský (Johann Amos Comenius, 1592-1670). Er forderte Allgemeinbildung für alle, auch für Mädchen, sozial Schwache und geistig Zurückgebliebene. Er gilt als Erfinder der modernen Pädagogik und wird als Lehrer der Nationen bezeichnet. Comenius legte großen Wert auf die Erziehung. Seiner Meinung nach sollte kein Kind von der Erziehung ausgeschlossen sein, denn auch ein wenig begabtes Kind könne man erziehen. Die Erziehung eines Kindes hatte laut Comenius drei Hauptziele: sich selbst und die Welt kennenzulernen (Bildung in Wissenschaften, Kunst und Handwerk), sich selbst zu beherrschen (moralische Erziehung) und zu Gott emporzukommen (Religionserziehung) (vgl. Comenius 1954, Monatová 1996).

Bis heute verlieren seine Prinzipien wie Anschaulichkeit, Selbstständigkeit und die Erziehung zum Gebrauch der eigenen Vernunft nicht an Gültigkeit – im Gegenteil. Die Schule soll lebensnah und freundlich sein und soll für das Erwachsenenleben vorbereiten. „Allen Menschen alles beizubringen“, hat Comenius in seiner „Didactica Magna“ beschrieben (vlg. Comenius 1954). Sie war seine erste große Schrift zum Thema Pädagogik und Schulwesen (in den Jahren 1627-38 auf Tschechisch geschrieben, 1657 zum ersten Mal lateinisch herausgegeben).


3. Erste Institutionen für Menschen mit Behinderung

Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik erste Institutionen (früher als Anstalten bezeichnet) für Menschen mit Behinderung gestiftet. Matoušek (1999: 22) gliedert die Funktionen der Institution (Anstalt) in drei Bereiche: 1. Unterstützung und Betreuung; 2. Behandlung, Erziehung und Resozialisierung; und 3. Beschränkung, Ausschluss und Repression. Anstalt ist seiner Meinung nach ein Ort, an dem zeitweilig oder dauerhaft eine Gruppe von Menschen mit Behinderung lebt und um die sich ein Fachpersonal kümmert. Es muss nicht nur um Menschen mit Behinderung gehen, zu solchen Institutionen zählen auch Heilanstalten, Krankenhäuser, Entzugskliniken, Gefängnis etc. Goffman (2003) bezeichnet diese Institutionen als totale Institutionen.

Die ersten Institutionen für Menschen mit Behinderung waren das 1871 in Prag gestiftete Ernestinum (Anstalt für Geisteskranke), der 1913 in Prag gestiftete Jedličkûv ústav (Anstalt für körperbehinderte Kinder) und die 1919 in Brno gestiftete Kociánka (erste Einrichtung für körperbehinderte Kinder und Jugend in Mähren). Die erste Anstalt für blinde Kinder (im Deutschen Namen stand sogar „für arme blinde“ Kinder) auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik (Hradčanský ústav) wurde in Prag bereits 1807 gestiftet (vgl. Monatová 1996). Der Stifter vom Ernestinum, Karel Slavoj Amerling, veröffentlichte 1833 auf Deutsch seine Arbeit „Die Idiotenanstalt des Sct. Anna-Frauen-Vereines in Prag nach ihrem zwölfjährigen Bestande vom J. 1871-1883“ (die Anstalt wurde erst 1898 in Ernestinum umbenannt). Die Schwerpunkte seines Zugangs lagen auf der Individualisierung, Umwelt und Anschaulichkeit. Jedličkûv ústav (Jedlička Anstalt) wurde nach seinem Stifter Rudolf Jedlička (einem Arzt) und Hradčanský ústav nach dem Ort (befand sich auf Hradschin in Prag) benannt.

Diese ersten Institutionen sollten ihren KlientInnen (damals oft Zöglinge genannt) komplexe Betreuung anbieten. Ihre Stifter hatten moderne Ideen und (vor allem Rudolf Jedlička) setzten neben medizinischer Behandlung und Rehabilitation auch Erziehung und Bildung und berufliche Vorbereitung durch. Wichtig war, die Menschen auf das Leben nach dem Verlassen der Institution vorzubereiten, vor allem auf die Arbeit. Dies ist dann aber nur selten zustande gekommen. Anstalten hatten eine segregierende Funktion. Viele Institutionen existieren heute noch, ihre Form und Funktion sowie ihre Namen haben sich jedoch geändert, so wie sich auch die Gesellschaft ändert.

In der Geschichte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Behinderung und des Umgangs mit behinderten Menschen werden drei Arten des Herantretens unterschieden: Rehabilitation, Integration, Inklusion. Diese Formen treten zwar prinzipiell historisch hintereinander auf, haben aber durchaus einen Gleichzeitigkeitsaspekt inne (Schmid 2013: 14).


4. Vor und nach der Wende

Vor dem Jahr 1989 waren Menschen mit Behinderung in der Tschechischen Republik (damals Tschechoslowakei) in der Gesellschaft nur selten zu sehen. Sie waren entweder in ihren Familien oder in Anstalten. Wenn ein Kind mit Behinderung auf die Welt kam, wurde den Eltern meistens empfohlen, ihr Kind an eine Anstalt abzugeben. Dort würde für das Kind gesorgt werden. Es gab weder Beratungsstellen noch soziale Dienstleistungen, die den Familien hätten helfen und sie unterstützen können.

Die Bildung fand hauptsächlich in Sonderschulen statt, die nach der Bildungsart differenziert waren. Manche Kinder (vor allem mit schwerer Behinderung) wurden von der Schulpflicht befreit. Sie galten als nicht erziehbar und nicht bildungsfähig. Die Teilnahme von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben war eher eine Seltenheit. Der Staat hatte es nicht vorgesehen und auch nicht gefördert (vgl. Procházková/Vítková 2008, Procházková 2010).

Die Ereignisse des Jahres 1989 haben die Leben der Menschen in der Tschechischen Republik und bei ihren Nachbarn stark beeinflusst. Vieles davon, worüber man früher nicht gesprochen hat, ist zum Thema geworden – auch Menschen mit Behinderung. Man hat angefangen, über Integration zu sprechen und diese auch langsam umzusetzen, und zwar nicht nur in den Schulen, sondern auch in anderen Bereichen (vgl. Procházková 2010). Menschen mit Behinderung sollen durch zahlreiche neue Maßnahmen, Dienstleistungen und gesetzliche Verankerungen die Möglichkeit haben, an allen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen.

Das Angebot an sozialen Dienstleistungen war in Tschechien lange sehr eingeschränkt. Nach der Wende kam es zu Entwicklungen, die zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung beitragen sollen. Neben dem Angebot vom Staat ist auch der nicht-staatliche Sektor entstanden. Es wurde klar, dass zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft auch nicht-staatliche gemeinnützige Organisationen notwendig sind (vgl. Matoušek a kol. 2007). Heute spielt dieser früher nicht vorhandene Sektor eine wesentliche Rolle in der Unterstützung von Menschen mit unterschiedlichen Benachteiligungen.

Große Institutionen verwandeln sich allmählich und versuchen, sich der Gemeinde mehr zu öffnen und sich einzuschalten (vgl. Matoušek 1999). Sie werden auch nicht mehr Anstalten genannt, sondern Heime für Menschen mit Behinderung oder Zentren für soziale Dienstleistungen. Der Umwandlungsprozess ist aber noch lange nicht zu Ende. Cháb (2004) betont, dass Anstalten nicht zu reformieren sind, sie müssen transformiert werden. Es reicht nicht aus, die alten Anstalten modern umzubauen, sondern man muss die Anstalt als Dienstleistung abschaffen und durch neue Dienstleistungen ersetzen.


5. Transformierung von sozialen Dienstleistungen

Soziale Dienstleistungen sollen den Menschen „Hilfe und Unterstützung zum Zwecke ihrer sozialen Eingliederung oder Prävention des sozialen Ausschlusses“ gewährleisten (Gesetz Nr. 108/2006 zu Sozialdienstleistungen). Die soziale Eingliederung, die Entscheidungswahl und ein Leben, das mit dem von Altersgenossen so gut wie vergleichbar ist, kann eine Institution aber nur beschränkt vermitteln. Man spricht von einer Institutionalisierung.

Als Institutionalisierung wird ein Prozess benannt, in dem für die Institution der Betrieb wichtiger ist als die individuellen Bedürfnisse jener, für die sie geschaffen wurde. Wichtiger ist also die Einhaltung der eingeführten Ordnung. Dieser müssen die KlientInnen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche unterordnen (vgl. MPSV 2013). Wenn alles festgelegt ist und man kaum Möglichkeit hat, etwas anderes oder zu anderen Zeiten zu machen, dann entspricht es nicht dem Erwachsenenleben. Cháb (2004: 40) spricht vom „Recht auf selbständiges erwachsenes Leben“, das als „eines der Grundrechte jedes Menschen, also auch eines Menschen mit Behinderung“ wahrgenommen werden sollte.

Die Existenz von Einrichtungen wie Sonderschulen, geschützten Werkstätten, speziellen Wohngemeinschaften und Heimen widerspricht der Inklusion. „Nicht Inklusion in eine Gesellschaft, die das Anderssein als ‚normale‘ Praxis ihrer Existenz begreift, ist dieser Behindertenpolitik eigen, sondern Ausgrenzung in eine spezialisierte Welt des ‚Andersseins‘“ (Schmid 2013: 15).

Unter Transformierung von sozialen Dienstleistungen oder Deinstitutionalisierung versteht man den Übergang vom institutionellen Dienstleistungsmodell (Anstalten) zu kommunalen Dienstleistungen, die vom Konzept der sozialen Eingliederung ausgehen (vgl. MPSV 2013). Der Ausgangspunkt dafür ist die Auseinandersetzung mit jenen Hilfestrukturen, denen „Unterstützung in Abhängigkeit“ wichtiger ist als jene Hilfe zur Selbsthilfe, die die helfende Institution letztendlich überflüssig macht (vgl. Schmid 2013: 15).

Während früher Bedürfnisse der Institution im Vordergrund standen (vgl. Goffman 2003, Basaglia/Basaglia Ongaro 1972), sind es heute Bedürfnisse der Einzelperson. Die Gesellschaft ist heute leistungs-, image- und erfolgsorientiert. Attraktiv ist jemand, der gesund, gut aussehend, beruflich und gesellschaftlich erfolgreich ist. Wenn jemand benachteiligt oder „anders“ ist, wird er als unattraktiv wahrgenommen, was mit potenzieller aber auch realer Erfolglosigkeit, manchmal bis zur Diskriminierung führend, verbunden sein kann. Wichtig ist hier das zu einer besseren gegenseitigen Kommunikation führende und gegen Missverständnisse sowie Probleme vorbeugende Verständnis (vgl. Michalík a kol. 2011). Ein Mensch mit Behinderung muss besonders viel Mühe aufbringen, wenn er sich den Status eines autonomen, wertvollen Menschen erkämpfen möchte. Die Reaktionen von anderen können jedoch diese Bemühungen durch gedankenlose Taten oder Unterlassungen völlig zunichtemachen (vgl. Murphy 2001: 101).

Der Transformationsprozess der sozialen Dienstleistungen hat in Tschechien in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts mit den ersten Alternativen zum Anstaltsleben begonnen. Diese Bemühungen waren jedoch vereinzelt (Eltern, NGOs) und nicht allgemein gefördert. Ein wichtiger diesen Prozess unterstützender Schritt war die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (von der Tschechischen Republik im Jahre 2009). Die tschechische Regierung hat bereits 2007 das Konzept zur Förderung der Transformierung von (stationären) sozialen Dienstleistungen genehmigt. Dem folgten zwei Projekte, deren Ziel die Umsetzung in der Praxis ist (2009-2013 und 2013-2015). Die Umsetzung erfolgt langsam. Zu sehen sind Teilerfolge, Lebensgeschichten von einzelnen Menschen oder kleinen Gruppen. Um positive Veränderungen zu erzielen, bedarf es komplexer Vorbereitungen: der KlientInnen, der SozialarbeiterInnen sowie aller MitarbeiterInnen der Einrichtungen, des Umfelds, der Öffentlichkeit.

Das Ziel des Transformierungsprozesses ist die Auflösung der totalen Institutionen, zu denen Behinderteneinrichtungen ebenfalls zählen. In der totalen Institution wird die Expertise der betroffenen Menschen über ihre Probleme und Bedürfnisse nicht nachgefragt. Jede totale Institution kann unter drei Blickwinkeln gesehen werden: aus dem Blinkwinkel der „Insassen“, der Verwaltung und der Angestellten sowie der Gesellschaft. Die „Insassen“ kommen hier nur in der Rolle eines Objektes vor, es wird „für sie“ gearbeitet und nicht „mit ihnen“, geschweige denn in ihrem Auftrag. Bei den Angestellten besteht ein widersprüchliches Doppelinteresse: Einerseits sind sie für die Insassen tätig, andererseits sind sie an der Beibehaltung der totalen Institution interessiert. Maßnahmen, die zur Eingliederung der „Insassen“ in die Gesellschaft und damit in der letzten Konsequenz zur Auflösung der totalen Institution führen, gefährden ihre Existenz als Angestellte und Leiter totaler Institutionen. Sie können daher tendenziell eher gegen erfolgreiche, die Anstalt überwindende Hilfe zur Selbsthilfe eingestellt sein (vgl. Schmid 2013: 16).

Wenn KlientInnen die Institution verlassen, haben manche Angestellte der Institution Angst, dass sie ihre Arbeit verlieren. Diese Menschen werden aber weiterhin Unterstützung benötigen, nur wird (muss) sie anders aussehen. Sie soll die selbstständige Lebensgestaltung fördern, was auch für die Angestellten oft etwas Neues ist und eine Herausforderung darstellt. Eine Herausforderung ist es eigentlich für beide Seiten.

Aus der Sicht des Staates kommt der totalen Institution die Doppelfunktion der Hilfe und der Kontrolle, der Unterstützung und des Wegsperrens zu. In der letzten Konsequenz wird jedoch die Politik immer der Kontrollfunktion, also der Garantie der öffentlichen Ruhe und Ordnung, näher stehen als der Hilfe für einzelne, ausgegrenzte Menschen. Totale Institutionen neigen dazu, auffällig „anders“ erscheinende Menschen zu verstecken, dafür zu sorgen, dass deren Probleme aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden (vgl. Schmid 2013: 16). So war die Situation vor der Wende, Menschen mit Behinderung waren nicht sichtbar. Scheinbar gab es „keine“ Menschen mit Behinderung, keine damit verbundenen Probleme. Doch jetzt sind sie hier, sichtbar, präsent. Sie melden sich langsam zu Wort und fordern ihre Rechte ein. Die Öffentlichkeit ist es aber nicht gewohnt, ist unsicher, braucht Zeit und Erfahrung. Der Staat ist es ebenfalls nicht gewohnt, er versucht und zeigt sich daran interessiert, entgegenkommend zu wirken, aber oft mit dem Hintergedanken „solange es nicht viel kostet“.


6. Soziale Dienstleistungen

In Tschechien wird die Unterstützung in Form von Sozialdienstleistungen oder in Form von Geldleistungen angeboten. Neu wurde ein Pflegebeitrag (in weiterer Folge nur Pflegegeld) eingeführt und im Gesetz Dienstleistungen wie betreutes Wohnen, Entlastungsdienste oder persönliche Assistenz verankert.

Das Pflegegeld wird jenen Menschen gewährleistet, die zur Sicherstellung ihres Lebens von der Hilfe einer anderen Person abhängig sind. Es ist eine finanzielle Unterstützung, die zur Hilfe bei der Selbstversorgung und bei der Sicherstellung der Selbstständigkeit, deren Ausmaß in der Stufe der Pflegebedürftigkeit festgelegt wird, bestimmt ist (Gesetz Nr. 108/2006 zu Sozialdienstleistungen).

In Tschechien gibt es vier Stufen der Pflegebedürftigkeit. Die Stufe und das damit zusammenhängende Ausmaß der notwendigen Unterstützung und Hilfe entscheiden über die Höhe des Pflegegeldes. Unterschieden wird zwischen Menschen unter 18 Jahren und Menschen über 18 (max. CZK 12.000, derzeit ca. EUR 444). In Österreich wird für den Anspruch auf Pflegegeld der Betreuungs- und Pflegeaufwand in Stunden erhoben. In Tschechien sind es Leistungen in bestimmten Bereichen. Ursprünglich wurden 36 Leistungen in zwei Bereichen bewertet: Pflege von eigener Person (18) und Selbstständigkeit (18). Dies wurde kritisiert, der Prozess der Anspruchserhebung war langwierig und ineffektiv und vor allem auf Mängel orientiert. 2012 kam es zu einer deutlichen Änderung. Seitdem werden zehn Bereiche des alltäglichen Lebens bewertet (z. B. Mobilität, Orientierung, Kommunikation, Körperhygiene, Haushaltsversorgung), wie sie ein Mensch bewältigen kann und welchen Bedarf er hat.

Das Pflegegeld soll zu mehr Selbstbestimmung beitragen. Die Menschen sollen selbst entscheiden, welche Dienstleistung sie in Anspruch nehmen wollen oder ob sie sich lieber von der Familie versorgen lassen und dieser einen Teil der Pflegeleistungen überlassen. In Tschechien spielt die Familie bei der Pflege und Betreuung von behinderten, kranken, älteren und pflegebedürftigen Menschen eine sehr wichtige Rolle. Die Selbstbestimmung ist nur dann möglich, wenn Dienstleistungen flächendeckend angeboten werden und leistbar sind. Die Höhe des Pflegegeldes (vgl. Integrovaný portál MPSV o.J.) wurde seit seiner Einführung nicht aufgestockt (im Gegenteil, die Höhe der ersten Stufe wurde von CZK 2.000 auf CZK 800 herabgesetzt), die Dienstleistungspreise jedoch schon. So liegt beispielsweise das derzeitige Maximum (Stand 2015), das für die persönliche Assistenz pro Stunde verlangt werden darf (laut Verordnung zum Gesetz seit 2014), bei CZK 130, ursprünglich waren es CZK 100. Erst 2015 ist es gelungen, die Aufstockung des Pflegegeldes zu erreichen. Ab dem 1. August 2016 wird das Pflegegeld in allen Stufen um 10% erhöht.

Zu sozialen Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung gehören persönliche Assistenz, betreutes Wohnen, Tagesstätte, sozial therapeutische Werkstätte, Entlastungs-, Dolmetsch-, Vorlese- und Begleitdienste und viele andere (vgl. Procházková 2010).


7. Berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung

Arbeit stellt einen wichtigen Bestandteil unseres Lebens dar. Sie ist die Voraussetzung für eine volle Integration in die Gesellschaft und trägt zur Selbstbestimmung, Anerkennung und Lebensqualität bei. Für Menschen mit Behinderung bedeutet Arbeit Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, sie bedeutet die Möglichkeit, einen besseren Status in der Gesellschaft zu erlangen, soziale Kontakte zu knüpfen. Arbeit gibt dem Leben einen Sinn und motiviert zu einer weiteren Entwicklung.

Vor dem Jahr 1989 waren Menschen mit Behinderung nur selten aktive Mitglieder der Gesellschaft. Viele von ihnen haben von klein auf in einer Institution gelebt, Theunissen (2003: 8) spricht von einer „institutionellen Biographie“. Die berufliche Eingliederung war nicht vorgesehen, gezielte Unterstützungsmaßnahmen gab es keine.

„Ende der 70er Jahre habe ich definitiv die Hoffnung aufgegeben, dass mich irgendeine Institution beschäftigt und habe mich selber beschäftigt. Ich habe angefangen Nachhilfeunterrichte zu geben. Zwei Kinder aus der örtlichen Hauptschule kamen zu mir, ich habe sie für die Aufnahmeprüfungen und andere für das Abitur vorbereitet. Damit beschäftige ich mich schließlich bis heute.“ (Neumannová 1991: 124)

Der nichtstaatliche Sektor, der heute Dienste wie Unterstützte Beschäftigung und Assistenz anbietet, hat nicht existiert. Vor der Wende gab es nur den 1952 gegründeten Invalidenverband (Svaz invalidû), der „Bürger mit Seh-, Hör-, Körper- und inneren Behinderung vereinigte“ (SČMVD o.J.) und die 1968 gegründete Vereinigung für Hilfe von geistig Behinderten (heute Gesellschaft zur Förderung von Menschen mit geistiger Behinderung). Nach der Wende entstanden zahlreiche Organisationen, eine der wichtigsten heute ist der Nationalrat von Menschen mit Behinderung der Tschechischen Republik (Národní rada osob se zdravotním postižením ČR). Es handelt sich um eine Organisation, die Interessen von Menschen mit Behinderung bei Verhandlungen mit staatlichen und öffentlichen Institutionen vertritt. Ihr Ziel ist die Eingliederung von Menschen mit Behinderung in alle Bereiche und Tätigkeiten (vgl. Procházková 2014).

Die Förderung der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gehört zur aktiven Arbeitsmarktpolitik. Wie in vielen anderen Ländern, sind auch in der Tschechischen Republik die Arbeitgeber verpflichtet, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen. Sie betrifft jene Arbeitgeber mit mehr als 25 Angestellten. Neben der Beschäftigung kann diese Verpflichtung noch durch die Abnahme von Produkten oder Dienstleistungen jener Arbeitgeber erfüllt werden, die mehr als 50% Angestellte mit Behinderung haben. Sollten sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen, müssen die Arbeitgeber einen bestimmten finanziellen Betrag abgeben. Dieser, im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, geht in Tschechien in das allgemeine Staatsbudget.

Neben dem ersten Arbeitsmarkt gibt es in der Tschechischen Republik auch den zweiten (geschützten) Arbeitsmarkt bzw. die geschützten Arbeitsplätze. Vor der Wende stellten für Menschen mit Behinderung die Invalidengenossenschaften eine Möglichkeit der Beschäftigung dar. Die ersten wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet (1949) und ihre Tradition, jedoch nicht mehr in so einem Ausmaß, bleibt bis heute bestehen. Heute gehören die Genossenschaften zu den Arbeitgebern, die mehr als 50% von Mitarbeitern mit Behinderung haben (vgl. Procházková 2014).

„Fast alle Arbeiten können von jemandem mit einer Behinderung durchgeführt werden, und wenn das entsprechende Umfeld gesichert ist, kann die Mehrzahl von Menschen mit Behinderungen produktiv sein“ (WHO 2011: 235).

Der geschützte Arbeitsmarkt wird in den letzten Jahren, vor allem seit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, kritisiert. In der Konvention wird von der Förderung der Beschäftigung im inklusiven Umfeld und Erlangung von beruflichen Erfahrungen am offenen Arbeitsmarkt gesprochen. Der geschützte Arbeitsmarkt wird daher von manchen als ebenfalls nicht geeignet erachtet (vgl. Flieger 2013, Grampp et al. 2010). Arbeit am ersten Arbeitsmarkt zu finden, ist für manche Menschen nicht einfach. Der geschützte Arbeitsmarkt stellt daher eine Alternative zur Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung in Tagesstätten dar. Außerdem trägt auch er zur sozialen Eingliederung bei. Manche Menschen haben Schwierigkeiten oder wenig Gelegenheiten, andere Menschen kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Schule und Arbeitsplatz sind Orte, an denen wir viel Zeit verbringen, dazu noch mit Menschen, mit denen wir einiges gemeinsam haben. Bestimmte Gemeinsamkeiten sind wichtig bei der Suche nach Freunden und Partnern. Für manche Menschen stellt also auch ein geschützter Arbeitsmarkt eine Möglichkeit zu sozialen Kontakten dar.

Daneben gibt es weitere Angebote, die zum Erwerb von Kompetenzen, zur Qualifizierung, Stärkung des Selbstbewusstseins und der Selbstbewertung und zur (Wieder-)Erlangung des Sinns des Lebens beitragen. Neben verschiedenen Projekten zählen dazu Umschulungen oder Trainingscafés. Für die Entstehung des ersten Trainingscafés in Tschechien sorgte die Vereinigung Green Doors, die Menschen mit psychischer Erkrankung nach der medizinischen Behandlung etwas anbieten wollten. Das erste Trainingscafé entstand 1997 in Prag (Café Na pûl cesty, auf Deutsch Café Auf dem halben Weg; vgl. Green Doors o.J.). Im Laufe der Zeit entstanden weitere Cafés, auch die Zielgruppe hat sich erweitert (Menschen mit geistiger Behinderung, Körperbehinderung, nach der Suchtbehandlung). Im Jahr 2011 gab es in Tschechien 34 Cafés, bis zum heutigen Tag kamen vermutlich noch welche hinzu.

Die erfolgreiche berufliche Eingliederung von Menschen mit Behinderung hängt von vielen Faktoren ab; von ihren persönlichen Eigenschaften und ihrer Motivation, von der Unterstützung und Haltung der Gesellschaft (und hier stark die Haltung der Arbeitgeber), von den Bedingungen am Arbeitsmarkt und von der Unterstützung von Seiten des Staates. Jeder einzelne Faktor spielt eine wichtige Rolle. Der eine kann ohne den anderen nur Teilerfolg oder vorübergehenden Erfolg erreichen.


Verweise
1 Dieser Beitrag ist eine leicht ergänzte Fassung der folgenden Publikation:

Procházková, Lucie (2015): Zugänge zu Menschen mit Behinderung beim tschechischen Nachbarn. In: Pantuček-Eisenbacker, Peter / Vyslouzil, Monika / Pflegerl, Johannes (Hg.): Sozialpolitische Interventionen. Eine Festschrift für Tom Schmid. St. Pölten: Fachhochschule St. Pölten, Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung, S. 115-123.


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Über die Autorin

PhDr. Lucie Procházková, Ph.D.
prochazkova.lucie@ped.muni.cz

hat Sonderpädagogik und Deutsch an der Pädagogischen Fakultät der Masaryk Universität in Brno (Tschechien) studiert. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Sozialökonomischen Forschungsstellen in Wien (2002-2007). Seit 2007 arbeitet sie an der Masaryk Universität (Institut zur Erforschung der inklusiven Bildung). Schwerpunkte ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit: Beschäftigung und soziale Partizipation von Menschen mit Behinderung.