soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 17 (2017) / Rubrik "Werkstatt" / Standort Eisenstadt
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/495/933.pdf


Claudia Thell, Lena Sinowatz & Manuela Brandstetter:

Workshop „Professionalität und Transdisziplinarität in der Sozialen Arbeit“

BUTA 2016 in Rust


1. Einleitung

Dieser Beitrag thematisiert die fachtypische Debatte rund um „Professionalität und Transdisziplinarität“, wie sie auch in der Bachelorarbeit (BA) einer der drei AutorInnen, sowie in einem Workshop im Rahmen der Bundestagung für SozialarbeiterInnen 2016 behandelt wurde. Ziel der Auseinandersetzung ist es, diese – basierend auf einer beschriebenen Dilemma-Situation und einem innovativen Verständnis von „Professionalität“ in Gestalt von „reflexiver Professionalität“ – in konkrete Handlungsempfehlungen für PraktikerInnen der Sozialen Arbeit zu überführen.

Anhand einer Fallvignette, die Claudia Thell im Zuge ihrer BA 1 empirisch untersucht hat, werden wir ein praktisches, derzeit immer noch landläufig gültiges Verständnis von professionellem bzw. unprofessionellem Handeln ausarbeiten. Alsdann werden wir uns mit der etablierten Definition von Professionalität anhand der Medizin als Idealtypus beschäftigen. Im Konzept einer „reflexiven Professionalisierung“ nach Stefan Köngeter (2010) sowie im Begriff von „Transdisziplinarität“ (Bergmann/Jahn/Knobloch 2010) versuchen wir ein Reset dessen, was Soziale Arbeit nunmehr zu leisten imstande wäre. Wir stellen Überlegungen an, wie die beobachteten Fehler aus der Fallvignette, unter Bezugnahme auf diese beiden jüngeren Konzepte, vermieden hätten werden können.


2. Fallvignette aus einer sozialpädagogischen Kriseneinrichtung

Nr. Name Alter Rolle Institution / Haushalt Kontakt
1 Peter Hauser 13 Klient Krisenzentrum +
2 Sonja Hauser 38 Mutter Haushalt 1 +
3 Renate Schrammel 49 Sozialarbeiterin KJH +
4 Gabriele Silberbauer 25 Sozialpädagogin Krisenzentrum +
5 Karin Lang 28 Klinische Psychologin Krisenzentrum +

Tabelle 1: Personalliste Fall Peter Hauser, angelegt am 10.12.2015 von sozialpädagogischer Fachkraft Cornelia Straub


Aufgrund seiner als „beharrlich“ definierten Schulverweigerung und der von der Kinder- und Jugendhilfe zugeschriebenen „Erziehungsüberforderung“ seiner Mutter wurde der dreizehnjährige Peter Hauser im Krisenzentrum XY durch die Kinder- und Jugendhilfe fremduntergebracht. Bei der Aufnahme in das Krisenzentrum wurde ihm mitgeteilt, dass die Dauer seiner Unterbringung ca. sechs Wochen betragen werde. Aufgrund dieser Information nahm Peter an, dass er zu Beginn der Weihnachtsferien wieder nach Hause kommt. Während der Abklärung wurde aber von der Fallführenden unter Bezugnahme auf psychologische Gutachten entschieden, dass er nach dem Aufenthalt im Krisenzentrum in weiterer Folge in einer WG der Kinder- und Jugendhilfe untergebracht wird. Bei einem Zwischengespräch wurde Peter dann über diese Entscheidung in Kenntnis gesetzt. Nachdem alle Personen das Besprechungszimmer verlassen hatten, blieb Peter dort alleine zurück.

Die Kindesmutter und die mit ihr sprechende fallführende Sozialarbeiterin nahmen keine Notiz vom Minderjährigen. Mit der Mitteilung an Peter über die weitere Vorgangsweise in seinem Fall schien die Angelegenheit für alle Beteiligten erledigt zu sein. Jeder ging zur Tagesordnung über.

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, wie das so beschriebene Verhalten der genannten fallführenden Praktikerin einzuschätzen ist.


3. Analyse der Fallvignette

Im Rahmen eines Workshops auf der Bundestagung 2016 war das Beispiel vorgestellt worden und die TeilnehmerInnen argumentierten, mit der Fallskizze konfrontiert, dass es um eine eindeutig unprofessionelle Handhabe der PraktikerInnen hierbei gehen müsse. Anders könne man sich das Zustandekommen eines solchen Vorgehens nicht erklären.

Dieser Deutung gilt es vor dem Hintergrund eines aktuellen Professionalitätsverständnisses auf den Grund zu gehen und herauszuarbeiten, um welches berufliche Selbstverständnis es hierbei gehen kann. Tatsächlich ist es ja so, dass vor dem Hintergrund des tradierten, über Jahrzehnte etablierten Bildes von Professionalität (eben einem „nicht-reflexiven Professionalitätsverständnisses“, wie an späterer Stelle noch erläutert werden wird) das Handeln dieser Fachkräfte (weder das der Psychologin, noch das der Fallführenden, noch das der Sozialpädagogin) keinesfalls als unprofessionell zu bezeichnen wäre. So hat Andrew Abbott (2000), interaktionistischer Professionsforscher, in einer Reihe aufsehenerregender Arbeiten aus den 1990er-Jahren nachgewiesen, dass bestimmte Wissensformen und Problemlösungsstrategien nämlich genau dann als „professionell“ bezeichnet werden, alsdann es denselben erfolgreich und in geteilter Weise gelungen ist, ihren jeweils spezifischen Wissensbestand als vorrangig gegenüber anderen durchzusetzen. Eine Profession (angebunden an eine akademische Disziplin) agiert – so hat dies Abbott (2000) in seinen Professionalisierungsstudien nachgewiesen – also dann als professionell, sobald (u. a.) folgende Kriterien erfüllt sind:

  1. Sie nimmt gegenüber anderen (heilkundigen) Berufen eine hegemoniale Stellung ein.
  2. Sie kann solcherart ihre Kontrollchancen und Privilegien durchsetzen.
  3. Sie erhebt Anspruch auf einen konkret begrenzbaren „jurisdictional claim“.
  4. Sie nimmt aktiv teil am so genannten „professional war“.
  5. Es gelingt ihr, die eigenen Wissensbestände alltagstheoretisch im breiten Mainstream zu verankern.

So weisen auch Freidson (1989) und Forster (1994) darauf hin, dass im Fall des vielbeforschten Idealtypus der durchprofessionalisierten „ÄrztInnenschaft“ deren Professionalisierungsprozess nicht etwa dadurch initiiert worden ist, dass sie zum Zeitpunkt der Durchsetzung ihrer Wissensbestände (also als sie sich gesetzlich verbrieften Berufsschutz und flächendeckende Betrauung mit öffentlichen Aufgaben der Gesundheitsverwaltung erwirtschaftete) bereits exaktes Wissen über die großen Massenepidemien und Infektionskrankheiten gehabt hätte. Vielmehr ist es so, dass die frühe Professionalisierung der Medizin einem frühen Naheverhältnis zur staatlichen Verwaltung sowie der Konvergenz der politisch-administrativen mit medizinischen Zielen geschuldet war und keineswegs den erwirtschafteten großen wissenschaftlichen Errungenschaften selbst.

Abbott (2000) streicht auch medizinsoziologisch belegt hervor, dass der Anschein einer gesteigerten Problemlösungskompetenz sowie die gesellschaftliche Akzeptanz der Verabsolutierung bestimmter Wissensbestände in der Regel ausreiche, um aus einem Beruf eine akademisch fundierte Profession zu machen. Das lässt den einfachen Schluss Abbotts nochmals banaler zusammenfassen: Professionen müssen sich demgemäß als solche inszenieren können; ungeachtet des inhaltlichen Substrats ihrer Leistungen und Kenntnisse. Sobald sie in der Lage sind, andere Berufe/Professionen zu dominieren und das unter dem Siegel gesellschaftlicher Akzeptanz tun, so ist von einer „Profession“ im professionstheoretischen Sinn die Rede. Sind Berufe hingegen dazu nicht imstande, weil sie sich etwa in den öffentlichen Arenen, in Ausübung ihrer Expertise zu defensiv inszenieren, spricht man von einer Semi-Profession.

Für das eingangs erörterte Fallbeispiel hieße das nun, dass sowohl Psychologin, als auch Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin im engeren Sinne durchaus professionell gehandelt haben müssen. Im Sinne ihres Auftrags zur Befundung haben sie eine weitere Fremdunterbringung des Kindes empfohlen bzw. darüber entschieden und haben die Kindesmutter sowie den Betroffenen darüber informiert. Diese Entscheidung, mit der sie andere etwaig konkurrierende Auffassungen dominieren konnten (etwa jene, wonach sich das Kind in der Zwischenzeit gut entwickelt hätte), offenbarte sich vor dem o. g. Begriffsverständnis von „Professionalität“ durchaus als stichhaltig.


3.1 Reflexives Professionsverständnis

Jüngere Professionalisierungsforschungen hingegen zäumen ein komplett anderes Verständnis eines Professionalitätsbegriffs auf. Sie gehen davon aus, dass – so sehr die Geschichte der Verberuflichung auf o. g. von Abbott (2000) treffsicher zusammengefassten Parametern beruhte – so wenig könne dies auf die aktuell bedeutsamen oder an Bedeutung gewinnenden (Semi-)Professionen übertragen werden. Gerade die jüngeren Forschungen weisen darauf hin, dass man zunehmend und ungeachtet dessen, was die „old-established professions“ in ihrer Dominanz gegenüber kollegialen MitstreiterInnen und in der Bevormundung ihrer Klientel (vgl. Köngeter 2010: 78ff) inszenierten, in den vergangenen drei Dekaden dazu übergegangen sei, ein reflexives Professionalitätsverständnis einzumahnen sowie umzusetzen. Blickt man, wie Stefan Köngeter in seinen jüngeren Forschungen aus der deutschen Kinder- und Jugendhilfe, in die Praxis gleichermaßen wie in die etablierten Fachdiskurse an den Ausbildungsstätten und Hochschulen, kommt man zum Schluss, dass sich zunehmend eine alternative Vorstellung von Professionalität etabliert hat, die nichts mehr mit diesem hegemonial verstandenen und praktizierten Professionskonzept zu tun hat. Dieses als „reflexiv“ bezeichnete, aktuelle Verständnis von Verberuflichung lebt nun davon, dass man eine dialogische Qualität des Verhältnisses zwischen dem Professionellen und der Klientel einzieht. Man könne zudem eine Zunahme an differenzierten Strategien der Interaktion feststellen sowie, dass es mehr denn je um die Arbeit an der Aufhebung der virulenten Asymmetrie in der Interaktion zwischen Professionellen und ihrer Klientel (vgl. Dewe/Otto 2002: 115) gehe. In ungeahntem Ausmaß rede man – so dieser sozialpädagogische Debattenstrang kritisch – neuerdings von einem komplexen Verständnis der eigenen ExpertInnenschaft. Anwachsend, ja unüberhörbar existiere eine Neigung zum Schulterschluss und zur transdisziplinären Verschränkung der Wissensbestände vieler heilkundiger Berufe, die durchaus auch ähnliche Statusinkonsistenzen und fragile Selbstverständnisse wie die Soziale Arbeit in ihrer Geschichte selbst ausweisen.


4. Fazit

Insofern wäre die Lösung dieses eingangs beschriebenen Falls keineswegs unbedingt in einer besseren Kommunikation zwischen den involvierten Professionen interrelational gelegen. Genauso wenig wäre das Dilemma nur durch partizipative Verfahren der AdressatInnenbeteiligung an der Entscheidungsfindung zu beheben gewesen. Vielmehr hätte das, was wir in jüngeren Forschungen als Transdisziplinarität begreifen, hier ein anderes Setting, eine alternative Form der Argumentation erforderlich gemacht. Erst auf diese Weise (eben im Sinne eines reflexiven Professionalitäts- und eines transdisziplinären Wissenschaftsverständnisses) wäre es gar nicht zu so einem solchen, für den Adressaten bzw. seine Mutter ohnmächtigen und übervorteilenden, Zustand gekommen.

Transdisziplinarität entsteht nämlich nur dann bzw. in solchen Settings, wenn oder wo die beteiligten Fachpersonen in offenem (transparentem) Dialog interagieren und dabei ihre jeweiligen Fachgrenzen auch unmittelbar zu überschreiten wagen (vgl. genauer dazu Bergmann/Jahn/Knobloch 2010: 35). Die unterschiedlichen Perspektiven auf Wirklichkeit gegeneinander zu relativieren und Kritik zu äußern und gegen Denksperren anzureden, wäre das, was man unter einer transdisziplinären Arbeitssituation verstehen könnte. Aufgrund der Komplexitätsausmaße im Alltag sowie infolge einer sich häufig gravierend unterscheidenden fachspezifischen Sprache, sind solche Situationen voraussetzungsreich. Darüber hinaus ist echte Transdisziplinarität gekoppelt an die Fähigkeit von Personen, moderierend in Mediation, Assoziation und Vermittlung einen kritischen Dialog zu initiieren und zu fördern.

Im gegenständlichen Fall hätte es einer einfachen und offen konfrontierenden Entgegnung der psychologischen Expertise bedurft. Es hätte beherzte SozialarbeiterInnen gebraucht, die diesen Befund aufgrund seines old-fashioned Styles, seiner Nicht-Berücksichtigung der sozialpädagogischen Diagnostik und seiner Grundsätze von Dialogik und Augenhöhe systematisch auch durchaus coram publico angezweifelt hätten. Es hätte eines offenen, durchaus auch konflikthaft zugespitzten Diskurses bedurft, der die AdressatInnen beteiligt und ihnen Chancen zur Mitgestaltung einräumt.

Eine solche Entwicklung versteht einen transdisziplinären Ansatz als notwendige Antwort auf die mehrdimensionale Beschaffenheit sozialer Problemlagen und den daraus resultierenden konkreten Handlungsfeldern. Neben der adäquaten Beteiligung von AdressatInnen, sowie der Notwendigkeit, sie in ihren eigenen Perspektiven wahr- und ernst zu nehmen, stellt konfliktuös verstandene Transdisziplinarität damit einen weiteren Beitrag zur Akzentuierung der eigenen fachlichen Identität dar.


Literatur

Abbott, A. (2000): Chaos of disciplines. Chicago: University of Chicago Press.

Bergmann, M. / Jahn, T. / Knobloch, T. (2010): Methoden transdisziplinärer Forschung – Ein Überblick mit Anwendungsbeispielen. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Dewe, B. / Otto, H.-U. (2002): Reflexive Sozialpädagogik. Grundstrukturen eines neuen Typus dienstleistungsorientierten Professionshandelns. In: Thole, W. (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch. Opladen: Leske + Budrich, S. 179-199.

Freidson, E. (1989): Theory and the Professions. Indiana Law Journal. Vol. 64. Iss. 3, Article 1.

Forster, R. (1994): Medikalisierung und Verrechtlichung – zwei Tendenzen in der Modernisierung der Psychiatrie. Habilitationsschrift, Institut für Soziologie, Universität Wien.

Köngeter, S. (2010): Sozialpädagogische Professionsforschung. In: Brandstetter, M. / Vyslouzil, M. (Hg.): Von der Fürsorgeschule zum Lehrstuhl Soziale Arbeit. Wien: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 78-103.


Über die Autorinnen

Claudia Thell
claudia_thell@hotmail.com

Studentin der Sozialen Arbeit an der FH Burgenland

Lena Sinowatz
lena@sinowatz.com

Studentin der Sozialen Arbeit an der FH Burgenland;

FH-Prof.in Mag.a Dr.in Manuela Brandstetter DSAin
Manuela.Brandstetter@fh-burgenland.at

Sozialarbeiterin, Soziologin, Hochschullehrerin an der FH Burgenland