soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 17 (2017) / Rubrik "Thema" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/497/907.pdf
Elli Scambor:
1. Einleitung
Stift Kremsmünster, Kloster Ettal oder Odenwaldschule – Studien (vgl. z. B. Keupp et al. 2015, Keupp et al. 2013) und Berichte von Betroffenen (vgl. Dehmers 2011) in den letzten Jahren haben gezeigt, dass die gesellschaftliche Thematisierung von sexualisierter Gewalt mit Dynamiken der Verdeckung und Aufdeckung verknüpft ist. Sexualisierte Gewalt ist nur im Verborgenen möglich, aber Intervention und Prävention benötigen eine Aufdeckung von sexualisierter Gewalt. Dieser kommt eine zentrale Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Gewalt zu stoppen, die daraus entstandenen Folgen (Bewältigungsstrategien) bearbeiten und Heilungsprozesse von Betroffenen unterstützen (vgl. Palo/Gilbert 2015) zu können. Gleichzeitig kann die Offenlegung der sexualisierten Gewaltwiderfahrnisse zu einer Verschlechterung der Situation beitragen, etwa wenn damit eine Verschärfung der Gewalt einhergeht, der Verlust sozialer Beziehungen oder eine psychische Destabilisierung der Betroffenen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach den Bedingungen für gelingende Aufdeckungsprozesse von hoher Bedeutung und in der Vergangenheit vielfach erforscht worden, wobei Fragen nach Aufdeckungsdynamiken bzw. nach Möglichkeiten der professionellen Hilfe im Fokus der Aufmerksamkeit standen. Dabei wurde deutlich, dass Betroffenen auf Basis gängiger Geschlechterkonstruktionen unterschiedliche Ressourcen in Aufdeckungsprozessen zur Verfügung stehen und dass sie mit unterschiedlichen Reaktionen rechnen müssen. Die Situation männlicher Betroffener von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend ist dabei in besonderer Weise interessant, weil traditionelle Männlichkeitsbilder eine besondere Hürde bei der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt darstellen.
2. Die Studie
Deshalb hat sich das in den Jahren 2013-2016 durchgeführte Forschungs- und Praxisprojekt Aufdeckung und Prävention von sexualisierter Gewalt gegen männliche Kinder und Jugendliche (AuP)1 mit der Frage beschäftigt, was männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend dabei hilft, die ihnen widerfahrene sexualisierte Gewalt aufzudecken. Dazu wurden u. a. Literaturrecherchen und qualitativen Interviews mit männlichen Betroffenen, mit von diesen als hilfreich genannten Beteiligten (z. B. Partner_innen) sowie mit professionell an Aufdeckungsprozessen Beteiligten (z. B. Berater_innen) und Forscher_innen durchgeführt.
Auf dieser Datenbasis wurden Aufdeckungsverläufe und hilfreiche Faktoren in Aufdeckungsprozessen bei männlichen Betroffenen auf mehreren Ebenen rekonstruiert. In diesem Artikel werden die Studienergebnisse vorgestellt, wobei zunächst auf sexualisierte Gewalt im Kontext von Männlichkeitsanforderungen eingegangen wird. Danach werden relevante Aspekte von Aufdeckungsprozessen in ihrer Vielschichtigkeit und Prozesshaftigkeit diskutiert, bevor auf unterschiedliche Aufdeckungsversverläufe und hilfreiche Faktoren in Aufdeckungsprozessen eingegangen wird. Diese werden abschließende im Kontext der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen diskutiert.
3. Begriffsklärung: ‚Sexualisierter Gewalt‘ im Rahmen der AuP-Studie
Sexualisierende Spitznamen, sich ausziehen oder über intime Dinge reden zu müssen, sexualisiert Fotografiert-Werden, an intimen Körperbereichen berührt zu werden, sexuelle Handlungen (z. B. Oral- und Analverkehr) vollziehen zu müssen oder Geschlechtsteilen anderer ansehen zu müssen – sexualisierte Gewalt umfasst eine große Bandbreite von Widerfahrnissen. Unter sexualisierter Gewalt wurden in der AuP-Studie sexuelle Handlungen verstanden, die gegen den Willen einer Person vorgenommen werden bzw. denen eine Person nicht zustimmen kann – aufgrund von körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit oder aufgrund von Widerstandsunfähigkeit (z. B. im Schlaf oder unter Betäubung).
Der Begriff sexualisierte Gewalt stellt die Perspektive der Betroffenen ins Zentrum und umfasst unterschiedliche Handlungen. Enders und Kossatz haben zur Differenzierung von sexualisierten Gewalthandlungen die Begriffe Missbrauch, Übergriff und Grenzüberschreitung vorgeschlagen (vgl. Enders/Kossatz 2012: 30ff). Sexueller Missbrauch bezeichnet eine strafrechtlich relevante Handlung, wobei eine „Erheblichkeit“ vorliegen muss (v. a. Handlungen mit Körperkontakt oder das Zeigen von Pornografie sowie Exhibitionismus). Bei Sexuellen Übergriffen (nicht vom Strafgesetzbuch erfasst) werden Verletzungen der Grenzen von Betroffenen angestrebt oder in Kauf genommen, während Sexuelle Grenzverletzungen aus persönlicher Unzulänglichkeit oder unbeabsichtigt geschehen (besonderes bei Kindern relevant).
Der Begriff Gewalt betont den Verletzungscharakter der Handlung sowie die damit einhergehende Ohnmachtserfahrung. Die Hierarchisierung von Beziehungen steht im Vordergrund. Deshalb scheint es wenig verwunderlich, dass von sexualisierter Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche häufig in ihren Möglichkeiten des Widerstands eingeschränkt oder für Manipulationen von Täter_innen in besonderem Maße empfänglich sind (vgl. Bange 2007: 58f). Einschränkungen betreffen die Möglichkeiten der Einschätzung und Artikulation, die Ermangelung der sozialen Unterstützung oder starke (emotionale) Abhängigkeiten von anderen. Diese werden von Täter_innen oft verstärkt, indem sie das soziale Umfeld manipulieren, die Möglichkeiten des Widerstands verhindern, den Betroffenen eine Mitverantwortung zuschreiben und Drohungen für den Fall einer Offenlegung aussprechen. Sexualisierte Gewalt beruht also auf einer Machthierarchie und verstärkt diese.
Zugleich beruht sexualisierte Gewalt darauf, Schädigungen für Betroffene anzustreben, in Kauf zu nehmen oder nicht in Betracht zu ziehen. Dies knüpft an die Definition personaler Gewalt durch Jungnitz et al. (2007) als
„(…) jede Handlung eines anderen Menschen, die mir Verletzungen zufügt und von der ich annehme, dass sie mich verletzen sollte oder zumindest Verletzungen billigend in Kauf genommen wurden“ (ebd.: 18).
Dabei geht die Bemächtigung der Täter_innen mit der Entmächtigung der Betroffenen einher – Gewalterfahrungen sind Ohnmachtserfahrungen.
Wieso sexualisiert und nicht sexuell? Der Verwendung des Adjektivs sexualisiert lag die Überlegung zugrunde, die Handlung als Gewaltgeschehen fassen zu können, denn es handelt sich nicht um die selbstgewählte Sexualität der Betroffenen: „for the victim the experience is sexual, but it is not sex itself“, schrieb Cahill (2001: 140) mit Blick auf Vergewaltigung. Denn während der Begriff sexuelle Gewalt ein Verständnis des Geschehens als sexuelle Handlung nahelegt – was die Täter_innenperspektive abbildet und die Perspektive Betroffener negiert – wurde mit der Formulierung sexualisierte Gewalt in der AuP-Studie der entmächtigende Eingriff in die Sexualität von Kindern und Jugendlichen betont.
4. Sexualisierte Gewalt im Kontext von Männlichkeitsanforderungen
Einer Meta-Analyse von Prävalenzstudien zu männlichen Betroffenen zufolge berichteten durchschnittlich 5,6% aller Befragten von sexualisierter Gewaltbetroffenheit in Kindheit und/oder Jugend (vgl. Stoltenborgh et al. 2011). Bei einem männlichen Bevölkerungsanteil von etwas mehr als 4 Millionen in Österreich (vgl. Statistik Austria 2016) wären das ca. 234.000 erwachsene Männer, die in Studien angeben, sexualisierte Gewalt erlebt zu haben. Hierbei handelt es sich um einen Schätzwert, denn ein Blick in Prävalenzstudien zeigt unterschiedliche Definitionen von sexualisierter Gewalt und entsprechend vielfältige methodologische Herangehensweisen (vgl. Bange 2011). Zudem gehen von den Möglichkeiten der Erinnerung, Einordnung und Offenlegung Effekte aus, die sich in Prävalenzstudien zeigen. Mosser (2009) hält auf Basis einer Literaturrecherche zu Aufdeckungsraten bei männlichen Betroffenen fest, dass
„die Hälfte bis zwei Drittel der Fälle von sexuellem Missbrauche entweder erst im Erwachsenenalter oder überhaupt nicht aufgedeckt wird“ (Mosser 2009: 31).
Aktuelle Studien orten Gründe für Nicht-Aufdeckungen bei Betroffenen vor allem in fehlendem Wissen und Unrechtsbewusstsein aber auch in Ängsten vor den Konsequenzen einer Offenlegung (vgl. Kavemann et al. 2016: 71ff). Dies wiederum stehen in Zusammenhang mit Charakteristika der Gewaltwiderfahrnisse (z. B. Beziehung zu Täter_innen, Manipulationen und Einschüchterungsstrategien), mit Möglichkeiten unterstützender Beziehungen und Erfahrungen in früheren Beziehungen, mit milieuspezifischen sozialen Mustern und gesellschaftlichen Diskurse über Sexualität und sexualisierte Gewalt oder mit der Verfügbarkeit professioneller Hilfen (Literaturübersicht u. a. in Rieske et al. i. Vorb).
Auch Geschlechterkonstruktionen – insbesondere Männlichkeitsanforderungen – sind als Begründung niedrigerer Offenlegungsraten von männlichen Betroffenen heranzuziehen. Priebe und Svedin (2008: 1098ff), die sich in einer Studie mit Aufdeckungsraten und -mustern beschäftigten, kamen zu dem Ergebnis, dass Offenlegungen bei Jungen signifikant seltener passieren als bei Mädchen. Zudem wurde deutlich, dass insbesondere Jungen, die eine Berufsausbildung absolvierten, die Gewaltwiderfahrnisse eher nicht offenlegten, was die Autor_innen mit dem Hinweise auf den „male school context“ (ebd.: 1105) kommentierten.
Sowohl Priebe und Svedin als auch andere Autor_innen (siehe Zitat unten) kamen zu dem Schluss, dass männliche Betroffene vor besonderen Schwierigkeiten in Aufdeckungsprozessen stehen:
„Boys who have been sexually abused by men do often report confusion over their sexual identity, fear of being regarded as homosexual by others and concern for being a potential offender or being regarded by others as a potential offender (Durham, 2003; Teram, Stalker, Hovey, Schachter, & Lasiuk, 2006; Watkins & Bentovim, 1992). Men who had been abused by a woman have reported that they felt that in meeting with health professionals, some of these might have expectations like ‚this should be every man’s dream‘ (Teram et al., 2006)“ (Priebe/Svedin 2008: 1105).
Aufdeckungsprozesse bei männlichen Betroffenen sind in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der internationalen Forschung gerückt. Übereinstimmend kamen dabei viele Forscher_innen zu dem Ergebnis, dass die Betroffenheit von Jungen in gesellschaftlichen Diskursen kaum wahrgenommen wird. Vielmehr zeigt sich ein heteronormatives Bild sexualisierter Gewalt, das Täterschaft ‚männlich‘ und Betroffenheit ‚weiblich‘ konstruiert. Wenn Jungen als Betroffene nicht benannt werden, kommen sie in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vor (Ausnahmen bilden Diskussionen um ‚sexuellen Missbrauch‘ in Institutionen, s. o.). Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sexualisierte Gewalt auch für Jungen „das Gebiet [ist], worüber Jungen am wenigsten Informationen haben, worüber man(n) sich nicht austauscht“ (Mörchen 2014: 187). Dies korrespondiert mit hegemonialen Bildern von Männlichkeit (vgl. Connell 2000: 97ff) als souverän und machtvoll, sicher und heterosexuell. Die Betroffenheit von sexualisierter Gewalt – und die damit einhergehende Entmächtigung von Jungen – widerspricht dieser Norm und wird deshalb marginalisiert (vgl. Lenz 2014: 15ff, Rieske 2016: 75ff, Sorsoli et al. 2008: 333ff). Dies gilt für sexualisierter Gewaltkonstellationen mit männlichen Tätern, wohingegen Konstellationen mit weiblicher Täterinnenschaft die heteronormative Matrix im Sinne der hegemonialen Männlichkeit zu bestätigen scheinen (s. o. das Zitat von Priebe und Svedin (2008: 1105): „every man’s dream“).
Zudem wirken Männlichkeitsanforderungen, die auf Macht, Sicherheit und Souveränität ausgerichtet sind, hemmend in Aufdeckungsprozessen, da sie unvermeidbare Emotionen (Angst, Unsicherheit) einschränken. Ängste vor zugeschriebener ‚Unmännlichkeit‘ und potenzieller Täterschaft bzw. vor zugeschriebener und abgewerteter Homosexualität stehen Offenlegungen im Wege (vgl. Mosser 2009: 79ff). Die AuP-Studie zeigte, dass diese Ängste begründet sind. Betroffene machten die Erfahrung, dass ihnen im sozialen (auch professionellen) Umfeld potenzielle Täterschaft zugeschrieben und dass ihre Betroffenheit tabuisiert wurde. Auf diese Weise werden geschlechtertypische Konstruktionen von Gewalt reproduziert, die von Jungnitz et al. (2007) in der Studie Gewalt gegen Männer beschrieben wurden: Gewalt gegen Jungen und Männer wird in ein heteronormatives Raster einsortiert und dadurch normalisiert, oder sie wird verschwiegen, da sie Männlichkeitsnormen verletzt und deshalb schambesetzt ist. Angesichts der daraus resultierenden Ambivalenzen und antizipierten sozialen Reaktionen kann das Schweigen die vorerst bessere Alternative darstellen.
Die Frage danach, was Aufdeckung bei männlichen Betroffene verhindert, wurde inzwischen mehrfach erforscht (vgl. Priebe/Svedin 2008: 1105f, Bange 2007: 94ff), die Frage danach, was Aufdeckung befördert und unter welchen Bedingungen diese gelingen kann, ist noch nicht ausreichend beantwortet worden. Aufdeckung kann zur Beendigung der Gewalt beitragen und Heilungsprozesse unterstützen, sie kann aber auch die Situation Betroffener verschlechtern (z. B. durch Verlust sozialer Beziehungen oder psychische Beeinträchtigung). Aufgrund dieser Risiken gilt es, möglichst günstige Bedingungen für Aufdeckungsprozesse zu schaffen und zugleich Bewältigungsstrategien von Betroffenen anzuerkennen, die lieber Schweigen und Vergessen wollen.
5. Aufdeckung als Prozess
„Einerseits suggeriert er [der Begriff Aufdeckung, Anm. d. Verf.] einen radikalen Übergang, durch den etwas (meist eine Variante von Wahrheit) ans Licht kommt, was bisher verborgen war, andererseits beschreibt die Aufdeckung einen Prozess, der angesichts dessen, was er schließlich zutage bringen wird, in den Hintergrund gerät. Der Begriff der Aufdeckung beschreibt also sowohl eine Abfolge von Handlungen als auch deren Ergebnis, wobei letzteres, kaum dass es in Erscheinung tritt, alles, was ihm vorangegangen ist, in sich aufzusaugen scheint.“ (Mosser 2009: 27)
Diese von Mosser skizzierte Unbestimmtheit des Aufdeckungsbegriffs ist in der AuP-Studie deutlich geworden, gleichzeitig hat sich die Nicht-Linearität von Aufdeckungsprozessen sowie deren systemischer Charakter gezeigt (vgl. Rieske et al. i. Druck, Scambor et al. i. Druck). Während Aufdeckung im Alltag häufig auf das Sprechen über Gewaltwiderfahrnisse reduziert wird, zeigt die AuP-Studie, dass Aspekte des Erinnerns, Einordnens und Offenlegens für den Aufdeckungsprozess von zentraler Bedeutung sind. Für das Sichtbar-Werden des Verborgenen wird in der Literatur vorwiegend der Begriff Offenlegung verwendet – meist positiv als etwas Erwünschtes konnotiert. Dazu sei kritisch angemerkt, dass Offenlegungen durch Dritte, also ohne Zustimmung Betroffener, ebenfalls im Begriff der Offenlegung inkludiert sind; darüber hinaus gewährt die AuP-Studie auch Einblick in jene Reaktionen auf Offenlegungen, die jahr[zehnt]elanges Schweigen der Betroffenen zur Folge hatten.
Aufdeckung steht vielfältigen Formen der Verdeckung (z. B. Verdrängen, Normalisieren, Verschweigen, Tabuisieren oder Leugnen) gegenüber und ist in vielen Fällen auf das Ende sowie auf die individuelle und gesellschaftliche Anerkennung der Gewalt ausgerichtet. Dies sind relevante Bedingungen für die Bearbeitung jener Problemlagen, die sich infolge der Betroffenheit von sexualisierter Gewalt ergeben (können). Das Erinnern und Einordnen des Gewaltgeschehens steht häufig am Beginn dieses Prozesses. Es kann aber auch anders sein: Offenlegungen durch andere Betroffenen können Erinnerungen auslösen oder Einordnungen der Gewaltwiderfahrnisse ermöglichen. Erinnerung, Einordnung, Offenlegung, Hilfesuche und Anerkennung – diese zentralen Aspekte von Aufdeckungsprozessen können in unterschiedlicher Reihenfolgen aktualisiert werden und sich gegenseitig beeinflussen:
Erinnerung an sexualisierte Gewalt bedeutet i. d. R. Konfrontation mit Gefühlen wie Angst, Bedrohung, Scham etc.; es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Widerfahrnisse zuweilen der bewussten Wahrnehmung nicht zugänglich sind (z. B. Verdrängen, Beiseite-Stellen) – diese mehr oder weniger langen ‚Atempause‘ helfen den Betroffenen, Kontrolle über das eigene Erleben zu erlangen und aus der Belastung herauszukommen (vgl. Kavemann et al. 2016: 54f). Das Wiedererinnern nimmt häufig nach langen Phasen des Nicht-Erinnerns überfallsartigen Charakter an, gekennzeichnet durch Eindrücke, die auf die Betroffenen hereinbrechen, ausgelöst durch Gerüche, Bilder, Geräusche oder Berührungen, die intensive Gefühle nach sich ziehen. Recherchen (z. B. Beteiligte fragen) und zusätzliches Wissen können in diesen Situationen dazu beitragen, dass die Betroffenen die Kontrolle über die eigene Geschichte gewinnen.
Einordnen: Sowohl die Strategien von Täter_innen als auch mangelndes Wissen (z. B. zu Sexualität, Unrecht, Kinderrechte) tragen dazu bei, dass die sexualisierte Gewalt häufig nicht als solche erkannt wird. Manchmal sind es Medienberichte, in andere Fällen Ausbildungen, die dazu beitragen, dass die Betroffenen zumeist im (jungen) Erwachsenenalter in der Lage sind, ihre Gewalterfahrungen einzuordnen. Auf Basis neuer Deutungsmöglichkeiten ist es ihnen möglich, die vergangenen Ereignisse im Lichte neuer Erkenntnisse wahrzunehmen und den funktionalen Bewältigungscharakter eigener (evtl. problematischer) Handlungen zu erkennen. Dieser Aspekt der kognitiven und moralischen Einordnung der Widerfahrnisse ist unerlässlich im Aufdeckungsprozess.
Offenlegung – eine weitere Dimension der Aufdeckung – kann verbale oder non-verbale Formen annehmen. Die Betroffenen skizzierten in den Interviews der AuP-Studie ein vielfältiges Spektrum an Offenlegungen: einige Betroffene berichteten von verbalen Offenlegungen in Kindheit und Jugend; non-verbale Handlungen (z. B. plötzliche Distanz), die teilweise (aber nicht immer) intentional eingesetzt wurden, um die Reaktionen zu testen, führten manchmal zu Nachforschungen der Adressat_innen – in keinem Fall aber zu Offenlegungen. Auch von Beobachtungen durch Dritte (z. B. polizeiliche Observationen) oder Äußerungen von Mitbetroffenen wurde berichtet – diese Varianten der Offenlegung bergen Risiken für Betroffene, da sich der Aufdeckungsprozess ihrer Kontrolle entziehen und die Ohnmachtserfahrung reproduziert werden kann.
(Professionelle) Hilfe kann einen sicheren Rahmen, einen Raum zum Reden anbieten und Unterstützung beim Erinnern und Einordnen der Geschehnisse leisten. Teilweise werden sexualisierte Gewaltwiderfahrnisse im therapeutischen Rahmen wiedererinnert, in anderen Fällen wird Hilfe bei Offenlegungen evident, wenn es darum geht, emotionalen Beistand zu erhalten. Gleichzeitig kann professionelle Hilfe aber auch Aufdeckungen behindern, etwa indem die Möglichkeit der sexualisierten Gewalt nicht in Betracht gezogen wird oder auf Offenlegungen diskriminierend reagiert wird.
Anerkennung: Im Rahmen der AuP-Betroffeneninterviews fanden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass Versuche der Offenlegung in Kindheit und Jugend an der Nicht-Wahrnehmung von sexualisierter Gewalt auf Seiten der Adressat_innen scheiterten. Offenlegungen im Erwachsenenalter wurden hingegen eher wahrgenommen und anerkannt. Diese Anerkennung ist auch auf gesellschaftlicher und/oder institutioneller Ebene relevant, denn Entschädigungen, Entschuldigungen und Verurteilungen bestätigen das Unrecht und sind deshalb bedeutsame Konsequenzen in Aufdeckungsprozessen. Wichtig war den Betroffenen der AuP-Studie, dass die Täter_innen mit dem von ihnen verursachten Leid konfrontiert werden und Konsequenzen tragen müssen. Wichtig war ihnen aber auch, dass andere (potenziell) Betroffene durch die Strafverfolgung geschützt werden.
In der AuP-Studie wurden Aufdeckungsverläufe von 31 betroffenen Männern skizziert und vergleichend analysiert. Dabei haben sich drei Grundmuster des Zusammenwirkens von Erinnerung und Einordnung gezeigt, die im Folgenden kurz beschrieben werden (ausführlichere Beschreibung der drei Verlaufstypen finden sich in Scambor et al. i. Vorb. und in Rieske et al. i. Vorb.).
5.1 Nicht zugänglich: später erinnert – später eingeordnet
Sechs Betroffene beschrieben Aufdeckungsverläufe mit Phasen des Nicht-Erinnerns. In dieser Zeit waren die sexualisierten Gewaltwiderfahrnisse der bewussten Wahrnehmung nicht zugänglich. Diese Betroffenengruppe unterschied sich von den anderen beiden Gruppen vor allem mit Blick auf den Kontext der Gewalt: die sexualisierte Gewalt fand vor allem im familiären Umfeld statt; zusätzlich wurde von anderen Misshandlungen berichtet, wobei dies insbesondere für Betroffene zutraf, die sexualisierte Gewalt durch den Vater erlebt hatten. Auffallend war, dass sich diese Betroffenen kontinuierlich an die Misshandlungen erinnern konnten, während die sexualisierte Gewalt zu einem späteren Zeitpunkt erinnert wurde. Dies entspricht der Erkenntnis, dass sexualisierte Gewaltwiderfahrnisse innerhalb der Familie besonders schwer mit bewussten Auseinandersetzungen bewältigt werden können. Die Gewaltwiderfahrnisse wurden erst 15 bis 40 Jahre später wiedererinnert. Die Betroffenen berichteten von plötzlich über sie hereinbrechenden Eindrücken, beispielsweise ausgelöst durch Gerüche, visuelle oder körperliche Erfahrungen. Die dabei auftauchenden Bilder und Gefühle, die auf die erlebte sexualisierte Gewalt verwiesen, waren häufig nicht verständlich und mussten in einen Sinnzusammenhang gebracht werden, wodurch das Einordnen und Begreifen des Geschehenen als sexualisierte Gewalterfahrung erst möglich wurde. So konnte es bspw. sein, dass eine visuelle Erfahrung zu einer körperlichen Reaktion (plötzliches Hinfallen oder Erstarren) und zu einem zunächst unverständlichen Gefühl (Angst, Schockstarre) führte. Erst in der Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen schälte sich in der Folge langsam der Sinnzusammenhang dieser Erfahrungen heraus. Dazu bedurfte es in vielen Fällen der (professionellen) Unterstützung von außen. Obwohl in dieser Gruppe nicht von Offenlegungen in Kindheit und Jugend berichtet wurde, gab es Hinweise darauf, dass Aufdeckung möglich gewesen wäre. Gesundheitliche Probleme und/oder Verhaltensauffälligkeiten haben dazu beigetragen, dass Kontakte mit dem professionellen Hilfesystem (z. B. Kinderärzt_innen) zustande kamen. In keinem der Fälle haben diese Kontakte mit professionellen Helfer_innen jedoch zur Beendigung bzw. Aufdeckung der sexualisierten Gewalt beigetragen.
5.2 Zugänglich: immer erinnert – immer eingeordnet
In der Gruppe jener sieben Betroffenen, deren Verlaufsgeschichte dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich kontinuierlich an die sexualisierte Gewalt erinnern und diese auch als solche einordnen konnten, ist der Anteil außerfamiliärer Einzeltäterschaft sehr groß (z. B. außerhäusliche Betreuungspersonen). In allen Fällen wurden Männer und männliche Jugendliche als Täter beschrieben. Bei einem Teil dieser Betroffenen fanden intendierte und/oder nicht-intendierte Offenlegungen in Kindheit und Jugend statt, wobei Personen im sozialen Nahraum (z. B. Familienmitglieder) die Widerfahrnisse anvertraut wurden. Keine dieser Offenlegungen führte aber zur Beendigung der sexualisierten Gewalt. Die Betroffenengruppe ist mit einem Durchschnittsalter von 34 Jahren deutlich jünger als die anderen beiden Gruppen. Dieses Ergebnis spiegelt u. a. die Entwicklung der öffentlichen Diskussionen zum Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend wider, die durch zwei Wellen der Veröffentlichung (vgl. Kavemann et al. 2016) gekennzeichnet sind und dazu beigetragen haben, dass das Thema sexualisierte Gewalt langsam „in der Mitte der Gesellschaft“ (ebd.: 15) angekommen ist.
5.3 Teilweise zugänglich: immer erinnert – später eingeordnet
Für die größte Betroffenengruppe (18) ist das Verlaufsmuster dadurch gekennzeichnet, dass die Gewaltwiderfahrnisse zwar immer erinnert wurden, die Einordnung ‚sexualisierte Gewalt‘ aber zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte. Für die Betroffenen konnte es vier, manchmal aber auch 50 Jahre dauern, bis diese Einordnung möglich war. Anlässe dafür waren explizites Wissen, das z. B. im Rahmen von Ausbildungen (z. B. Soziale Arbeit) vermittelt wurde oder veränderte Lebensumstände (z. B. Umzug, intime Beziehung), die neue Erfahrungen ermöglichten. Auch in dieser Gruppe war der Anteil außerfamiliärer Täter_innenschaft (z. B. Betreuer_innen in Kinderheimen, Sportvereinen oder Ferieneinrichtungen, Ordensschwestern) vergleichsweise groß. In den meisten Fällen ging die sexualisierte Gewalt von Männern (bzw. männlichen Jugendlichen) aus, in sechs Fällen von Frauen. Auch wenn die Bewusstwerdung der eigenen Betroffenheit zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte, wurden intentionale Offenlegungen über Gewaltvorkommnisse in Kindheit und Jugend berichtet. Dabei blieb unklar, inwieweit über die sexualisierte Gewalt gesprochen wurde. Ähnlich wie in den anderen Gruppen, führten die Offenlegungsversuche nicht zur Beendigung bzw. Aufdeckung der Widerfahrnisse. Im Gegenteil: In einigen Fällen kam es infolge der Offenlegung zu einer Verschärfung der Kontrolle und Gewalt durch die Täter_innen.
6. Hilfreiche Faktoren im Aufdeckungsprozess
Insbesondere in Bezug auf Erinnern, Einordnen und Offenlegen wurden in der AuP-Studie relevante Aspekte und Einflüsse auf Aufdeckungsprozesse rekonstruiert. Die zahlreichen Hinweise auf hilfreiche Faktoren in den Interviews mit Betroffenen, Beteiligten und professionell Beteiligten wurden systematisch geordnet und zu insgesamt vier Faktoren zusammengefasst, die im Folgenden dargestellt werden. Auch aus Aufdeckungshindernissen wurden Antworten auf die Frage „Was hilft?“ Gewonnen. (vgl. auch Scambor et al. i. Vorb.)
6.1 Wissen
„Wenn ich z.B. Geschlechtsteile nicht benennen kann, wie soll ich beschreiben, was passiert ist?“ (Beraterin/Forscherin)
Für die bewusste Bearbeitung der Gewaltwiderfahrnisse ist es wichtig zu wissen, was passiert ist (Ereigniswissen). Wie oben bereits beschrieben, geht dieses Wissen manchmal ‚verloren‘, weshalb Betroffene durch Erinnerungsarbeit versuchen, dieses Wissen wieder zurück zu gewinnen. Die Ergebnisse der AuP-Studie zeigen, dass gesellschaftliche Diskurse über sexualisierte Gewalt (Diskurswissen über Unrecht und Verantwortung der Täter_innen) diese Prozesse erleichtern. Die Einordnung der Gewaltwiderfahrnis war jüngeren Betroffenen deutlich früher möglich als älteren Betroffenen, was im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Thematisierung von sexualisierter Gewalt in den letzten Jahren gesehen werden muss. Darüber hinaus stellt Prozesswissen eine weitere aufdeckungsrelevante Wissensform dar: dies inkludiert Wissen über professionelle Handlungsabläufe in Hilfeeinrichtungen (z. B. Beratungssettings) und über mögliche Konsequenzen von Offenlegungen (Welche Prozesse werden angestoßen?). Die AuP-Ergebnisse zeigen, dass dieses Wissen für manche Betroffene eine unerlässliche Bedingung für die erste Offenlegung darstellt. Eng damit verknüpft ist das Wissen darüber, welche Hilfestrukturen vorhanden und wie diese zu erreichen sind (Strukturwissen).
6.2 Anerkennung & Solidarität
„(…) wir sind zusammen ins Fitnessstudio gegangen, extrem trainiert, wegen diesem Scheiß auch (…) er hat wirklich darauf geachtet (…) wenn wir duschen gegangen sind, dass entweder er zuerst gegangen ist oder ich (…) da hat er schon aufgepasst (…) Hut ab, Dankeschön.“ (Betroffener, 37 Jahre)
Dieses Zitat, in dem ein Betroffener auf die Reaktion eines Jugendfreundes verweist, der seinem Wunsch nach körperlicher Distanz nachkam, steht exemplarisch für die Anerkennung von Bedürfnissen und Bewältigungsweisen Betroffener durch andere Personen. In Aufdeckungsprozessen geht es u. a. darum, den eigenen Gefühlen trauen zu können und von anderen wahr- und ernst genommen zu werden. Anerkennende Reaktionen, wie die oben skizzierte, helfen Betroffenen dabei, Schuldgefühle und/oder Unsicherheiten zu überwinden. Vielfach wurde den Betroffenen nach den ersten Offenlegungen vermittelt, sie hätten sich wehren müssen. Zusätzlich fanden sich Hinweise auf eine Umkehrung der Opferrolle, wenn Betroffenen als potenzielle Täter stigmatisiert wurde (bspw. durch die plötzliche Verweigerung des Kontakts mit Kindern). Es ist deshalb wenig verwunderlich, wenn die klare Benennung der Schuld des_r Täters_in, die Ent-Schuldung der Betroffenen, sowie die Verantwortungsannahme des sozialen und professionellen Umfeldes als hilfreich erlebt werden.
6.3 Culture of Care – Sorge, Interesse, Achtsamkeit, Hilfe
„Mein bester Freund (…) ist der Einzige, der dann auch einfach mal sagt: erzähl, wenn dir danach ist, ich hör zu.“ (Betroffener, 45 Jahre)
Unterstützenden und aufmerksamen Menschen kommt eine relevante Bedeutung zu im Aufdeckungsprozess. Einige Betroffene berichteten von Signalen mit intentionalem Charakter, die sie als Kinder ausgesandt hatten (z. B. mit Folie eingewickelt knisternd beim Abendessen sitzen oder plötzlich mit Kleidern ins Bett gehen), die von ihrer sozialen Umwelt aber nicht verstanden oder ignoriert wurden. Die Signale müssen wahrgenommen werden, müssen bei Adressat_innen Fragen auslösen, die letztlich zur Einordnung der Widerfahrnisse beitragen. Dies heißt nicht, dass Kinder oder Jugendliche zum Reden gedrängt werden sollen – es gibt gute Gründe für das Schweigen. Dennoch sind Gesprächs- und Hilfsangebote notwendig und müssen immer wieder gemacht werden, damit diese von den betroffenen Kindern und Jugendlichen auch wahr- und angenommen werden können. Das Sich-Einlassen auf vertrauensvolle Beziehungen ist für Betroffenen mit hoher Wahrscheinlichkeit erschwert. Umso wichtiger sind kontinuierliche Angebote von Personen, die verfügbar sind, die zuhören und die ‚Räume zum Reden‘ schaffen, Gelegenheiten für gefahrlose und offene Gespräche ‚auf Augenhöhe‘. Die AuP-Studie zeigt, dass pädagogische Fachkräfte nicht immer in der Lage sind, die Hilfebedürftigkeit bei Jungen zu erkennen. Die Vermittlung von geschlechter- und gewaltreflektierenden Inhalten in den pädagogischen Ausbildungen ist deshalb unerlässlich. Darüber hinaus sind aber auch spezialisierte Hilfeangebote notwendig, die einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen und berücksichtigen, dass häufig andere Problemlagen sexualisierte Gewaltwiderfahrnisse überlagern.
6.4 Handlungsfähigkeit jenseits von Gewalt
„Wenn Kinder das Gefühl haben, sie dürfen das mitkontrollieren, sie dürfen mitreden ohne die ganze Last und Verantwortung des Schicksals der Familie nur allein auf ihren Schultern zu tragen. Wenn das gelingt, so ein Arbeitsbündnis, dann kann Aufdeckung etwas sehr erleichterndes und etwas sehr befreiendes haben.“ (Berater)
Handlungsfähigkeit herstellen bedeutet für Betroffene u. a., Kontrolle über den Aufdeckungsprozess zu behalten. Das heißt, darüber bestimmten zu können, wann der Betroffene mit wem und in welcher Weise über die Gewaltwiderfahrnisse spricht, Einfluss darauf nehmen zu können, was mit seiner Geschichte passiert, wer davon erfährt und wer nicht. Es bedeutet aber auch, entscheiden zu können, ob und in welcher Weise es zur Konfrontation mit der Täterin/dem Täter kommt und welche Schritte im Prozess der Aufdeckung gesetzt werden. Dabei muss die Unabhängigkeit vom Gewaltsystem für Betroffene und deren Umfeld gewährleistet sein. In manchen Fällen war es räumliche Distanz, aber auch finanzielle oder emotionale Unabhängigkeit, die eine unerlässliche Bedingungen dafür schufen, dass die Gewalt als solche von den Betroffenen erkannt werden konnte.
7. Resümee für das sozialpädagogische Handlungsfeld
Jungen widerfährt sexualisierte Gewalt – nicht nur in Einzelfällen. Diese Erkenntnis ist weder für Jungen, noch in sozialpädagogischen Handlungsfeldern oder im öffentlichen Diskurs in ausreichendem Maße sichtbar – denn nach wie vor scheinen sich Opfererfahrungen und traditionelle Männlichkeitskonzepte gegenseitig auszuschließen. Jungenarbeit mit Betroffenen bewegt sich permanent in der Ambivalenz, betroffene Jungen in ihrer Geschlechtlichkeit stärken und ihnen gleichzeitig ihr Betroffen-Sein verdeutlichen zu müssen. Dabei könnte die Aneignung von Männlichkeitsentwürfen, in welchen Aspekte der Betreuung und Fürsorge eingeschrieben sind (vgl. Budde 2014: 133ff) für die betroffenen Jugendlichen hilfreich sein, um besser mit diesem Widerspruch umgehen zu können.
So wie andere Studien (vgl. Mosser 2009, Kavemann et al. 2016) wurde Aufdeckung auch in der AuP-Studie prozesshaft verstanden. Aufdeckungsprozesse verlaufen selten geradlinig, vielmehr sind sie von Phasen der Auseinandersetzung und dem Beiseite-Stellen der Gewaltwiderfahrnisse gekennzeichnet und in ihrer Vielschichtigkeit nicht auf einen Moment des Erzählens reduzierbar. Die umfangreiche Anerkennung der sexualisierten Widerfahrnisse ist ein wichtiger Aspekt von Aufdeckung, ebenso das Erinnern, Einordnen und Offenlegen der Gewalt.
Welche Konsequenzen lassen sich aus den AuP-Ergebnissen für sozialpädagogische Handlungsfelder ziehen? Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit Aufdeckungen in für Betroffene hilfreicher (vor Gewalt schützender und unterstützender) Weise stattfinden können?
Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen kann dazu beitragen, dass Hindernisse in Aufdeckungsprozessen verringert werden. Ebenso kann sie hilfreiche Faktoren fördern, wozu die Stärkung der Jugendlichen oder die Schaffung diskriminierungsfreier Räume gehören. Eine emanzipatorische, gendersensible Jugend- und Jungenarbeit unterstützt diesen Prozess. In diesem Rahmen ist die Aneignung und Weitergabe von Wissen zu sexualisierter Gewalt notwendig. Dazu muss Wissen über sexualisierte Gewalt, unterschiedliche Erscheinungsformen und Bedingungen der Ermöglichung im Rahmen von Aus- und Fortbildungen erworben werden, das an Heranwachsende weitergegeben werden kann. Darüber hinaus müssen Sozialpädagog_innen über Angebote für Betroffene, Hilfsstrukturen und Interventionsprozesse Bescheid wissen, damit sie Heranwachsende auch dieses Wissen vermitteln können.
Unterstützungsstrukturen und -beziehungen müssen in pädagogischen Feldern entwickelt, etabliert und gepflegt werden, denn betroffene Kinder (aber auch ihre gleichaltrigen Unterstützer_innen) benötigen ‚Räume zum Reden‘ und eine damit verbundene Haltung auf Seiten der Sozialpädagog_innen, die von Zugewandtheit und Interesse gekennzeichnet ist. Manchmal erfordern ‚Räume zum Reden‘ Distanz zu Erwachsenen, manchmal tun sich diese Räume gemeinsam mit Erwachsenen in unerwarteten Situationen auf (z. B. beim gemeinsamen Kochen).
Die Aufmerksamkeit des Umfeldes ist eine hilfreiche Bedingung im Aufdeckungsprozess, gerade in Situationen, in denen Betroffene unsicher sind, wie sie das Erlebte einordnen sollen, ob sie offenlegen oder lieber schweigen wollen. Wenn betroffene Kinder oder Jugendliche Signale aussenden, gilt es diese zu erkennen, um angemessen darauf reagieren zu können. Dies ist nicht immer einfach, etwa wenn diese Signale in problematischen Handlungsweisen (z. B. sexualisierte Handlungen) in Erscheinung treten. Sozialpädagog_innen, die wissen, dass Jungen von sexualisierter Gewalt betroffen und hilfebedürftig sein können, können Adressat_innen von Offenlegungen sein. Doch nicht immer wenden sich Jungen mit dem Thema sexualisierte Gewalt an Sozialpädagog_innen – vielmehr sind es häufig andere Problemlagen, die die sexualisierten Gewaltwiderfahrnisse überlagern. Ein niedrigschwelliger Zugang und ein offener Blick für Mehrfachbetroffenheiten stellen demnach relevante Bedingungen für die Aufdeckung von sexualisierten Gewaltwiderfahrnissen bei Jungen dar.
Darüber hinaus gilt es, Konzepte in sozialpädagogische Einrichtungen zu etablieren, die Kindern Schutz vor Gewalt bieten. Hierbei geht es nicht um Nulltoleranz-Strategien, denn wenn Gewalt nicht sein darf, heißt das nicht, dass sie verschwindet – vielmehr versteckt sie sich, duckt sich weg und wird damit unsichtbar auf der diskursiven Ebene. Deshalb müssen Herrschaftsstrukturen und Gewaltverhältnisse kritisch reflektiert und langfristig verhindert werden, denn es geht darum, eine Culture of Care zu schaffen, in welcher Heranwachsende Handlungssicherheit gewinnen und im Fall von Gewaltwiderfahrnissen auf Unterstützer_innen treffen.
Mitsprache und Kontrolle von Aufdeckungsprozessen sind von zentraler Bedeutung, geht es doch darum, das Gefühl des Ausgeliefert-Seins und der Ohnmacht nicht zu reproduzieren, sondern Alternativen anzubieten. Dies bedeutet u. a., dass Hinweise von Kindern und Jugendlichen ernst genommen werden müssen, nicht bagatellisiert und nicht zurückgewiesen werden dürfen, denn es braucht eine anerkennende Haltung gegenüber Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Um Aufdeckungsprozesse zu ermöglichen, müssen zudem Diskurse über rechtmäßige und unrechtmäßige (sexuelle) Handlungen geführt werden. (vgl. Scambor et al. 2016)
Verweise
1 Das Projekt wurde durch das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie ‚Sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten’ gefördert und von Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. (Berlin) koordiniert. Das Institut für Männer- und Geschlechterforschung (www.genderforschung.at) in der Steiermark war maßgeblich an der Durchführung der Studie beteiligt. Projektwebsite: http://www.aup.dissens.de/index.php?id=67
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Über die Autorin
Mag.a Elli Scambor
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