soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 16 (2016) / Rubrik "Werkstatt" / Standort Salzburg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/488/894.pdf


Karlheinz Benke:

Forward To The Roots! Grundgedanken zur Digitalen Beratung

Von der Haltung zur Gestaltung1


Abbildung 1
Abbildung 1: Präsenzberatung vs. Virtuelle Beratung (eigene Darstellung)


1. Wie wir die ‚eine‘ Welt wahrnehmen, prägt unsere Haltung – zu den Basics des digitalen Ichs

Wir leben in einer Welt zunehmender Verunsicherung, die sich im Allgemeinen (Flüchtlingskrise versus Epoche der Heimatvertriebenen, globaler Ressourcenzerstörung versus Erderwärmung, Bankenkrise versus Wirtschaftskrise etc.) wie im Persönlichen (über die Alltagsreflexionen des Allgemeinen hinein ins Private) selbst ausdrückt.

Wie wir alle diese Welt wahrnehmen, hängt zum einen von unserem persönlichen Umfeld, den Informationsquellen und den genutzten Medien ab und damit von den Worten und Bildern, die diese transportieren (wollen); zum anderen aber auch ganz wesentlich von unserer Haltung bzw. unserer Kritik- und (Selbst-)Reflexionsfähigkeit. Alleine die Wortwahl der oben genannten ‚Krisen‘ drückt ja bereits unsere diesbezügliche Haltung und Positionierung dazu aus, denn ob Flüchtende auf der Suche nach der „sozialen Hängematte“ sind oder nach „Schutz vor Verfolgung“, ob der Öko-Kollaps längst eingetreten ist oder knapp bevorsteht, der eigene Arbeitsplatz aus „internen Gründen“ wackelt oder ihn mir andere „wegnehmen“ – unser Zugang und unsere Sichtweise prägt unsere Haltung und damit den Umgang mit unserer Umwelt. Was allerdings unter dem Strich für das Individuum in Zeiten wie diesen bleibt, ist ein mehr oder minder großes Maß an Verunsicherung (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2
Abbildung 2: Allgemeine vs. individuelle Verunsicherung (eigene Darstellung)

Diese Verunsicherung produziert (oft auch nur diffuse) Ängste und verstärkt so wiederum die Sehnsucht nach Orientierung und Halt bzw. auch nach Kontinuität und Stabilität. Es geht schlussendlich um die Befriedigung des Bedürfnisses nach Vertrauen. Und dazu bedarf es Rahmenbedingungen und Personen in Gesellschaft und Politik, die diese ermöglichen oder zumindest das Gefühl in einem wecken, dass es eine Aussicht auf Lösung gibt. Gerade an solchen ‚Autoritäten‘ jedoch, oder nennen wir sie bildhaft ‚Leuchttürme’, scheint es zu mangeln. Wir vermissen sie nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen: in unserem realen – und erst recht im virtuellen – (Beratungs-)Alltag. Wir sind auf der Suche nach realer und virtueller Orientierung.

Falle:
Die Wirklichkeiten wirken auch auf die BeraterInnen.
Wir können nicht so tun, als ob das nicht so sei!

Hinzu kommt: Wir leben in einer schnellen und zugleich oberflächlichen Welt, in der die hohe Geschwindigkeit (Virilio spricht in diesem Zusammenhang ja von ‚Dromologie‘ als Lehre der Beschleunigung) dazu verleitet, kaum mehr Zeit für sich selbst zu haben und somit auch „nicht bei sich selbst zu sein“ respektive sich selbst reflektieren zu können: „Die Entwicklung scheint so schnell zu sein, dass der Geist mit ihr nicht Schritt hält“, meinte einmal eine Studierende dazu nur lakonisch. Und dieses Tempo löste einen Zeitdruck aus, der sich individuell äußert (Burn-out, Stress, Ohnmacht etc.), Unsicherheiten auslöst und geradezu Hilfe und Unterstützung einfordert.

Eine Falle jedoch, die da lauert, ist:

Falle:
Das Wahrnehmungstempo und die Geschwindigkeit der Verarbeitung unserer Realität[en] sind unterschiedlich!


1.1 Von der Wahrnehmung zur Interpretation

Wie leben in einer Welt, die sich zum Großteil in Bildern zeigt. Der Schirm (Screen) prägt unseren Alltag – und zwar weniger verstanden als ‚Schutzschirm‘, denn vielmehr als simpler Bildschirm. Nehmen wir das Beispiel ‚(Ab-)Schreiben heute‘ her: Wer schreibt heute noch etwas ‚ab‘? Wir machen ein Bild (mit unserem ständigen Begleiter, dem Smartphone) und verschicken es auch gleich: wie praktisch! Was für Jüngere ‚normal‘ ist, wirkt für die ältere Generation oft noch eher befremdlich, zumal sie mit ‚schreiben‘ oder ‚sich Notizen machen’ ja eigentlich etwas „Haptisches“ assoziiert. So werden

Kommunikation findet immer weniger als gesprochenes Wort, denn als Text und Bild, statt.

Life has gone online – oder eben bildhafter: screen2screen.2 Es scheint, als hätten wir (und erst recht unsere Kinder) auf dieser endlosen Suche nach Möglichkeiten, in diesem ‚gefühlten Chaos‘ wirrer Bilder- und Textfluten immer öfters den Schlüssel verlegt für den Zutritt zu dieser einen Welt, die wir teilen (die ja selbst wiederum paradoxer Weise aus zwei Welten besteht, nämlich einer realen und einer virtuellen – was die Gestaltung unserer Lebensalltage ja auch nicht unbedingt einfacher macht)! Denn eingespannt in diesen Lebensalltag beschleunigen die Neuen Medien quasi als ‚Katalysatoren dieser Unübersichtlichkeit‘

  1. das einzelne Bild über Smartphones, iPads, Laptops etc. zum Video (lat.: „ich sehe“) bzw.
  2. den Text zum Audio (lat.: „ich höre“).

Die zentralen Fragen einer digitalen Beratungsbeziehung, die sich zwischen den Polen von ‚Haltung und Gestaltung‘ aufspannt, müssen demnach lauten:

Abbildung 3
Abbildung 3: Bilder lesen (eigene Darstellung)

Abbildung 4
Abbildung 4: Texte lesen (eigene Darstellung)

Somit kulminieren beide Aspekte in der schlussendlichen Kernfrage: Kann das (digitale) Ich die Welt und das Web 2.0 verstehen, wenn es noch nicht versucht hat, die Welt und das Web 1.0 zu verstehen, respektive wann es dieses wie zu nützen hat?

Es sieht nicht danach aus, wenn man in Betracht zieht, dass Kinder und Jugendliche ihre Daten im Netz preis geben, wenn in Foren und Plattformen Bilder und Fotos hochgeladen werden und Statements/(Dis-)Likes etc. fallen, die sich nicht bloß jeglicher weiterer (eigener) Bearbeitungskontrolle entziehen, sondern zudem auch das eigene ‚life‘ oder sogar den künftigen Job gefährden.

Das (junge) Ich scheint zu ‚rudern, flattern‘ – warum auch sollte dies auch anders sein? Warum sollten die Weiten der Sozialen Netze und ihre zunehmende (virtuelle) Unübersichtlichkeit bzw. auch Unbeherrschbarkeit online nicht auf die ‚realen‘ Wahrnehmungs- und Gefühlsmuster offline einwirken bzw. deren Mechanismen übertragen? Oberflächlichkeit scheint angesagt und Empathielosigkeit an der Tagesordnung („Was gehen mich die anderen an?“).

Verliert sich allerdings das Individuum im digitalen oder Offline-Leben, dann sucht es den fehlenden Halt bzw. die mangelnde Orientierung, dann ist virtueller Rat gefragt! Und wie das Meiste im Netz muss dies unkompliziert, schnell und kostenfrei erfolgen. ‚Jemand anderer‘ soll die eigenen Probleme lösen, womit die Lösungsfindung an ExpertInnen delegiert wird. Doch Vorsicht, Falle – auch den BeraterInnen kann es in ihrem Alltag ebenso ergehen:

Falle:
Die innere Verrohung, das emotionale „Abstumpfen“ erfolgt gerade dort, wo verstärkt Emotionalität und Empathie gefordert ist!


1.2 Von der Interpretation zur Haltung

Wo aber lernen wir den Umgang mit diesen Netzwelten, gerade in Anbetracht von Schnelllebigkeit und Flexibilitätsanforderungen (man denke nur an Sennetts ‚flexiblen Mensch‘) bzw. der Flüchtigkeit von Wissen im Bereich der Neuen Medien, der virtuellen Kommunikation bzw. der Beratung online und offline?

Wo lernen wir einen Umgang mit ganz banalsten Dinge, wie folgenden:

Hat ein Entgrenzt-Sein, eine Haltlosigkeit nicht auch etwas mit Haltung und Gestaltung zu tun, nämlich mit einer Haltung (durchaus auf beiden Seiten des Kommunikations- und Beratungsprozesses), die gerade in den unendlich scheinenden Möglichkeiten des Internet und einer gleichzeitig komplexer werdenden Welt geradezu Halt einfordert? Halt in Anbetracht der eingangs erwähnten verspürten Verunsicherung, nämlich betreff: Was ist richtig – was ist falsch?

Falle:
Halt meint keine besserwisserischen, auf Asymmetrie basierenden Ratschläge!

Verlernen wir es in Anbetracht der vielen Unübersichtlichkeiten und Haltlosigkeiten, unser Auge weniger auf das Augenscheinliche, sondern vielmehr auf das Besondere zu richten, auf all die Kleinigkeiten, die etwas – und schlussendlich auch uns selbst – ausmachen – etwa auf das ‚Bild hinter dem Bild‘, den ‚Text hinter dem Text‘, das ‚Ich hinter dem Ich‘? (vgl. Abbildung 5)

Abbildung 5
Abbildung 5: Das Ich hinter dem (digitalen) Ich (eigene Darstellung)

Ist die bewusste Auseinandersetzung mit dem „digitalen Ich“ (vgl. Abbildung 5) und seinen Facetten (also: Bild, Text, Stimme, Quellcode etc.) viel weniger Besonderheit als vielmehr Grundlage virtueller Kommunikation und damit auch digitaler Beratung? Liegt nicht vielleicht in der Reduktion von Komplexität bereits ein Teil der Lösung?


1.3 Von der Haltung zur Gestaltung

Das digitale Ich spiegelt seine Besonderheiten auch in der ‚Digitalen Beratung‘ (vgl. Benke 2014a) wider, die ihrerseits die textbasierten Komponenten der Online-Beratung um Stimme und Bild anreichert (vgl. Abbildung 6).

Abbildung 6aAbbildung 6b
Abbildung 6: Besonderheiten des digitalen Ich (in der Digitalen Beratung) (eigene Darstellung)

Will nunmehr das digitale BeraterInnen-Ich seinem Gegenüber ‚hilfreich‘ zur Seite stehen, so kann dies somit schriftlich, stimmlich oder bildhaft (etwa für hörbehinderte Menschen) erfolgen.

Um allerdings zu wissen, wie man aus BeraterInnenperspektive Text ‚hilfreich‘ gestaltet, ist es wichtig, möglichst viele Wege ‚dahin‘ zu kennen. Die persönliche Auseinandersetzung mit Beiträgen (vgl. e-beratungsjournal.net 2006) wie den folgenden kann einer dieser kreativen Wege sein:

Es geht nur darum, sich diese Wege gehen zu trauen.

In der Gestaltung des digitalen Ich geht es vor dem Hintergrund der eigenen Kompetenz (Können) und der Haltung (Wollen) in erster Linie darum, ‚Bilder zu dechiffrieren‘ bzw. ‚zwischen den Zeilen lesen‘ zu können.

Abbildung 7
Abbildung 7: Von der Haltung zu Gestaltung (eigene Darstellung)

Im Text selbst geht es um eine Form von Dekonstruktion (Derrida lässt grüßen), verstanden als ein kritisches Hinterfragen und Auflösen eines Textes im weiteren Sinne. Alleine eine Frage wie „Welches Element wird (von mir und/oder dem Gegenüber) im Text höher bewertet als das andere?“ vermag blinde Flecken sichtbar zu machen; So wie auch die BeraterIn die aktuelle Gültigkeit von Inhalten (gerade bei zeitversetzten Medien) einfach mit einem schlichten „Ist es noch so, dass …?“ hinterfragen müsste und so einen klassischen blinden Fleck sichtbar macht. Mit dieser Frage unterbindet sie gleichzeitig den sogenannten ‚www-Effekt‘ (vgl. Benke 2007: 107), also die Wahrscheinlichkeit zur veränderten Wahrnehmung der Wirklichkeit, indem sie mit ihren Gedanken a priori von einer Veränderung der Situation ausgeht und damit in der Interpretation des Textes die Möglichkeitsräume von Bildern, die selbiger (re-)konstruiert und im Kopf entstehen lässt, reduziert.


Doch kehren wir nochmals zum Können und zum Wollen zurück. Es scheint auch sehr nachvollziehbar zu sein, was seit vielen Jahren in Expertenlnnenkreisen ein offenes Geheimnis ist: Zum ‚Beraten/Unterstützen-Können‘ gehört die Aus- und Weiterbildung zum/r Online- oder Digitalen BeraterIn – zum ‚Wollen‘ ein Handeln auf Augenhöhe.

Dass dem jedoch nicht immer so ist, also dass nicht immer ein solcher ‚Hilfegedanke‘ die Triebfeder für virtuelle Beratungstätigkeiten sein muss, zeigt etwa die Forenstudie zur personenbezogenen Selbst- und Laienhilfe der Fachhochschule St. Pölten (vgl. Brandstetter/Neidl/Stricker 2011) auf. Zentrale Erkenntnisse waren u. a., dass weniger die Unterstützung als vielmehr Macht (im Sinne von Foucault) im Fokus der BeraterInnen stehen. Somit ist auch das Hilfe-Motiv selbst nicht vorrangig ein ‚pro-soziales‘ Verhalten, sondern eher Ausdruck von sozialer Anerkennung bzw. Selbstbestätigung (also davon, den Raum im Sinne Bourdieus zu beherrschen): Das ‚Helfen-Können‘ will unter Beweis gestellt werden – eine Quasi-„Profilierung gegenüber anderen als ‚Wettkampf‘“ liegt nahe.

Hilfe – ganz nach dem Verständnis einer klassischen Beratungsinteraktion von ‚Geben und Nehmen‘ – war somit jedenfalls in dieser Studie keineswegs deutlich erfassbar, was das AutorInnenteam zur These veranlasste, dass Online-Support gewissen Regeln und Strukturen folge und gerade ‚so‘ Hilfe in besonderer Weise beschränke. Ein Studienergebnis also, das doch zu erstaunen vermag und einen Grund mehr darstellt, Haltung als Leitmotiv menschlichen Handelns in den Fokus zu rücken:

Doch Vorsicht:

Falle:
Haltung in der beraterischen Interaktion ist [k]eine Frage der Qualifikation!

Schlussendlich ist Haltung als gelebter Ausdruck der (vielen) Bilder im Kopf genau das, welches Bild man als BeraterIn ‚wie‘ vermittelt und welchen Text man ‚wie‘ schreibt. Damit meint Haltung die Fähigkeit, all diese Bilder und Texte möglichst wertfrei zu interpretieren, sie vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen reflektierend abzuwägen, sich Zeit zu lassen und diese sodann für das ratsuchenden Gegenüber nutzbar zu machen.


2. Wie wir die Welt individuell wahrnehmen

Wie vielfältig sich eine solche Haltung zeigen kann, zeigt jeweils das folgende (vom Autor ‚stark geraffte‘ – denn hierbei geht es allein um die Wortwahl als Ausdruck der Haltung!) Beispiel sehr deutlich auf.

Das Besondere daran ist, dass wir hier die Möglichkeiten haben, über 5 verschiedene Antworten zu ein und derselben Anfrage zu verfügen. Und diese stammen allesamt von ‚Profis‘ bzw. Online-Beratungsinstitutionen. Doch kehren wir an den Anfang zurück.


2.1 … nur eine @-Anfrage

Es war einmal eine Beratungsanfrage, deren fünf Erstantworten auch ursprünglich im deutschen Konsumentenmagazin unter www.guter-rat.de (dzt. offline) veröffentlicht wurden.

„Sehr geehrte(r) […],

irgendwie weiß ich nicht mehr weiter und vielleicht können Sie mir weiterhelfen. Ich hatte vor ungefähr 4 Jahren eine richtig depressive Zeit, in der es mir wirklich sehr schlecht ging […; es folgt ein komplexe, vielschichtige Fallschilderung, Anm. d. Verf.]

Irgendwann bin ich also von selber wieder aus dem Schlamassel rausgekommen. Und ich sage mal so: Bis vor einem halben Jahr ging es mir eigentlich wieder ganz normal.

Leider lief es aber in den letzten Monaten aber nicht sehr gut für mich und ich hatte mit einigen Schicksalsschlägen zu kämpfen. […; es folgt eine Beispielaufzählung, Anm. d. Verf.]

Aber seit ich daheim bin, bin ich total niedergeschlagen und depressiv. […; es folgt eine Aufzählung der Selbstwahrnehmung vor dem Hintergrund des eigenen Alltagerlebens, Anm. d. Verf.]

Es scheint fast so, als ob die Zeit stillstehen würde.

Ich weiß echt nicht, wie ich mich wieder aufraffen kann, etwas in die Hand zu nehmen und nach vorne zu schauen. Vielleicht können Sie mir Tipps geben? Ich brauche unbedingt meine volle Kraft und Konzentration für die Arbeit… Zu einem Therapeuten möchte ich nicht gehen!! Ich will erst mal selbst versuchen an mir zu arbeiten. Was könnte ich Ihrer Meinung nach tun?

Vielen Dank und freundliche Grüße,“

Was ist also die Kernfrage, das zentrale Anliegen des Ratsuchenden? „Vielleicht können Sie mir Tipps geben? […] Was könnte ich Ihrer Meinung nach tun?“ Wie sehen aber nun solch professionelle Antworten dazu aus und wie zeigen sich deren dahinter stehende Haltungen?

Antwort 1 stammt von einer Selbsthilfegruppe und beinhaltet eine Empfehlung („besprechen Sie Ihren momentanen seelischen Zustand mit Ihrem Hausarzt oder dem Arzt, der Sie wegen Ihres Unfalls behandelt“), einen Rat („Sprechen Sie mit einem Arzt Ihres Vertrauens über Ihre seelische Verfassung. Er wird Ihnen medikamentös helfen können, den Leidensdruck zu vermindern“) und Hinweise wie:

„Akzeptieren Sie, dass Ihre Psyche im Moment angegriffen ist. Das ist nichts, was einem unangenehm sein müsste, und hat auch nichts mit geistigen Defiziten zu tun. Eine Depression ist eine Stoffwechselerkrankung des Hirns, bei der die Balance der Neurotransmitter gestört ist. Dies kann durch Medikamente gehandelt werden… Sobald Sie sich dafür stabil genug fühlen, beschäftigen Sie sich bitte noch einmal mit der Frage, ob Sie nicht doch therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen wollen… Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen! Niemand wird eine Depression von heute auf morgen los.“

Wie geht es Ihnen als LeserIn? Erkennen auch Sie hier eine asymmetrische Kommunikation (aus einer wissenden Position heraus)? Spüren auch sie die Direktivität, die zugrundeliegenden Imperative (was vielleicht noch nachvollziehbar ist, wenn die Perspektive dieser Selbsthilfegruppe erwünscht war)? Man darf sich auch die Frage stellen, wer das Problem dann hat, wenn diese Ratschläge nicht fruchten. Und: Was ist die dahinter liegende Grundhaltung?

Antwort 2 entspringt der Tastatur eines Dipl. Psychologen, der schreibt „ich glaube“ und „daher empfehle ich Ihnen“. Auch hier wird (nur) eine Handlungsoption angesprochen – es fehlen klare Alternativen, denn: Was ist, wenn dieser Gedanke nicht hilfreich ist?

Antwort 3 formuliert ein Psychologe, der beim Gegenüber trotz „übliche[r] Lebensereignisse“ einen seit Jahren „latend [sic!] depressiv[en]“ Hintergrund vermutet. Und der Akademiker (DDr.) fragt des Weiteren:

„Wo bleibt eigentlich das Thema Partnerschaft? ist in diesem Bereich alles in Ordnung und warum hilft er Ihnen nicht? Falls Sie aber keinen Partner haben sollten und sich einsam fühlen, wieso erwähnen Sie dann einen Hund? Oder ist der Hund ein Partnerersatz? Hier mag doch auch eine Baustelle sein?“

In dieser Antwort finden sich eine Diagnose (latent depressiv) und Verharmlosungen („übliche Lebensereignisse“) bzw. wenig empathische Formulierungen wieder.

Antwort 4 stammt von einem Beratungsportal, dass verschiedene Quellberufe in seinem Team hat – vorzugsweise allerdings PsychologInnen und TherapeutInnen. Der Berater mailt:

„ich vermute, dass Sie einfach ein bisschen zu lang und zu oft über Ihre Gefühle hinweg gegangen, anstatt ihnen nachzugehen […] da ist Trauerarbeit fällig! Sorry, wenn ich das so klar sage. […] es ist vielleicht löblich, aus einer Depression versuchen zu wollen allein raus zu kommen. Und da liegt aber auch genau der Hase im Pfeffer: was wird wohl geschehen, wenn Sie mal nicht so stark sind und sich Hilfe organisieren? … Dafür, dass […] würden sich Hartgesottenere einen Coach nehmen.“

Ebenso auch hier ein vermuteter Befund (depressiv), zwei Imperative und Bewertungen.

Last, but not least Antwort 5, die von einer konfessionellen Beratungseinrichtung stammt. Die Beraterin schreibt:

„schön, dass Sie den Mut gefunden haben, uns zu schreiben und Danke für das Vertrauen, das Sie damit in uns setzen… […] Nachdem ich Ihre Zeilen gelesen hatte, musste ich mehrmals kräftig durchatmen. Sie haben viel Schweres durchgemacht, und ich kann mir vorstellen, dass Sie sich sehr niedergeschlagen fühlten…

Sind womöglich Ihre eigenen Bedürfnisse zu kurz gekommen? Haben Sie (um nur e i n Beispiel zu nennen) sich genügend Zeit gegönnt, um um Ihre Großmutter zu trauern? Ich habe so ein Bild, dass Sie Ihre Gefühle, Wünsche, all das, was Sie für sich gebraucht hätten, meist in eine große Kiste gepackt und gut verschlossen gehalten haben. Wäre es für Sie eine Möglichkeit, zunächst einmal einen veränderten Blickwinkel einzunehmen? Eine neue Sichtweise kann manchmal den Raum freigeben für neue Perspektiven.“

Hier gibt es Fragen, Emotionen und emotionale Ausdrücke, Gedanken, Vermutungen und: Wertschätzung! Und eine entsprechende Haltung dahinter, nämlich eine, die der professionellen Online-Beratungshaltung wie jener der Erwartungshaltung des Gegenübers am nächsten kommt.

Doch haben Sie eine Vermutung, worin auch im letzten, der wohl ‚hilfreichsten‘ Antwort Falle liegen könnte? Vorsicht:

Falle:
Auch bei Empathie gilt: Die Dosis macht das Gift!

Wir sind uns als Beratende dessen bewusst, dass es weder ‚immer‘ gelingen kann die Erwartungshaltung der Ratsuchenden noch die ‚Richtigkeit‘ der Antwort einzulösen, denn: Eine ‚richtige‘ Antwort gibt es natürlich nicht – viele eher schon eine ‚methodisch richtige‘. Mit Sicherheit aber gibt es eine ‚hilfreiche‘ Antwort, die wiederum an die Erwartungshaltung der Ratsuchenden, an die Kompetenz der Beratenden sowie an den Beratungsmoment selbst gekoppelt ist.

So würde sich die Antwort einen Tag später vielleicht anders ‚lesen‘, sie würde anders ‚aussehen‘ – Stichwort: ‚situativer Kontext‘ bzw. die ‚Gunst des Moments‘. Dsher heißt es auch hier, Vorsicht!

Falle:
Auf Verunsicherungen der Ratsuchenden spontan mit Direktivität und Ratschlägen seitens der Beratenden antworten!


2.1.1 Zur Erwartungshaltung

Was aber – und darauf kommt es schlussendlich ja an – wünschen sich Ratsuchende? Welche Bilder von Ihren WunschberaterInnen haben diese im Kopf?

Aus Benke (2014b) lassen sich aus der Sicht der Ratgebenden wie -suchenden folgende Bedürfnisse (im Wortlaut) skizzieren:

Als Online BeraterIn…

Von Digitalen Beratern wünsche ich mir …

… auf mich als Anfragenden bezogen:

… auf die Emotionen bezogen:

Was Ratsuchenden hilft bzw. sie unterstützt ist vermutlich viel weniger ein konkreter ‚Tipp‘ (zumindest zu Beginn der Beratungsbeziehung), als vielmehr die Wahrnehmung ihrer Person bzw. ihrer Bedürfnisse. Gerade in Anbetracht der ‚individuellen‘ Verunsicherungen scheint es umso stärker darum zu gehen, die empathisch-emotionale Ebene im Gegenüber auch auf ebensolche Weise anzusprechen.

Nur vor dem Hintergrund wahrgenommener Sensitivität und Haltung kann sich für die Ratsuchenden so etwas wie Vertrauen entwickeln; und zwar in die Beratungsperson sowie in den Beratungsprozess selbst. Und/aber – und das ist zumindest ebenso wichtig: Genau dieses persönliche Vertrauen (zur Beraterin/zum Berater), das sich aus einer Grund[wert]haltung ableitet, leitet über in ein technisches Vertrauen (zum Medium) und damit zur Anonymität, zum Datenschutz etc., denn auch der virtuelle Raum fordert beiderlei Vertrauen ein, will man ‚professionell‘ und ‚qualitativ hochwertig‘ beraten.

Manchmal allerdings wird der Fokus betreff Qualität und Möglichkeiten von Online-Beratung bzw. digitaler Beratung – und das scheint kurios – zunächst auf die technischen Rahmenbedingungen (Stichwort ‚webbasierte Beratung‘) und erst dann auf die Kompetenz (bzw. wenn überhaupt: die Haltung) der BeraterInnen gelegt. Herunter gebrochen auf die face2face-Beratung würde das also bedeuten, dass man den Blick als Beratungsinstitution zunächst auf die Qualität des Beratungsraumes legt – und zwar noch bevor man einen Blick auf die Qualität der BeraterInnen wirft.

Falle:
Das Schielen auf Medien und Technik kann den Blick auf die Notwendigkeiten spezieller virtueller Beratungskompetenzen (und der Haltung dahinter) verstellen!

Und es ist exakt dieser Gedanke, der uns zum zweiten Beispiel führt, das seinerseits ‚Haltung‘ auf vielen Ebenen impliziert und sichtbar werden lässt: Es ist ein Online-Gesundheitspräventions- oder MitarbeiterInnenfürsorgeprojekt, ein digitales Health-Care-Projekt.


2.2 … nur ein Health-Care-Projekt

Abbildung 8
Abbildung 8: vTB-Health-Care-Projekt (eigene Darstellung)

Bei diesem digitalen vTB-Beratungsprojekt handelt es sich um ein Konzept, das von meiner Kollegin Patricia von Tauffkirchen in Kooperation mit dem Autor konzipiert wurde und den (im Ausland beschäftigten) MitarbeiterInnen transnational und global agierender Organisationen ein Begleit- wie Unterstützungs- und Hilfetools im professionellen und privaten Bereich ist.

Zentrales Anliegen dieses Projekts ist (neben dem Ziel einer Senkung der MitarbeiterInnen-Fluktuation, einer Verringerung der Krankenstandstage und der damit verbundenen Kostenersparnis durch erhöhte Motivationslagen und gesteigerte Leistungsbereitschaft und -fähigkeit) die Wertschätzung der MitarbeiterInnen. Im Fokus soll das Gefühl stehen: Es ist stets jemand für dich da (mit dem du dich austauschen kannst) bzw. ’you are never alone‘ – und zwar unabhängig von der Tageszeit und des Arbeits- bzw. Aufenthaltsorts – eine digitale Anknüpfungsmöglichkeit via Smartphone, Laptop etc. einmal vorausgesetzt.

Hauptmerkmale dieses digitalen Beratungswerkzeuges ist neben der Grundbedingung einer webbasierten Lösung (wie etwa die Plattform bei beranet.de) vor allem der niederschwellige Zugang, will eine pseudonyme wie maßgeschneiderte digitale Beratung erarbeitet werden.3

Doch nun kurz zum strukturellen inhaltlichen Korsett diese virtuellen Supportprojekts, das sich auf zwei Schienen stützt: Zum einen ist es die Schiene ‚Business Coaching‘, zum anderen die des Umgangs mit psychischen Belastungen bzw. Folgeerscheinungen sowie dergleichen mehr:

Business Coaching ermöglicht den Betroffenen, zunächst die neue Herausforderung ‚Ausland[sarbeit]‘ zu bearbeiten und optimieren und unterstützt die Zielgruppe dabei, ihre Führungsaufgaben und Kompetenzen zu klären bzw. fokussieren, sich gezielt auf die Gesprächsführung bei Verhandlungen bzw. diffizilen Gesprächsführungen (Kulturwechsel etc.) vorzubereiten sowie auch interkulturelle Konfliktsituationen im Auge zu behalten (um nötigenfalls auch entsprechend sicher und hilfreich agieren zu können). Dafür stehen BeraterInnen mit einem entsprechenden Hintergrundwissen und eigener Erfahrung als ausgewiesene ExpertInnen zur Verfügung (eine entsprechende Diensteinteilung an bestimmten und bekannt gemachten Zeitfenstern stellt dies sicher).

Psychische Belastungsmomente wiederum erfahren Unterstützung von ausgewiesenen ExpertInnen der Online- bzw. digitalen Beratung, die natürlich auch über jahrelange Erfahrung und Kompetenzen in der Face-to-face-Beratung verfügen.

Der Druck bei AuslandsmitarbeiterInnen im mittleren Management, bei TechnikerInnen und IngenieurInnen ist groß und mindert nachweislich deren Leistungsfähigkeit (Beeinträchtigung der Energie bzw. Kreativität, Abnahme der Belastbarkeit, Burn-out, Depression, Vereinsamung etc.). Sollte also der Druck zu groß werden, so sollen die betroffenen MitarbeiterInnen weder in die Suchtfalle noch in den Präsentismus, weder in die Krankschreibung noch in den Jobwechsel kippen. Ganz nach dem Prinzip ‚semper et ubique‘ können die Erstanfragen der MitarbeiterInnen direkt und sofort von ExpertInnen beantwortet werden. Dies stellt auch hier ein abgestimmter Dienstplan mit Zeitfenstern sicher (wobei unter gewissen Rahmenbedingungen auch eine Anbindung an organisationseigene Human-Ressources-Abteilungen denkbar ist).

Wo aber zeigt sich in diesem digitalen Beratungsprojekt, also in der Praxis – und das ist der springende Punkt – nun die vielzitierte ‚Haltung‘ für die Beteiligten?

Abbildung 9
Abbildung 9: Haltung im digitalen Health-Care-Projekt (eigene Darstellung)

Ganz grundsätzlich zeigt ja bereits die Organisation, die sich für ein solches MitarbeiterInnen-Vorsorgeprojekt entscheidet, ganz klar Haltung: Sie zeigt, dass ihr ihre MitarbeiterInnen einiges wert sind und dass man gewillt ist, sich jenseits realer Unterstützungsformen wie Coaching etc. (die ja stets an Orte und Zeiten gebunden sind) einen ‚wenig begrenzteren‘ Support aus der virtuellen Welt zu holen, solange dieser Schritt entsprechend und eindeutig ‚abgesichert‘ ist.

Haltung zeigt sich – als zentralster Punkt und das scheint nur folgerichtig – zunächst am deutlichsten in der Schnittstelle der beiden Seiten Organisation und Projektbegleiter, dem ‚Medium‘ alias ‚Austausch bzw. Beratungsplattform‘. Zum einen muss eine Rückverfolgbarkeit auf den Absender ausgeschlossen werden, zum anderen muss ein sensibler Umgang mit den darin kommunizierten Inhalten sicher gestellt sein.

Haltung zeigt sich – last, but not least – aber auch in der Bereitschaft zum Einsatz beträchtlicher finanzieller Mittel, zumal die professionelle digitale Beratungsschiene wie auch die Business-Coaching-Schiene nahezu rund um die Uhr zur Verfügung stehen.

Schlussendlich möchte ich über die diesem ‚Projekt immanente Haltung‘ und die Rahmenbedingungen, die notwendig sind, damit ein solches Projekt erfolgreich sein und hilfreich wirken kann, wieder zurück kommen zu den Erwartungen an die BeraterInnen, die dieses Projekt tragen werden (und damit auch den Kreis schließen): Wie sollte das ‚digitale Ich‘ der BeraterInnen aussehen?

Beratende sind aus der Sicht der Ratsuchenden:

Was also gilt es für die BeraterInnen – an diesem Beispiel und bei anderen Projekten – quasi ‚haltungstechnisch‘ zu berücksichtigen? Welche Haltungsanforderungen sind für eine hilfreiche Gestaltung bei diesem und anderen digitalen Beratungsprojekten einzulösen?

Es wird seitens der zu Beratenden begrüßt,