soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 17 (2017) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/503/911.pdf
Felix Gruber, Katrin Hierzer, Teresa Christina Röck & Yasmin Kronheim:
1. Einleitung
In diesem Artikel diskutieren wir unsere Ergebnisse zu den biografischen Rekonstruktionen von ehemals wohnungslosen Menschen und deren individuelle In- und Exklusionserfahrungen. Gleichzeitig diskutieren wir die Wahrnehmungen der Beziehungen zu Sozialarbeiter_innen aus Sicht der Adressat_innen und die aus den Ergebnissen resultierenden Anforderungen an die Soziale Arbeit. (vgl. Gruber et al. 2016)
In der Literatur wird die Thematik rund um Wohnungslosigkeit sehr spezifisch aufgegriffen. Es finden sich Werke zu Wohnungslosigkeit bei Frauen oder zu individuellen sowie gesellschaftlichen Entstehungsursachen für Wohnungslosigkeit. (vgl. Bodenmüller 2010, Kautz 2010) Aspekte in Bezug auf Verläufe der Wohnungslosigkeit werden nur begrenzt aufgegriffen. (vgl. Graber et al. 2005) Zusätzlich existieren kaum Publikationen in Bezug auf wohnungslose Menschen mit Suchterkrankungen. Obwohl viele Menschen von Wohnungslosigkeit und den damit einhergehenden Konsequenzen betroffen sind, mangelt es also in diesem Bereich nach wie vor an ausreichenden Forschungsergebnissen. Vor allem hinsichtlich biografischer Rekonstruktionen der Verläufe in und aus der Wohnungslosigkeit sowie den Wechselwirkungen von Wohnungslosigkeit und Inklusion besteht nach wie vor eine Forschungslücke. Das Forschungsziel unserer Bachelorarbeit war es daher, individuell erlebte In- und Exklusionserfahrungen von wohnungslosen Menschen in den Mittelpunkt zu rücken und die sich daraus ergebende Rolle der Sozialen Arbeit zu diskutieren. Im Blickpunkt der Forschungsarbeit standen somit die Perspektive der ehemals von Wohnungslosigkeit betroffenen Personen und die professionelle Sichtweise der Sozialarbeiter_innen.
Im ersten Teil des vorliegenden Artikels werden theoretische Perspektiven in Bezug auf das Thema soziale In- und Exklusion aufgegriffen sowie Diskriminierungs- und Stigmatisierungsprozesse diskutiert. Weiters wird die Rolle der Sozialen Arbeit analysiert. Zweitens wird die methodische Herangehensweise bezüglich Aufbereitung und Auswertung des Forschungsmaterials näher thematisiert (2) sowie drittens die Methode und ausgewählte Forschungsergebnisse präsentiert (3). Zunächst wird die Dimension Wohnen in ihren Wechselwirkungen zu anderen Kategorien dargestellt (4) sowie die Dynamiken rund um das soziale Umfeld aufgegriffen (5). Darauffolgend stehen die Ergebnisse in Bezug auf Stigmatisierungserfahrungen und -prozesse und dadurch erschwerte Zugänge zu Hilfssystemen (6) sowie Distanz und Naheverhältnisse zur Szene (7) und schließlich die Rolle der Sozialen Arbeit (8) im Fokus. Den Abschluss dieses Artikels bildet ein Fazit, in dem die In- und Exklusionserfahrungen in den Verläufen analysiert werden (9).
2. Theoretische Perspektiven
In vielen Debatten wird Exklusion in gewisser Weise als Zustand, als Position jenseits der gesellschaftlichen Grenzen verstanden. (vgl. Kronauer 2013: 27ff) Wenn wir in diesem Artikel von Inklusion sprechen, beziehen wir uns vorwiegend auf den gesellschaftstheoretischen Ansatz. Robert Castel (2008) und Martin Kronauer (2013) stellen diese Beschreibung infrage. Exklusion ist ihnen zufolge ein Prozess, der die Möglichkeiten der Teilhabe einer Person am kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Leben nach und nach abbaut, wodurch die Person immer weniger in die Gesellschaft eingebunden ist, ohne jedoch den Bezug zu dieser zu verlieren. Soziale Arbeit soll in diesem Zusammenhang als Unterstützung aus einer gewissen Lage heraus dienen – als „zeitlich begrenzte Strategie“ (Castel 2008: 74) eingesetzt werden. In der Realität ist Soziale Arbeit aber als „Dauerzustand“ präsent. (vgl. ebd.: 77ff) Der Exklusionsbegriff versucht demnach „die soziale Behandlung eines Problems auf die Ränder der Gesellschaft zu verschieben“ (ebd.: 77) und weniger auf Präventionsmöglichkeiten einzugehen. (vgl. ebd.) Durch diese kritische Betrachtung skizziert Castel mögliche Handlungsstrategien und Herausforderungen für die Soziale Arbeit im Kontext von In- und Exklusion.
In diesem Zusammenhang möchten wir auch auf Diskriminierungs- und Ungleichheitskategorien näher eingehen. Der Intersektionalitätsansatz betrachtet vor allem Machtverhältnisse, welche diese Ungleichheiten (re-)produzieren. Im Zentrum stehen soziale Praktiken, die durch Machtstrukturen geprägt sind und unterdrückend beziehungsweise diskriminierend wirken. (vgl. Walgenbach 2014: 65ff) An dieser Stelle möchten wir die Reflexionsmöglichkeit seitens der Sozialen Arbeit ansprechen. So werden durch diverse Kategorien wie Klasse, Gender und Herkunft auf gesellschaftlicher Ebene soziale Ungleichheiten produziert, gleichzeitig existieren diese aber auch im Setting zwischen Sozialarbeiter_innen und deren Nutzer_innen beziehungsweise Klient_innen. Für die Praxis einer intersektional orientierten Sozialen Arbeit bedeutet dies, dass Machtstrukturen und Diskriminierungsprozesse, die unter anderem aufgrund verschiedener Kategorien auftreten können, erkannt werden müssen. Gleichzeitig darf diese Kategorisierung aber nicht zu Pauschalisierungen führen und die Lebenswelt, die Bedürfnisse und die Erfahrungen der einzelnen Personen sollen weiter im Vordergrund stehen. (vgl. Punz 2015: 66f)
Bei der Betrachtung von In- und Exklusionsprozessen möchten wir auch Stigmatisierungsprozesse in die Debatte einbinden. Ein Stigma bezeichnet eine Eigenschaft oder ein Merkmal einer Person, mit der auf eine gewisse soziale Identität hingewiesen wird, die wiederum zu negativen Zuschreibungen in der Gesellschaft führt. Dabei können Menschen sowohl aufgrund psychischer als auch physischer Merkmale stigmatisiert werden. Zu beachten ist hierbei, dass ein und dasselbe Attribut nicht für jede Person ein Stigma ist, sondern dies von Person zu Person unterschiedlich sein kann. Besitzt jemand ein Stigma, bedeutet dies, dass er oder sie von der Gesellschaft als außenstehend betrachtet wird und somit ständig um Anteilnahme an jener kämpfen muss. Stigmatisierung kann so weit gehen, dass ein Stigma beziehungsweise eine stigmatisierte soziale Identität einen Status erreicht, der dazu führt, dass sich die betroffene Person vorrangig nur noch über eben jene definiert. (vgl. Goffman 1996: 10ff)
3. Methodische Ausführungen
Unser Forschungsschwerpunkt bezog sich auf Verläufe in und aus der Wohnungslosigkeit und richtete sich insbesondere auf die Inklusions- bzw. Exklusionserfahrungen der Betroffenen und wie sich diese in den Phasen von Wohnungslosigkeit bis zum eigenständigen Wohnen gestalteten. Ein weiteres Interesse war die Rolle der Sozialen Arbeit und wie diese von Betroffenen wahrgenommen wird.
Der Forschungszugang wurde uns durch Zusammenarbeit mit dem Betreuten Wohnen der Suchthilfe Wien gGmbH (BeWo) ermöglicht. Nach einem ersten Gespräch mit dem damaligen Leiter wurde uns das Konzept der Einrichtung präsentiert. Später wurden uns Kontakte zu den Nutzerinnen und Nutzern für Interviews vermittelt und vier qualitative Interviews geführt.
Die vier (ehemaligen) Nutzer_innen des BeWos waren zum Zeitpunkt des Interviews wieder in einem eigenständigen Wohnverhältnis oder auf dem Weg dorthin. So wurden uns die Verläufe in und aus der Wohnungslosigkeit rückblickend erzählt.
Herausforderungen gab es hier bezüglich teilweise schwieriger Kontaktaufnahme oder aufgrund kurzfristiger Absagen. Ein Interviewpartner lebte zum Zeitpunkt des Interviews noch in der Wohnung des BeWos. Ein weiterer lnterviewpartner lebte bereits seit einem halben Jahr, eine Interviewpartnerin seit einem und eine andere seit einem Jahr und mehreren Monaten in einer eigenen Gemeindewohnung. Alle interviewten Personen erlebten eine oder mehrere Phasen der Wohnungslosigkeit beziehungsweise des ungesicherten Wohnens. Die Interviews wurden individuell vereinbart und fanden je nach Wunsch der Personen zweimal in deren eigenen Wohnungen und zweimal in Kaffeehäusern statt.
Die Interviews setzten sich aus einer narrativen Phase und einer anschließenden problemzentrierten Nachfragephase zusammen. Zu Beginn jedes Interviews erfolgte eine Vorstellungsphase, in der das Forschungsinteresse, der konkrete Ablauf sowie die Wahrung der Anonymität thematisiert wurden. Zudem gab es noch Raum für offene Fragen. Die narrative Erzählphase wurde schließlich mittels einer Einstiegsfrage, welche auf Erinnerungen bezüglich des Wohnens beziehungsweise ungesicherten Wohnens abzielte, angeregt. So konnten Lebensereignisse, Handlungsabläufe und deren Interpretation festgehalten werden. In einer weiteren, etwas kürzeren Phase wurden Methoden aus dem problemzentrierten Interview angewandt. (vgl. Lamnek 2005: 357ff) Alle vier Interviews waren von der Offenheit der InterviewpartnerInnen geprägt. Es gab keine Fragen, die nicht beantwortet werden wollten.
Zum Abschluss jedes Interviews kam noch ein Kurzfragebogen zum Einsatz, welcher zur Erhebung sozialstruktureller Daten diente. Alle Interviews wurden von uns mittels Tonband aufgezeichnet und transkribiert. Nach ersten Analysen kam es zu einem erneuten Treffen mit dem Leiter, der Sozialarbeiterin und dem Sozialarbeiter des BeWos. In diesem Rahmen wurde eine Gruppendiskussion zu ersten Ergebnissen geführt. Auch diese Aufzeichnungen wurden in die Gesamtanalyse mit eingebunden. Das gesamte Datenmaterial setzt sich also zusammenfassend aus den vier Interviews, einem aufgezeichneten Gespräch mit dem Leiter und der Gruppendiskussion mit dem Leiter, der Sozialarbeiterin und dem Sozialarbeiter des BeWos der Suchthilfe Wien zusammen.
Die Datenaufbereitung erfolgte in Anlehnung an die induktive Kategorienbildung im Rahmen der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring in mehreren Schritten. (vgl. Mayring 2003: 437ff) In gemeinsamen Treffen erfolgte eine induktive Kategorienbildung und Verschlagwortung der Daten, die anschließend geclustert wurden. Diese erste Deutung, welche schließlich relevante Interviewausschnitte in eine Matrix aus nummerierten Kategorien einbettete, wurde in einem zweiten Schritt nochmals überarbeitet. Den Fokus legten wir hier besonders auf Überschneidungen und Wechselwirkungen zwischen den Kategorien.
Bei der Erhebung des Materials waren wir besonders an drei biografischen Phasen interessiert: dem Beginn der Wohnungslosigkeit, der Zeit während der Wohnungslosigkeit sowie der Phase der Stabilisierung der Wohnsituation. Da alle drei Phasen durch verschiedene Erfahrungen geprägt sind sowie sehr unterschiedlich verlaufen, ist auch die Darstellung der Forschungsergebnisse im nachfolgenden Teil in diese Abschnitte gegliedert.
4. Eigenständiges Wohnen als Grundbedürfnis
„Ich will trotzdem meine eigene Wohnung und einen Rückzugsort, ich will einmal was Eigenes haben und ich will einmal sagen können, ja das ist meines und (…) mich richtig einrichten können wie es mir gefällt und mich selber finden.“ (IV 2: Z. 161-165)
In diesem Kapitel möchten wir die Bedeutung der Wohnung und Wohnungslosigkeit in ihren Wechselwirkungen mit sozialen, gesundheitlichen und finanziellen Aspekten hervorheben.
Der Verlust der Wohnung bedingt den Verlust eines sicheren Rückzugsbereiches vor der Öffentlichkeit und damit einhergehend die Notwendigkeit, sich nach den Regeln öffentlicher Institutionen zu organisieren. In den Gesprächen manifestiert sich der Eindruck, dass sich die InterviewpartnerInnen dadurch abrupt einer hohen psychischen Belastung ausgesetzt gefühlt haben. Den Grund für diese steigende Belastung haben wir in den verschiedenen begrenzten Öffnungszeiten der Einrichtungen, fehlenden oder unzureichenden Lagerungsmöglichkeiten für den eigenen Besitz, Angst und Stress wegen Kontrollen durch öffentliche Sicherheitsorgane und im Zwang, in der Öffentlichkeit zu konsumieren, verorten können. (vgl. IV 2: Z. 192-203, 403-406, 531-536, IV 3: Z. 199-202, IV 4: Z. 333-338)
Diese Erfahrung, vor der Öffentlichkeit und den öffentlichen Institutionen schutzlos zu sein, den Alltag fremden Regeln unterwerfen zu müssen, der Kälte und der Eventualität des Diebstahls ausgeliefert zu sein, haben unsere Interviewpartner_innen als prägend und beinahe traumatisierend beschrieben und dennoch wurde diese Zeit teilweise als notwendiger Tiefpunkt bezeichnet. Daraus schließen wir, dass aus der Wohnungslosigkeit einerseits eine Zuspitzung der Situation zwischen Kontrollverlust, Verstärkung der Suchterkrankung sowie Verlust der Sinnhaftigkeit des Lebens und andererseits eine Sehnsucht nach Gesundheit, Sinn, sozialer Anerkennung und Selbstbestimmung entsteht. Dank dieser Wünsche und bei bestehender positiver Zukunftsperspektive kann trotz der sich selbst verstärkenden negativen Dynamik der Situation der Wohnungslosigkeit eine Stabilisierung der Lebenssituation entstehen. (vgl. IV 1: Z. 182-189, IV 2: Z. 281-282, 403-406, 522-527, 826-830, IV 3: Z. 199-202, IV 4: Z. 293-299, 333-338, 359-368)
Mit Anfang der Stabilisierung auf allen Ebenen beginnt auch eine Zeit der neuen Prioritätensetzung. Die Suchterkrankung tritt zunehmend in den Hintergrund, während andere Themen wie Gesundheit, Wohnen und Freizeitbeschäftigungen zunehmend präsent werden. (vgl. IV 2: Z. 803-805, 826-830, IV 3: Z. 103-109, 110-113, 233-236, IV 4: Z. 446-461, 519-543, 550-553) Zwar führt der positive Lebenswandel zu höherer Bereitschaft, sich aktiv um die eigene Gesundheit zu kümmern, allerdings sind zwei der interviewten Personen zum Zeitpunkt des Einzugs ins BeWo in ihrer psychischen und physischen Gesundheit so eingeschränkt, dass arbeiten für sie nicht mehr möglich ist. Ergänzend wird auch die Zusammenarbeit mit dem AMS als belastend beschrieben und die Möglichkeit, durch andere Mittel legal Geld zu beziehen (z. B. Invaliditätspension) als große psychische Entlastung betont. Der fehlende Arbeitsplatz oder die nicht vorhandene Arbeitsfähigkeit können zu einer angespannten finanziellen Situation führen und durch den hohen existenziellen Stress sowie den immerwährenden „Druck“ durch das AMS die psychische Gesundheit belasten. (vgl. IV 1: Z. 114-116, 464-476, 570-577, IV 2: Z. 461-467, 808-810, IV 4: Z. 104-111, 130-137, 125-128, 410-418)
Ein gesichertes, längerfristiges Wohnverhältnis zu haben, bedeutet, Raum für sich als Privatperson, einen Rückzugsort, aber auch über einen Ort der Selbstbestimmung zu verfügen. So weihte eine der Interviewten die erste Gemeindewohnung mit einer Feier ein und zeigte in diesem privaten Rahmen ihre persönliche Errungenschaft der Wohnung vor. Sie hatte hier nicht nur einen Raum zum Schlafen, sondern auch einen Raum, der eine Erweiterung ihrer Persönlichkeit darstellt, gestaltet nach ihren eigenen Ideen und Vorstellungen. Die Wohnung hat also auch eine symbolische Bedeutung als Freiraum, Privatraum und Raum der eigenen Selbstwirksamkeit. Antje Flade (2006: 22) schreibt hierzu, dass Privatheit und Rückzug sowie jene selbstbestimmte Zugangsregelung zum eigenen Rückzugsort als Grundbedürfnisse eines jeden Menschen einzuordnen sind.
Dieses erkennbare Zusammenspiel aus Selbstbestimmung, persönlicher Freiheit und Selbstverwirklichung verdeutlicht den Unterschied zwischen einer betreuten Wohnung in Besitz der tragenden Einrichtung und einer Gemeindewohnung. Letztere wird als eigener Besitz wahrgenommen, als etwas Dauerhaftes. Die Entscheidungsfreiheit zur Gestaltung der eigenen Wohnung wird von den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern sehr ausführlich beschrieben, wodurch die freie Wahl der Wohneinrichtung ins Zentrum der Erzählungen tritt. Das Einrichten der eigenen Wohnung war jedoch für die Interviewten Personen erst möglich, nachdem ein Teil der persönlichen Stabilisierung sowie erste finanzielle Ansparungen im Rahmen des Betreuten Wohnens stattgefunden hatten. (vgl. IV 2: Z. 691-695, 705-710, IV 3: Z. 278-285, IV 4: Z. 587-596, 619-630, GD: min. 08:40-09:40, 51:30-52:30)
Es ergibt sich daher, dass die Kategorie des Wohnens in einer starken Wechselwirkung zu den anderen Aspekten der Lebensrealitäten der interviewten Personen steht. Die finanzielle Grundsicherung ist von elementarer Bedeutung für die gesundheitliche Stabilisierung und ermöglicht den Erhalt der eigenen Wohnung sowie in weiterer Folge die Gestaltung dieser nach den eigenen Vorstellungen. Die Wohnung dient sowohl als Rückzugsort, als auch als Ort der Selbstverwirklichung, worin auch der Unterschied zu Einrichtungen für wohnungslose Personen besteht.
5. Soziales Umfeld: Brüche und Beziehungen
„Dann hab ich auch 7 Jahre familiär keinen Kontakt gehabt. Mein Stiefvater war für mich mein Papa und mein bester Freund. Wie ich abgerutscht bin, hab ich mit Absicht gebrochen, dass sie nicht sehen, wie ich untergehe.“ (IV 2: Z. 413-415)
Aus den Biografien und Erzählungen der interviewten Personen schließen wir, dass das soziale Umfeld (Freundinnen und Freunde, Familie und Partnerschaften) eine wesentliche Rolle während des gesamten Verlaufes der Wohnungslosigkeit spielt. Obwohl die einzelnen Phasen oftmals durch jahrelange Konflikte und Kontaktabbrüche geprägt sind, zeigt sich durch die Interviews für uns dennoch, dass Freundinnen und Freunde, Partnerschaften und vor allem die Familie einen hohen Stellenwert einnimmt.
Auf die Frage nach den Ursachen für das Entstehen der Wohnungslosigkeit führten alle Betroffenen, neben anderen Faktoren, als wesentlichen Grund Beziehungsabbrüche betreffend Familie oder Partnerschaft an. Die vormals gemeinsame Wohnsituation geht mit diesem Ereignis verloren und die Personen sind plötzlich und unerwartet mit der Wohnungslosigkeit konfrontiert. Vor allem in der Zeit der akuten Wohnungslosigkeit, während also Angebote wie beispielsweise Notschlafstellen genutzt werden, häufen sich laut den interviewten Personen Kontaktabbrüche zu Freundinnen und Freunden sowie Familien. Diese erfolgen einerseits ungewollt durch die Abwendung des sozialen Umfeldes, andererseits werden Beziehungsbrüche aufgrund von Scham, Stolz und Selbstherabsetzung sowohl in Bezug auf die Suchterkrankung als auch auf die Wohnungslosigkeit selbst herbeigeführt. Mit diesen Kontaktabbrüchen geht nicht nur der Verlust einer sicheren Wohnmöglichkeit, sondern auch eine Destabilisierung und Ressourcenverluste (materieller, sozialer Art) einher. (vgl. IV 1: Z. 89-91, 326-333, IV 2: Z. 409-418, 712-723, IV 3: Z. 27-31, 115-122, IV 4: Z. 280-290)
Bei einigen der befragten Personen blieb trotz häufiger Beziehungsbrüche und Konflikte der Kontakt zu einzelnen Mitgliedern des sozialen Umfeldes auch während der Phase der Wohnungslosigkeit aufrecht. Das Verhältnis zu diesen Personen gestaltete sich allerdings problematisch, da dieses häufig von Konflikten geprägt war. Auch Begegnungen mit Familienmitgliedern wie Mutter oder Vater wurden als schwierig wahrgenommen. Dies lässt sich für uns auf mehreren Ebenen begründen. Die betroffenen Personen sind häufig Normalitätserwartungen seitens des sozialen Umfeldes ausgesetzt, die sie aufgrund ihrer Suchterkrankung nicht erfüllen können. Daraus ergeben sich Konflikte, die von den interviewten Personen ebenfalls als belastend wahrgenommen werden. Neben emotionalen Bindungen im sozialen Umfeld sind auch materielle Aspekte relevant.
Seitens des sozialen Umfeldes erhalten die Betroffenen häufig Unterstützung, wie Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten oder finanzielle Hilfen. Da diese Unterstützungsleistungen an positive Beziehungen gebunden sind, wirken sich Konflikte auch auf diese Ressourcen problematisch aus. Dies kann in weiterer Folge zu Unsicherheiten und fehlenden Absicherungen bei den Personen führen.
Daraus schließen wir, dass die Unterstützung durch das soziale Umfeld von den Interviewpartner_innen und Interviewpartnern als ambivalent erlebt wird. Einerseits ist das soziale Umfeld eine hilfreiche und entlastende Ressource, andererseits wird es auch als belastender Faktor wahrgenommen. Aus der Auswertung des Materials schließen wir, dass in der Zeit der Wohnungslosigkeit, Kontakte, die konstant aufgesucht werden können, stabilisierend wirken. (vgl. IV 1: Z. 119-124, 127-131, 134-138, 182-189, 273-274, IV 2: Z. 531-536, IV 3: Z. 115-122, 160-169, 173-178)
Mit dem Einzug – sowohl in die Wohnung des Betreuten Wohnens als auch in die eigene Gemeindewohnung – berichten die interviewten Personen häufig über die eigenständige Kontaktaufnahme zu den zuvor abgebrochenen Kontakten. Auch zu Personen, mit denen das Verhältnis konfliktreich war, besserte sich dieses mit dem Einzug in die jeweilige Wohnung. Zudem wurde in dieser Zeit auch seitens des damaligen sozialen Umfeldes selbst der Kontakt zu den Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern erneut vermehrt gesucht. Beziehungen, wenn auch häufig instabil, gelten im gesamten Verlauf der Wohnungslosigkeit als wichtige Ressource und Unterstützung, es kommt jedoch oftmals erst mit der Stabilisierung der Wohnsituation zur Steigerung sozialer Aktivitäten. Durch die Auswertung der durchgeführten Interviews stellen wir fest, dass die Wiederherstellung und Festigung von vormals teilweise eigenständig abgebrochenen Kontakten in dieser Zeit einen ganz zentralen Wunsch der Personen darstellen. Die zuvor bestandene Scham und Belastung, einerseits durch die Wohnungslosigkeit und andererseits durch die Suchterkrankung, tritt sowohl mit dem Erreichen eines eigenständigen Wohnverhältnisses als auch mit der häufig zeitgleichen Stabilisierung der Sucht in den Hintergrund und die Konzentration auf andere Bereiche, wie auf das soziale Umfeld, wird ermöglicht. (vgl. IV 2: Z. 716-723, 765-770, IV 3: Z. 115-122, 421-424, 173-178, IV 4: Z. 587-595)
Obwohl also Kontaktabbrüche die Zeit der Wohnungslosigkeit kennzeichnen, ist überwiegend die Familie für alle Interviewpartnerinnen und Interviewpartner durchwegs präsent, was sich vor allem in der Zeit der Stabilisierung der Wohnsituation mit der Wieder-Kontaktaufnahme zeigt.
6. Stigmatisierungsprozesse und der individuelle Zugang zu professioneller Unterstützung
„(…) im Sommer bin ich so langärmlig gestanden, weil ich mich geschämt hab für meine Hände, wie ich dann auf die Nadel gekommen bin (.) weil ich mir gedacht hab, ‚na es muss nicht jeder sehen, auch wenn sie’s ahnen, es muss nicht sichtbar sein’ und bin wirklich sechs Jahre im Sommer voll bekleidet (.) gestanden (…)“ (IV 2: Z. 53-56).
In allen Interviews wurde von Situationen erzählt, in denen es zu Stigmatisierungserfahrungen kam, wie schon im Eingangszitat ersichtlich wird. Eine Person beschreibt, dass sie aufgrund von negativen Erfahrungen bezüglich ihrer Suchterkrankung gemeinsam mit ihrem Freund in einen anderen Ort ziehen wollte. Stigmatisierungserfahrungen werden allerdings nicht nur im öffentlichen Raum gegenüber fremden Personen, sondern auch im unmittelbaren sozialen Umfeld wahrgenommen. Daher ist ein Unterschied zu erkennen, welchen Personen Informationen über die Suchterkrankung und die Wohnungslosigkeit anvertraut werden, und welchen diese verschwiegen werden. Dabei geht es primär nicht um das Naheverhältnis zu den Personen, sondern eher um deren erwartete Reaktion auf die Suchterkrankung. (vgl. IV 2: Z. 53-56, IV 4: Z. 36-43, 1132-1141)
Hilfe anzunehmen, wurde zumindest zu Beginn der Wohnungslosigkeit eher als schwierig, teilweise sogar als beschämend wahrgenommen und beschrieben. Es scheint aber, das Annehmen von Hilfe und die eigene Hilfsbedürftigkeit sind in allen Phasen des Verlaufs gleich präsent und es wird ein großes Bedürfnis verspürt, sich von beidem zu distanzieren. Das Streben nach Autonomie spielt im gesamten Verlauf der Wohnungslosigkeit eine wichtige Rolle, denn es wird das Ziel verfolgt, selbstbestimmt zu wirken. Das selbstständige Aufsuchen von professioneller Unterstützung setzt meist erst nach dem Versuch, problematische Situationen mittels eigener Bewältigungsstrategien zu verändern, ein. Allerdings bleiben Autonomie und Selbstständigkeit auch in der Phase der professionellen Unterstützung wichtig.
Bei der Betrachtung der Vorstellungen der Betroffenen bezüglich Einrichtungen der Sucht- beziehungsweise Wohnungslosenhilfe vor dem eigenen Erstkontakt zeigte sich uns, dass hier negative Zuschreibungen existieren, die den persönlichen Zugang erschweren beziehungsweise hemmen. (vgl. IV 1: Z. 27-32, 140-143, IV 2: Z. 33-36, 63-66, 493-501, IV 4: Z. 300-308) Der Versuch, sich von bestimmten Institutionen wie beispielsweise Drogenberatungsstellen zu distanzieren, geht mit der Abgrenzung zu anderen suchterkrankten Menschen einher, um in der Folge Stigmatisierungserfahrungen zu vermeiden. (vgl. IV 1: Z. 140-143, 375-390, IV 2: Z. 19-22, 22-29, 68-70, 478-488, IV 3: Z. 39-42, 498-503, IV 4: Z. 33-35, 146-152, 280-290, 328-332, 359-368, 434-444, 619-630)
Es zeigte sich uns auch eine Art Lernprozess im individuellen Umgang mit den Stigmata, welche durch Wohnungslosigkeit und Suchterkrankung bestehen. Dieser lässt sich an den unterschiedlichen Umgangsformen festmachen, die die Betroffenen mit der Zeit entwickeln. Zu Beginn der Suchterkrankung wird eher offen mit ihr umgegangen und erst durch negative Erfahrungen wird begonnen, sie zu verheimlichen, beziehungsweise zu verstecken. Diese durchgehende Anstrengung, etwas verbergen zu müssen, bringt eine starke Belastung mit sich, welche schließlich beendet werden kann, indem im näheren sozialen Umfeld ein offener Umgang mit der Suchterkrankung gepflegt wird.1 Gerade bei der Suchterkrankung scheint hier auch die eigene Wahrnehmung eine wichtige Rolle zu spielen, denn erst wenn die Erkrankung von der betroffenen Person als eben solche erkannt wird, kann offen mit ihr umgegangen werden. (vgl. IV 2: Z. 104-112, 716-723, IV 3: Z. 39-42, IV 4: Z. 86-96, 587-594, 1132-1141)
Festzuhalten ist außerdem, dass in der Literatur zwischen erworbenen Stigmata und jenen, die von Geburt an vorhanden sind, unterschieden wird. Sowohl das Stigma der wohnungslosen Personen als auch jenes der suchterkrankten Personen sind als erworben zu betrachten. Dies führt bei den betroffenen Personen zu einem persönlichen Konflikt, bei dem vorherige Einstellungen gegenüber einer stigmatisierten Gruppe überdacht werden müssen, weil plötzlich eine Zugehörigkeit zu dieser Gruppe entsteht. Dies kann zu einer schweren Identitätskrise führen, welche stark belastend wirkt, und sich somit negativ auf die Suchterkrankung auswirkt. In weiterer Folge wird auch die Annahme von Hilfe erschwert. Ebenso muss die Rolle des Staates in Bezug auf Stigmatisierung an dieser Stelle betrachtet werden, denn durch die Tatsache, dass mit dem Erwerb illegaler Substanzen die Kriminalisierung von suchtkranken Personen einhergeht, verstärkt er die Stigmatisierung der Betroffenen in der Gesellschaft und erhöht somit deren Belastung. (vgl. IV 1: Z. 56-68, 166-174, 326-333, IV 2: Z. 104-112, 128-135, 183-191, 293-299, 409-418, 531-536, 566-571, IV 3: Z. 39-42, IV 4: Z. 69-73, 246-249, 254-260)
Es zeigt sich also, dass das Annehmen von Hilfe vor allem in frühen Phasen der Wohnungslosigkeit wegen negativer Erfahrungen oft gehemmt ist. Auch spielen Stigmatisierungserfahrungen in Verbindung mit persönlichem Schamgefühl und Stolz eine wichtige Rolle. Allgemein lässt sich feststellen, dass die Soziale Arbeit mit niederschwelligen Angeboten, einer akzeptierenden Haltung und dauernder Begleitung prinzipiell sehr gut zu reagieren scheint. Für die Zukunft ist es wichtig, in der Gesellschaft existierende Vorurteile gegenüber Institutionen aller Art entgegen zu wirken, um frühzeitige Interventionen zu ermöglichen.
7. Distanz und Naheverhältnis zur Szene2
„Was mich freut ist, dass ich jetzt nur noch wenig Kontakt zu Leuten aus der Szene habe. Ich meine, klar habe ich substituierte Freunde auch immer noch, aber Leute die schon relativ stabil sind (…) und aber auch ganz viele, die gar nichts damit zu tun haben. Und das ist für mich ganz toll, wie eine ganz andere Welt kennenzulernen. Es hat ja doch Vorurteile gegeben, man hat die Leute auch gar nicht kennengelernt, weil man ja auch nirgendwo anders hingekommen ist als zu gewissen Plätzen in der Stadt, wo man weiß, man trifft die Leute die man kennt.“ (IV 4: Z. 1162-1772)
Im Verlauf der Wohnungslosigkeit bildet besonders die Szene neben Familie, Freund- und Partnerschaften einen wichtigen Teil des sozialen Umfeldes. Diese Beziehungen sind allerdings ähnlich wie jene im familiären Umfeld häufig von Instabilität geprägt. In den Interviews ging zudem eine deutliche Ambivalenz gegenüber Personen aus der Szene hervor, die sich eben einerseits durch positive, andererseits durch negative Erfahrungen, schließlich auch durch Stigmatisierung konstituiert. Deutlich sind Distanzierungsprozesse von der Szene erkennbar. Es wird versucht, die Zugehörigkeit zur Szene durch die Umsetzung von eigenen Wertvorstellungen zu minimieren. (vgl. IV 1: Z. 340-346, IV 2: Z. 63-66, 156-172, 409-418, IV 3: Z. 340-348, IV 4: Z. 359-368, 1162-1173)
Häufig ergeben sich schon vor Beginn der Wohnungslosigkeit, bedingt durch die Suchterkrankung, verschiedene Kontakte zur Szene. In der Phase der akuten Wohnungslosigkeit werden schließlich gezielt Orte im öffentlichen Raum aufgesucht, in denen die Szene etabliert ist. Diese Orte wurden in den Erzählungen der interviewten Personen räumlich zunächst von der professionellen Unterstützung getrennt. Durch das aktive Aufsuchen lässt sich an dieser Stelle von einem Naheverhältnis sprechen, welches allerdings prekär ist, da sich hier häufig Abhängigkeiten, auch auf finanzieller Ebene, ergeben. Dennoch können sich in der akuten Phase der Wohnungslosigkeit durch das Aufsuchen der Szene auch Ressourcen erschließen. Die Szene fungiert zudem als Schnittstelle zu Unterstützungssystemen der Sozialen Arbeit. (vgl. IV 1: 262-265, IV 2: Z. 57-66; IV 4: Z. 324-332)
In den verschiedenen Phasen der Wohnungslosigkeit können Mechanismen erkannt werden, welche die Distanz zur Szene fördern. Betroffene versuchen, sich mittels eigener Regeln oder der Durchsetzung eigener Werte von anderen Personen der Szene abzugrenzen. So wird hervorgehoben, dass beispielsweise das Einhalten hygienischer Standards beim Konsumieren oder die Priorität, Geld zunächst in Essen zu investieren bevor Suchtmittel beschafft werden, im Gegensatz zu anderen Betroffenen eine hohe Relevanz hat. Das Einhalten eigener Standards stärkt schließlich das Selbstwertgefühl und es werden Grenzen zur Szene gesetzt, bzw. eine Distanzierung ermöglicht. Im Gegensatz dazu werden bestimmte Verhaltensweisen von Personen der Szene negativ wahrgenommen, hier kann das Hinterlassen von Spritzen auf Toiletten als Beispiel herangezogen werden. Mit der Stabilisierung des Wohnverhältnisses werden Distanzbestrebungen noch stärker ausgeprägt, diese können schließlich bis hin zum Bruch mit der Szene führen. Bis auf vereinzelte, in der Vergangenheit verlässlich wahrgenommene Kontakte, werden Beziehungen zu den meisten Personen aus der Szene beendet. So wurden zum Beispiel bei diesen Kontakten erreichte Ziele hervorgehoben, die sich schließlich mit den eigenen Wertvorstellungen decken. (vgl. IV 1: Z. 340-346, 375-390, IV 2: Z. 68-72, 368-369, 409-418, IV 3: Z. 122-125, 340-348, IV 4: Z. 402-409, 434-444, 1162-1173, GD: min. 08:45-09:15)
Während im Laufe der Stabilisierung eine Abgrenzung zur Szene stattfindet, wird der Kontakt zum familiären Umfeld wieder aufgenommen, beziehungsweise erweitert. Zusätzlich werden Kontaktmöglichkeiten zu Personen außerhalb der Szene verstärkt und – wie im Eingangszitat dieses Kapitels formuliert – „eine neue Welt eröffnet“.
8. Die Rolle der Sozialen Arbeit
„Auf einmal kommt ein Sozialarbeiter, sagt ‚Hallo, ich hab dich noch nie hier gesehen, darf ich kurz mit dir reden?‘ Und so und dann hab ich mir gedacht, das ist ja gar nicht so schlimm.“ (IV 2: Z. 72-73)
In allen vier Interviews wurde erwähnt, dass während des Verlaufs in und aus der Wohnungslosigkeit mehrere Kontakte zur Sozialen Arbeit in nieder- beziehungsweise höherschwelligen Einrichtungen bestanden. Der Zugang zu Hilfesystemen variierte dabei von Person zu Person, jedoch zeichnet sich für uns ab, dass die Annahme von Leistungen durch vorhandene Negativbilder von Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe und die Komplexität des Hilfeannahmeprozesses erschwert wurde. Allerdings werden jene negativen Zuschreibungen nach erstmaligem Aufsuchen niederschwelliger Einrichtungen häufig relativiert, wodurch anschließend auch weitere Unterstützungsleistungen angenommen werden können, vom Angebot des Spritzentausches und Notschlafmöglichkeiten bis zur Verpflegung und Möglichkeiten des temporären Rückzugs aus dem öffentlichen Raum. Vor allem der Rückzug wird als sehr wichtig empfunden und beeinflusst die Besserung des psychischen Wohlbefindens sowie die Nähe zur Sozialen Arbeit.
Im BeWo der Suchthilfe Wien variieren die Themen, die aufgegriffen werden, laut den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern stark. Je nach Qualität der professionellen Beziehung werden in Gesprächen soziale Problematiken, organisatorische Fragen, persönliche Anliegen oder gesundheitliche Angelegenheiten besprochen. Grundsätzlich werden also sehr vielfältige Themengebiete behandelt, wobei mit der Stabilisierung der Lebenssituation der Betreuten auch eine Veränderung in den Inhalten zu erkennen ist. Freizeitgestaltung, Tagesstrukturierung und Kennenlernen des Wohnumfeldes rücken zunehmend ins Zentrum der Beratungen. Das Ankommen der betreuten Personen im jeweiligen Wohnumfeld geht mit der Notwendigkeit der Neuorientierung einher. Hier wird von Seiten der Sozialen Arbeit Wert auf das Kennenlernen der Wohnumgebung gelegt, was die Eigenständigkeit der betreuten Personen erhöht. Durch die gemeinsame Bearbeitung der Thematiken wird zunehmend auch die professionelle Beziehung stärker. Im späteren Verlauf der Betreuungssituation werden dadurch auch aktiv Angebote gesetzt. Die Gestaltung der persönlichen Tagesstruktur hat großen Einfluss auf die soziale Inklusion der Betroffenen. Durch die Bewegung in der Wohngegend, um Alltagstätigkeiten nachzugehen, aber auch durch soziale Aktivitäten eignen sich die Personen ihre Wohnumgebung an. Sie können Chancen, neue soziale Kontakte aufzubauen, wahrnehmen und dadurch die eigene psychosoziale Gesundheit pflegen und verbessern. (vgl. GD: min. 08:00-09:14, 10:30-12:17)
In den Interviews wurde deutlich, dass die Beziehung zu den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern auch auf emotionaler Ebene von großer Relevanz war. Die Bezugsbetreuerin und der Bezugsbetreuer wurden jeweils als die eigene Sozialarbeiterin oder der eigene Sozialarbeiter bezeichnet. Lob, Zuspruch und Anerkennung wurden von den Professionistinnen und Professionisten der Sozialen Arbeit in den Einzelgesprächen gefördert und angeboten und verhalfen ihren Adressatinnen und Adressaten dadurch zu einem positiveren Selbstbild und einer Steigerung des Selbstwertgefühls. Durch die Gespräche fühlten sich die interviewten Personen in ihren Bedürfnissen ernst genommen und nahmen Hilfe an. Wesentlich im Erfolg der Beratungssituationen scheint das Vertrauen zu den Klientinnen und Klienten zu sein. Fehlt das Vertrauen, wird die Zusammenarbeit erschwert, wie eine der Interviewpartnerinnen beschreibt, nachdem ein Wechsel im Team des BeWos zu einem Bezugsbetreuungswechsel führte. Nach dem Wechsel fiel es der Bewohnerin schwer, der neuen Sozialarbeiterin zu vertrauen. Erst als wieder Vertrauen aufgebaut war, konnte die Betreuung wie zuvor fortgesetzt werden. (vgl. IV 2: Z. 57-62, 247-263, IV 3: Z. 241-249, 203215, IV 4: Z. 986-1006, 1017-1041)
Der Aufenthalt im BeWo wurde von dieser vertrauensvollen, professionellen Beziehung dominiert. Hier ergab sich die Möglichkeit für die Betreuten, Wohnen und die Verwaltung der eigenen finanziellen Ressourcen neu zu erlernen. Der Raum war weniger reglementiert, als dies in Notschlafstellen und anderen besuchten Einrichtungen der Fall ist. (vgl. IV 2: Z. 691-695, IV 4: Z. 619-630, 757-770). Als Ergebnis kann betont werden, dass die professionelle Beziehung zu den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern für die Stabilisierung von hoher Relevanz ist, da durch diese Beziehung das Selbstwertgefühl der betreuten Personen gestärkt wird.
9. Fazit
In den einzelnen Verläufen in und aus der Wohnungslosigkeit wird die Prozesshaftigkeit von In- und Exklusion deutlich. Wir können die Tendenz erkennen, dass eine Stabilisierung des Wohnverhältnisses einen positiven Einfluss auf andere Lebensbereiche, wie die Stabilisierung des sozialen Umfelds, Gesundheit, finanzielle Absicherung und die Selbstwirksamkeit, hat.
Bezogen auf das soziale Umfeld zeigt sich für uns, dass in der Phase der akuten Wohnungslosigkeit oder bereits davor Kontakte und Beziehungen von Instabilität geprägt waren, teilweise sogar abgebrochen wurden. Daneben wirken sich die vorhandenen Suchterkrankungen und psychische Belastungen auf die soziale Eingebundenheit negativ aus und verstärken die Dynamiken der Lebensbewältigung der Wohnungslosigkeit. In dieser Zeit werden von den Betroffenen zunehmend individuelle Stigmatisierungserfahrungen gemacht, die sich einerseits auf die Annahme von professioneller Unterstützung auswirken, andererseits maßgeblichen Einfluss auf das Naheverhältnis zur Szene haben. Stigmatisierungsprozesse führen in dieser Hinsicht wieder zu Abgrenzungsprozessen zur „zugehörigen“ Szene. Zudem wird der Zugang zu Institutionen der Sozialen Arbeit von Unsicherheiten und Vorurteilen beeinflusst, wodurch auch die generelle Annahme von Unterstützungsmöglichkeiten gehemmt ist. In Anlehnung an den gesellschaftstheoretischen Ansatz von In- und Exklusion wird hier die gesellschaftliche Rolle verdeutlicht. Exklusion ist verflochten mit Zuschreibungs- und Stigmatisierungsprozessen, welche gesellschaftlich geformt werden und unmittelbaren Einfluss auf die Soziale Arbeit beziehungsweise deren Adressatinnen und Adressaten haben. So wird meist erst bei Verschärfung der Wohnungslosigkeit und fortgeschrittener sozialer Isolation professionelle Hilfe angenommen.
Erst mit unmittelbarem Kontakt zu Institutionen, so lässt sich auch am Beispiel des BeWos der Suchthilfe Wien nachweisen, gelingt es, Vorurteile abzubauen und Unterstützungsleistungen anzunehmen. Akzeptanz und Anerkennung sind in der Bezugsbetreuung wichtige Themen, die weit über Aspekte der materiellen Sicherung hinausgehen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass mit zunehmender Stabilisierung der Wohnsituation, die im BeWo der Suchthilfe Wien beginnt, schließlich eine positive Korrelation zu anderen Aspekten der Lebenswelten der Betroffenen einhergeht.
Weiterführend zeigt sich für uns, dass die betroffenen Personen erst aus einer Krise heraus Institutionen der Sozialen Arbeit aufsuchen, daraus ergibt sich eine besondere Herausforderung für präventive Maßnahmen in der Sozialen Arbeit. Zudem ist es, wie zuvor skizziert, Aufgabe der Profession, Stigmatisierung entgegenzuwirken. Ein sensibler Umgang mit Debatten um stigmatisierte Menschen darf nicht nur von Medien und der Öffentlichkeit verlangt werden, sondern muss auch von der Sozialen Arbeit wahrgenommen werden. Das bedeutet, dass es einer kritischen Auseinandersetzung der eigenen Rolle im sozialpolitischen Bereich bedarf, welche die Entwicklungen der letzten Jahre zu einer Politik der Zwangs- und Normierungsmaßnahmen öffentlich aufzeigt und sich damit auch klar parteiisch auf die Seite der Betroffenen stellt, um ein Sprachrohr für jene Menschen zu sein, die sich selbst nur noch schwer angemessen in die Gesellschaft einbringen können. (vgl. Malyssek/Störch 2009: 209ff)
Anhand der Forschungsergebnisse lässt sich auch die Bedeutung von Wohnen hervorheben. Aus Perspektive der InterviewpartnerInnen scheint über das gesicherte Wohnverhältnis hinaus, das eigenständige Wohnen eine zentrale Rolle bzw. ein Ziel einzunehmen, das im Spannungsfeld von Selbstwirksamkeit und Normalisierungstendenzen steht. Die Betreuung im BeWo sowie die professionelle Beziehung zu den Sozialarbeiter_innen stellt zwar einen wichtigen Aspekt in den Verläufen dar, der Weg bis zum sicheren Wohnen im BeWo und dem anschließenden eigenständigen Wohnen ist allerdings ein hochschwelliger, von Brüchen gekennzeichneter Prozess. Die Frage, die sich hier auftut, ist jene nach niederschwelligem gesicherten Wohnen und wie dieses ermöglicht werden kann. In Bezug darauf könnten in weiter Folge Housing-First-Modelle näher analysiert werden und ins Zentrum der Diskussion rücken. Aus den Verläufen in und aus der Wohnungslosigkeit ergibt sich zwar, dass der Auftrag der Sozialen Arbeit nicht nur in der Bearbeitung der Wohnungssicherung liegt. Dennoch stellt ein stabiles bzw. eigenständiges Wohnverhältnis eine „Grundvoraussetzung“ zur Förderungen von Inklusionsprozessen dar.
Verweise
1 Auch Goffman kommt in seiner Forschung zu Stigma zu dem Schluss, dass eben jener offene Umgang als letzte und reifste Phase deklariert werden kann. (vgl. Goffman 1996: 128)
2 Der Begriff der „Szene“ war in allen Interviews präsent. Bezeichnet werden hiermit (verbindliche und unverbindliche) Netzwerke von Personen, die sich im öffentlichen Raum, an bestimmten Plätzen aufhalten und organisieren. Neben Themen wie Konsum legaler und illegaler Substanzen und Sucht stehen auch Vernetzung zu Unterkünften und anderen Unterstützungsleistungen im Vordergrund. Die Szene wird jedoch klar getrennt von zuverlässigen Beziehungen.
Literatur
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Castel, Robert (2008): Die Fallstricke des Exklusionsbegriffs. In: Bude, Heinz / Willisch, Andreas (Hg.): Exklusion. Die Debatte über die „Überflüssigen“. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 69-86.
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Kautz, Nicole (2010): Wohnungslosigkeit bei Frauen. Skizze eines Gesellschaftsproblems. Marburg: Tectum Verlag.
Kronauer, Martin (2013): Inklusion/Exklusion: Kategorien einer kritischen Gesellschaftsanalyse der Gegenwart. In: Ataç, Ilker / Rosenberger, Sieglinde (Hg.): Politik der Inklusion und Exklusion. Wien: Vienna University Press, S. 21-34.
Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.
Malyssek, Jürgen / Störch, Klaus (2009): Wohnungslose Menschen. Ausgrenzung und Stigmatisierung. Freiburg im Breisgau: Lambertus Verlag.
Mayring, Philipp (2003): Qualitative Inhaltsanalyse. In: Flick, Uwe / Kardorff, Ernst von / Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 468-475.
Punz, Judith (2015): Perspektiven intersektional orientierter Sozialer Arbeit. Dimensionen des Umgangs mit Differenzkonstruktion und Diskriminierung in der Praxis Sozialer Arbeit. In: soziales_kapital, 13 (2015), S. 63-74. http://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/365/611.pdf (23.2.2017).
Walgenbach, Katharina (2014): Heterogenität-Intersektionalität-Diversity: in der Erziehungswissenschaft. Opladen/Toronto: Budrich.
Quellen
IV1 – Interview 1
IV2 – Interview 2
IV3 – Interview 3
IV4 – Interview 4
GD – Gruppendiskussion mit dem Leiter, der Sozialarbeiterin und dem Sozialarbeiter des Betreuten Wohnens der Suchthilfe Wien.
Über die AutorInnen
Felix Gruber
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Katrin Hierzer, BA
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Teresa Christina Röck
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Yasmin Kronheim
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