soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 17 (2017) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/504/915.pdf


Marlene Panzenböck:

Lebenserfahrungen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen während des Asylverfahrens


1. Einleitung
Im Jahr 20151 waren über 98.400 minderjährige Kinder und Jugendliche weltweit auf der Flucht. Sie verließen ihre Heimatländer und ihre Familien oder wurden von diesen getrennt. Nach oft traumatischen Erlebnissen in ihren Herkunftsländern oder auf den langen und gefährlichen Fluchtwegen kamen 8.277 dieser jungen Menschen in Österreich, ihrer „neuen Heimat“, an. (vgl. UNHCR 2016: 29, BM.I 2015: 10ff) Mit welchen Herausforderungen sich die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF) hier konfrontiert sehen, konnten viele nicht abschätzen. Diese Herausforderungen sollten im Zuge einer Masterarbeit an der FH Campus Wien genauer untersucht werden. Mittels qualitativen Erhebungsmethoden wurden bezeichnende Lebenserfahrungen von acht (ehemaligen) UMF während des Aufenthalts in Österreich erhoben. Alle Jugendlichen besuchten einen Basisbildungs- bzw. Pflichtschulabschlusskurs im Wiener Projekt „PROSA-Projekt Schule für Alle!“. Untersuchungsgegenstand war die Bedeutung des Zugangs zu Bildung für junge Menschen mit Fluchterfahrungen und welche Möglichkeiten dieser für die Soziale Arbeit mit UMF bzw. jungen Menschen mit Fluchterfahrung haben kann.


2. Empirische Erhebungen

Ziel der Forschung war es, bezeichnende Lebenserfahrungen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge während des Asylverfahrens bzw. in den darauf folgenden Monaten bzw. Jahren, bis teilweise zum Pflichtschulabschluss, zu identifizieren. Bezeichnende Lebenserfahrungen sind dabei all jene, die von den Interviewten als „wichtig und prägend benannt werden, in positiver und negativer Form.“„die sich außerhalb ihres Heimatlandes aufhalten und von beiden Eltern oder den bisherigen Sorgeberechtigten getrennt sind,“ (Separated Children in Europe Programme 2010: 11) und den Status des Flüchtlings (vgl. UNHCR 2013) anstreben.

Weiterführend wurde wissenschaftlich untersucht, welche Bedeutung Bildung für die jungen Menschen in ihren Situationen hat und wie der selbstermächtigende Charakter von Bildung für die Soziale Arbeit mit UMF genutzt werden kann.


2.1 Zugang zum Feld und Auswahl der InterviewpartnerInnen

Durch die berufliche Tätigkeit der Forscherin als Sozialarbeiterin bei „PROSA-Projekt Schule für Alle!“ (vgl. PROSA o.J.), ein Schulprojekt für junge Menschen mit Fluchterfahrung in Wien, bestand der Zugang zum Forschungsfeld. Das breite Kontextwissen sowie die Kenntnis der SchülerInnen ebneten den Weg für die Forschungsarbeit. Die sogenannte „Orientierungsphase“ mit der Erkundung des Forschungsfeldes und der Kontaktaufnahme mit feldinternen Personen (vgl. Froschauer/Lueger 2003: 54) fand bereits im Arbeitsalltag der Forscherin, im KlientInnenkontakt, in Beratungsgesprächen und im Austausch mit MitarbeiterInnen statt.

Weiters wurde die Strategie des „gezielten“ (purposive) Samplings von Patton (2002) und Kleining (1982) gewählt, welche mittels einer maximalen Variation im Sample darauf abzielt, zwar wenige, aber möglichst unterschiedliche Fälle einzubeziehen, um darüber die Variationsbreite und Unterschiedlichkeit, die im Feld enthalten ist, zu erschließen. (vgl. Flick 2011: 165)

Die ausgewählten InterviewpartnerInnen waren alle junge Menschen, die aus ihren Heimatländern geflohen sind. Zum Zeitpunkt der Antragstellung auf „internationalen Schutz“ in Österreich waren sie minderjährig und unbegleitet. Darüber hinaus besuchten sie während des Erhebungszeitraums das Projekt PROSA. Sie wurden nach konkreten inhaltlichen statt statistischen Kriterien und nach ihrer Relevanz, die sich aus der Analyse des sozialen Feldes ergab, statt nach ihrer Repräsentativität ausgewählt. (vgl. ebd.: 163, Froschauer/Lueger 2003: 55) Dadurch sollte sich eine „maximale strukturelle Variation zur Bestimmung der Reichweite von Aussagen und zur Untersuchung der systeminternen Differenzierungen“ (Froschauer/Lueger 2003: 55) ergeben. Die maximale strukturelle Variation wurde in Bezug auf Alter, Geschlecht, Herkunft, Aufenthaltsstatus, Zeit des Aufenthalts in Österreich, Wohnsituation, finanzielle Situation, Schullaufbahn etc. vorgenommen. (vgl. Panzenböck 2014: 63) Sieben der acht InterviewpartnerInnen waren junge Männer, ebenso war eine Frau unter den Interviewten. Zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in Österreich waren die Befragten zwischen vierzehn und siebzehn Jahren alt. Manche lebten seit zwei Jahren in Österreich, es gab aber auch InterviewpartnerInnen, die bereits sieben Jahre hier lebten. Sie wurden in sehr unterschiedlichen Ländern geboren, denen eine weite Entfernung zu Österreich gemeinsam ist. Vier der Jugendlichen kamen aus Afghanistan. Junge Menschen aus Afghanistan stellen mitunter eine der größten Gruppe an unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Österreich und weltweit dar. (vgl. BM.I 2015: 11) Die anderen vier InterviewpartnerInnen kamen aus Syrien, Nigeria, Tibet und Pakistan. Sie kamen alle alleine, ohne Familien, nach Österreich und durchliefen bzw. durchlaufen aktuell ein Asylverfahren. Vier der Jugendlichen befanden sich zum Erhebungszeitpunkt im Asylverfahren und warteten auf eine Antwort über ihren Asylbescheid. Die anderen besaßen bereits einen Aufenthaltstitel – Asyl nach der GFK, subsidiären Schutz oder eine Aufenthaltsberechtigung plus nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz. Ihre finanziellen Situationen sowie Wohnsituationen gestalteten sich unter anderem aufgrund ihres Aufenthaltsstatus sehr unterschiedlich. Einige von ihnen erhielten Geld aus der Grundversorgung und wohnten in Grundversorgungseinrichtungen, andere bezogen Mindestsicherung und wohnten privat oder wurden durch soziale Einrichtungen unterstützt. Die Hälfte der Jugendlichen wohnte in Niederösterreich und der andere Teil in Wien. Alle Jugendlichen hatten gemeinsam, dass sie wie erwähnt bei PROSA einen Basisbildungs- oder Pflichtschulabschlusskurs besuchten. (vgl. Panzenböck 2014: 72f)


2.2 Forschungsmethodischer Zugang

Eine Querschnittserhebung wurde mithilfe leitfadengestützter Interviews vorgenommen und die Themenanalyse nach Froschauer/Lueger (2003) diente als Auswertungsinstrument. Gleichzeitig wurde ein triangulativer Forschungsansatz gewählt, mit einer Methodentriangulation aus Interviews und Erhebungen durch ein soziales Diagnoseinstrument, die Biografielinie. Die angewandte Biografielinie orientiert sich vom Grundgedanken an biografischen Diagnoseinstrumenten, in denen biografische Daten erfasst werden, welche Aufschluss für das Verständnis von Personen geben. Entscheidend ist bei der Biografielinie, dass die Jugendlichen keine objektiv messbaren biografischen Ereignisse einzeichnen müssen, sondern dass gerade die subjektive (Be-)„Zeichnung“ der Lebensereignisse mit einer Visualisierung des Bedeutungsgrades (positiv als auch negativ), den aussagekräftigen Moment darstellt. (vgl. Biografielinien im Anhang) Durch den Fokus auf die subjektive Biografiedarstellung kann es unter anderem aber dazu kommen, dass wichtige Ereignisse oder Phasen von den Jugendlichen als solche nicht interpretiert werden und daher nicht vordergründig sichtbar werden. Dadurch ist es sehr wichtig, das Instrument der Biografielinie mit Nachfragen zu verknüpfen, was auch für die ZeichnerInnen selbst sehr aufschlussreich sein kann.

Die Biografielinie diente als Einstieg in die Interviews. Einerseits sollte sie den Jugendlichen ermöglichen, sich in Ruhe zeichnerisch, vorerst ohne weitere Fragen, mit der Zeit seit ihrer Ankunft auseinanderzusetzen. Andererseits sollte es ihnen helfen, Erlebnisse, die sie anfangs vielleicht nicht benennen würden, zeichnerisch auszudrücken und infolge zum Erzählen anregen. Die Orientierung an der biografischen Linie bot der Forscherin Möglichkeiten für weiterführende Fragen. Das Gespräch entlang der Biografielinie ging somit fließend zu den Leitfragen der problemzentrierten Interviews über. Problemzentrierte Interviews stellen ein halbstrukturiertes, flexibles Erhebungsinstrument mit einer Mischform zwischen Erzählung und themenrelevanten Fragen dar, um auf ein bestimmtes Thema hin zu fokussieren. (vgl. Gahleitner 2005: 42) Die Interviews wurden anfangs möglichst offen gestaltet, um die InterviewpartnerInnen zum Erzählen anzuregen und sie relevante Themen benennen zu lassen. Mittels eines vorbereiteten Leitfadens wurden danach konkrete Themenbereiche abgefragt, die für die Beantwortung der Forschungsfrage relevant waren. Eine Herausforderung in den Interviews bestand darin, die Hemmungen der Jugendlichen bestmöglich abzubauen, sich auf Deutsch auszudrücken. Die Erzählungen in der Zweitsprache Deutsch waren für die Jugendlichen mit einer großen Anstrengung verbunden und wahrscheinlich konnten durch die Sprachbarriere nicht alle Geschichten in der Form erzählt werden, wie dies die Jugendlichen gerne getan hätten. Zudem galt zu beachten, dass manche Themenbereiche möglicherweise auch zu schmerzvoll sind, um darauf ausführlich zu antworten.

Bedingt durch die Interviewergebnisse wurde die Auswertungsmethode der Themenanalyse nach Froschauer/Lueger (2003) gewählt, da die InterviewpartnerInnen auf die gestellten Fragen teilweise nur knapp antworteten. Dies lässt sich vermutlich zu einem großen Teil dadurch begründen, dass die Interviews wie zuvor erläutert nicht in der Muttersprache der Befragten durchgeführt wurden. Mittels der Themenanalyse können auch knappe Textstellen berücksichtigt werden.


3. Bezeichnende Lebenserfahrungen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Die bezeichnenden Lebenserfahrungen der UMF weisen eine große Bandbreite auf. Die Jugendlichen durchlaufen zahlreiche Stationen während ihres Asylverfahrens in Österreich, die sehr prägend für ihr Leben in Europa sind und sollen nachfolgend komprimiert dargestellt werden.


3.1 Ankunft in Österreich

Die Zeit der Ankunft im Aufnahmeland und der Aufenthalt in der Erstaufnahmestelle Traiskirchen sind überwiegend negativ gezeichnet für die jungen Menschen und werden als schwere Zeit beschrieben. Die Neuorientierung in Österreich und das Getrenntsein von den Angehörigen lösen Gefühle von großer Einsamkeit und Angst bei den Jugendlichen aus. Die enttäuschten Erwartungen über das Leben im Zielland und die rechtlichen Reglementierungen, wie das Arbeitsverbot während des Asylverfahrens und keine Möglichkeit zum Schulbesuch, prägen ein negatives Bild. Zu berücksichtigen ist an dieser Stelle, dass die Lebenserfahrungen vor der Flucht sowie die beschwerlichen Fluchtwege die jungen Menschen ebenso stark geprägt und teilweise traumatisiert haben. Bemerkenswert sind deshalb vor allem die positiven Beschreibungen der jungen Menschen. Besonders wertvoll wird es in dieser Zeit erlebt, vertraute Menschen aus der Heimat zu treffen. Auffallend ist, dass bei der Ankunft in Österreich niemand davon erzählt, das Gefühl zu haben, in Sicherheit zu sein. Möglicherweise verhindern die Bedingungen und die Umgebung, in der sich die Jugendlichen befinden, die Entstehung dieses Gefühls. (vgl. Panzenböck 2014: 77-85)


3.2 Asylverfahren

Das darauf folgende Asylverfahren mit der Einvernahme vor dem ehemaligen Bundesasylamt2, Altersfeststellungen, dem Warten auf den Asylbescheid bzw. die Bescheiderteilung stellen ebenfalls bezeichnende Erfahrungen im Leben der UMF dar. Bei der Einvernahme im Asylverfahren sind die Jugendlichen großem Stress, unfreundlicher Behandlung bzw. Einschüchterung und keiner Rücksichtnahme bei der Fragebeantwortung ausgesetzt.

„Das Interview war schlecht. Die Person, die mich interviewt hat, hat viel Stress gemacht. Es hat sehr lange gedauert und sie hat nicht gesagt, trink einmal ein Glas Wasser. Sie hat viel gefragt. Sie war sehr streng. (…) Es war ein großer Stress und ich habe ein bisschen Angst gehabt.“ (Interview Karim, vgl. Panzenböck 2014: 89)

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich ein großer Teil der Jugendlichen durch die DolmetscherInnen unterstützt fühlte, die eine neutrale ÜbersetzerInnenrolle einnehmen sollte. Für die jungen Menschen sind sie an dieser Stelle jedoch das Sprachrohr für alles, das sie sagen möchten, aber nicht direkt kommunizieren können. Abgesehen von der Unterstützung durch die DolmetscherInnen und AnwältInnen werden ausschließlich intrinsische Schutzmechanismen beschrieben. Das darauf folgende Warten auf den Asylbescheid gestaltet sich als zehrend. Die Wartezeit beträgt zwischen einigen Monaten und mehreren Jahren. Die Ungewissheit über die Zukunft und den Ausgang des Verfahrens und den damit verbundenen Familiennachzug sowie die Exklusion aus Bildungsmaßnahmen während des Wartens werden als besonders negativ empfunden. Das durch die bestehende Ungewissheit nicht befriedigte Grundbedürfnis nach Sicherheit (vgl. Maslow 1966), kann auch während des Wartens auf den Asylbescheid nicht befriedigt werden. Die jungen Menschen mit Fluchterfahrung wissen nicht, ob sie hier bleiben dürfen, können momentan aber auch nirgends sesshaft werden. Nichtsdestotrotz schaffen die Jugendlichen, ihr Leben zu gestalten. Günstige Bewältigung der Situation finden sie in seelischer Stabilität und der Aufrechterhaltung bzw. dem Aufbau eines adäquaten sozialen Lebens. Die Jugendlichen besitzen für diese Zeit erstaunliche Strategien, um mit der Situation umgehen zu können. Vor allem einer Beschäftigung nachgehen zu können und positiv in die Zukunft zu blicken, wirkt entlastend. Deutsch zu lernen sowie in die Schule gehen zu können, ist für die Jugendlichen sehr wichtig. Auch innere Haltungen, wie die Gewissheit in Österreich bleiben zu wollen bzw. eine akzeptierende Haltung der Situation gegenüber, erleichtern die Zeit des Wartens. Aber auch Abwehrmechanismen wie die Verdrängung kommen zum Einsatz.

Jugendliche, die einen positiven Aufenthaltstitel erhalten, beschreiben dies als wichtiges Lebensereignis. Entgegengesetzt dazu wird auch die Nachricht über einen negativen Asylbescheid als einschneidendes Erlebnis empfunden. Ein positiver Bescheid würde das Leben der UMF einfacher machen, ihnen mehr Chancen und bessere Zukunftsperspektiven verschaffen und befriedigt das Grundbedürfnis nach Sicherheit. (vgl. Panzenböck 2014: 89-98)


3.3 Wertungen „von außen“

Begleitet sind die negativ wahrgenommenen Lebenssituationen der Jugendlichen durch Wertungen von außen. Die jungen Menschen erleben rassistische und diskriminierende Erfahrungen von Seiten der Behörden und der Aufnahmegesellschaft. Sie erzählen von vermehrten Polizeikontrollen aufgrund ihres fremden Aussehens, schlechteren Behandlungen und abgesprochener Glaubwürdigkeit aufgrund ihrer Herkunft. Ebenso haben manche das Gefühl, unter dem Verdacht zu stehen, böse Absichten zu haben oder ein Verbrechen begehen zu wollen.

„Es gibt österreichische Leute, die nicht sehr nett sind. Sie haben viel über Ausländer gesprochen und viel über Afghanistan gesprochen. Sie haben gesagt, dass das schlimme Jungen sind. Wenn die Leute so reden, dann sollen sie bis morgen reden, ich kann daran nichts ändern. Wenn sie sehr schlimme Sachen sagen, dann sage ich „Halt die Fresse!“ (…) Manche Leute schimpfen. Wenn die Leute schlechte Sachen sagen, dann fühle ich mich einsam. Es gibt viele Ausländer, wir sind auch Menschen. Ausländer sind keine Tiere. Für mich ist nicht das Land wichtig, für mich ist der Mensch wichtig.“ (Interview Sayed, vgl. Panzenböck 2014: 104f)

Diskriminierende Erfahrungen lösen bei den jungen Menschen Gefühle der Traurigkeit, Machtlosigkeit, Wut und Einsamkeit aus. Trotz zahlreicher Erzählungen gibt die Hälfte der Jugendlichen bei der konkreten Frage nach diskriminierenden Erfahrungen an, noch keine schlechten Erlebnisse gemacht zu haben. Sie beziehen ihre Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen nicht auf sich selbst. Mögliche Erklärungsansätze hierfür können Abwehrmechanismen wie eine Abspaltung der Erlebnisse sein, da es zu schmerzvoll wäre, die Erfahrungen auf sich selbst zu beziehen. Außerdem kann es (re-)traumatisierend sein, über die gemachten Erlebnisse wieder zu sprechen, dafür benötigt es einen Rahmen großer Sicherheit. Es kann auch als übergriffig wahrgenommen werden, über die Erfahrungen erzählen zu müssen. Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass es den Betroffenen leichter fällt, mit Menschen, die ebenfalls Rassismuserfahrungen gemacht haben, darüber zu sprechen. Der Projektmitgründer von PROSA, Sina Fahramandnia, erläutert in einem Gespräch, dass auch kulturell bedingte Gründe ein Erklärungsansatz sein können und die jungen Menschen nicht „talab char“ erscheinen wollen, was im Persischen so viel wie „undankbar“ bedeutet. Nicht zuletzt besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass tatsächlich keine negativen Erfahrungen gemacht wurden. (vgl. Panzenböck 2014: 102-105)


3.4 Alltag in der Lebenswelt

Ihren Alltag verbringen die UMF zu einem großen Teil in Grundversorgungseinrichtungen bzw. darüber hinaus in privaten Unterkünften. In den betreuten Wohnheimen ist das Zusammenleben durch zahlreiche Regeln bestimmt, da viele Menschen eng zusammen wohnen. Das Alltagserleben stellt ebenfalls eine bezeichnende Erfahrung für die Jugendlichen dar. Die Gemeinschaftsunterkünfte mit hohen BewohnerInnenzahlen, teilweise schlechter Infrastruktur und großem Konfliktpotenzial im Zusammenleben sowie die prekäre finanzielle Situation stellen die jungen Menschen vor große Herausforderungen. Während des Asylverfahrens erhalten die Jugendlichen 40 Euro Taschengeld und 10 Euro Freizeitgeld pro Monat plus Verpflegung durch die Grundversorgungseinrichtung. (vgl. GVV 2017: Art. 9, Z 4,12) Dabei bleibt erfahrungsgemäß kein Geld mehr übrig, um z. B. mit FreundInnen etwas trinken zu gehen, ein Handy, Kleidung oder Schuhe zu kaufen. Die prekären finanziellen Verhältnisse sind schwer für die jungen Menschen. Sie haben kaum ein soziales Netz, auf das sie in finanziellen Notsituationen zurückgreifen können. Auch für die Alltags- und Freizeitgestaltung ist die finanzielle Deprivation der Jugendlichen schwierig. Es gibt kaum konsumfreie Orte, an denen sie sich aufhalten können. Darüber hinaus ist es ihnen nicht möglich, in der gleichen Form am sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, wie dies die Mehrheitsgesellschaft kann, was automatisch zu Exklusion und Isolation führt. Als unterstützende Ressourcen in ihrem Alltag, erleben die Jugendlichen teilweise ihre BetreuerInnen in den Wohnquartieren, obwohl sie sich auch von ihnen mehr Zuwendung und Unterstützung wünschen. Auch Sport- und Freizeitaktivitäten erleichtern den Alltag der jungen Menschen. (vgl. Panzenböck 2014: 106-114)


3.5 Physisches und psychisches Befinden

Die gesundheitliche Verfassung der Jugendlichen ist sehr unterschiedlich. Körperlich bezeichnen sie sich als überwiegend gesund. Von mehreren Jugendlichen werden Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, Ohrenschmerzen sowie Schmerzen am ganzen Körper beschrieben. Ob die beschriebenen Krankheitsbilder auch psychosomatisch bedingt sind, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Vor allem Kopfschmerzen werden aber beispielsweise mit plagenden Gedanken in Zusammenhang gebracht. Insgesamt lässt sich als sehr positiv bewerten, dass trotz der mannigfaltigen Belastungen der Jugendlichen, diese einen überwiegend robusten Gesundheitszustand aufweisen. Die eigene Bewertung des körperlichen Zustandes als „gesund“ stellt eine große und gesundheitsfördernde Ressource dar. Das psychische Befinden ist jedoch bei allen stark belastet. Diesen Umstand belegt auch die Literatur. (vgl. Brunett/Peel 2001: 545) Über explizite psychiatrische Diagnosen gibt diese Forschungsarbeit keinen Aufschluss. Weiters wurden hauptsächlich die Einflussfaktoren auf das psychische Befinden im Aufnahmeland betrachtet. Aus sozialdiagnostischer Sicht wirken sich hier vor allem das Getrenntsein von der Familie, die Sehnsucht und Sorge um diese, Schlaflosigkeit, große Traurigkeit, vereinnahmende Gedanken sowie benachteiligende Umgebungsfaktoren stark belastend auf das psychische Wohlergehen der unbegleiteten Minderjährigen aus. Die Jugendlichen beschreiben körperliche Beschwerden, großen Stress, Zukunftspessimismus und Hoffnungslosigkeit, Angst und Identitätskrisen.

„Ich bin oft traurig und wenig glücklich. (…) Momentan bin ich sehr traurig, ich vermisse meine Familie. (…) Sie sind auch Ausländer, sie sind in Pakistan und haben keinen Pass. Ich habe auch keinen Pass. Mein kleiner Bruder und meine kleine Schwester, sie haben keine Zukunft. Sie können nicht in die Schule gehen und auch nicht irgendwo anders hin. Ich bin der älteste Sohn, aber ich weiß nicht, was ich machen soll. (…) I don’t have any nationality. I don‘t know where I am from.“ (Interview Karim, vgl. Panzenböck 2014: 117f)

Der Großteil der Jugendlichen beschreibt jedoch eine Verbesserung ihres psychischen Befindens im Laufe der Zeit gegenüber der Ankunft in Österreich. Zur Verbesserung tragen soziale Kontakte, Erfolge wie Schulabschlüsse und Spracherwerb sowie Ablenkung durch Beschäftigung bei.

Neben den belastenden Lebenssituationen nehmen traumatische Erfahrungen in den Heimatländern und auf der Flucht großen Einfluss auf die psychischen Belastungen der Jugendlichen. Keine schutzgebenden Rahmenbedingungen sowie fehlendes Psychotherapieangebot limitieren die Möglichkeiten einer Verbesserung der psychischen Situation. (vgl. Panzenböck 2014: 114-121)


3.6 Unterstützungsangebote

Soziale Kontakte und wichtige Bezugspersonen sowie das Erfahren von Unterstützung tragen maßgeblich zu einer Besserung des individuellen Befindens der Jugendlichen bei. Der überwiegende Teil der InterviewpartnerInnen hat das Gefühl, Unterstützung zu bekommen, würde sich aber noch mehr Hilfestellung wünschen. Der Anteil jener, die Unterstützung vorwiegend durch private Netzwerke erfahren, ist dabei gleich hoch wie der Anteil jener, die Unterstützung durch professionelle Netzwerke erfahren. FreundInnen, Buddys bzw. PatInnen, die Kirchengemeinde und Familienangehörige zählen zu privaten Unterstützungsnetzwerken. Das professionelle Netzwerk setzt sich aus Betreuungseinrichtungen, PROSA, AnwältInnen, SozialarbeiterInnen in Beratungsstellen etc. zusammen. Trotz gewährleisteter Anbindung an professionelle Netzwerke fühlen sich die Jugendlichen teilweise alleine gelassen. (vgl. Panzenböck 2014: 121-125)

„Ich habe das Gefühl, ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann. Ich möchte gerne mit jemandem reden, dann würde ich mich gut fühlen nach ein paar Monaten.“ (Interview Sayed, vgl. Panzenböck 2014: 122)

Neben den unterstützenden Netzwerken weisen UMF eine Reihe eigener Bewältigungsstrategien auf, die zentralsten sind Schulbesuch und Spracherwerb. Die Gründe für die Wichtigkeit der Schulausbildung ist die Möglichkeit einer dadurch besseren Zukunftsperspektive, zudem stellt sie eine Beschäftigung dar und gestaltet einen kontinuierlichen Tagesablauf. Der Schulbesuch und das Erlernen der deutschen Sprache helfen, sich in die Gesellschaft integrieren zu können, mit Leuten in Kontakt treten und sprechen zu können. Die Schule mit den SchülerInnen und LehrerInnen nimmt den Jugendlichen gleichzeitig das Gefühl der Einsamkeit und des Alleinseins. Weiters bieten die Schule und das Lernen die Möglichkeit, Erfolge zu erleben, die selbstermächtigend wirken. Andere protektive Faktoren sind Orientierung gebende Zukunftspläne, innere Haltungen der Hoffnung und Zuversicht, Verdrängungsmechanismen, Sport und Freizeitaktivitäten sowie Kontakt zur Familie im Heimatland. (vgl. Panzenböck 2014: 121-130)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die jungen Menschen trotz ihrer Lebenssituationen, oder gerade deshalb, beachtenswerte Bewältigungsstrategien entwickelt haben. Heinz Fronek (2010: 173) liefert dazu einen Erklärungsansatz. Die erstaunliche Belastbarkeit und die bemerkenswerten Copingstrategien der UMF sieht er darin begründet, dass Familien oft das Kind der Familie auf die Flucht schicken, dem sie die große Herausforderung zutrauen, das bereits gelernt hat, Verantwortung zu übernehmen und eigenständig zu handeln.


4. Bildung

Als zentral stellt sich das Thema Bildung während den Interviewsituationen dar. Der Spracherwerb sowie der Zugang zu Bildung und die Möglichkeit, eine Schule besuchen zu können, sind für die Jugendlichen, wie zuvor skizziert, überaus wichtig. Dies beeinflusst maßgeblich ihre Zukunftspläne, in denen sie überwiegend über weiterführende Ausbildungen und das Erlernen eines Berufes sprechen. Minderjährige AsylwerberInnen in der Grundversorgung haben Anspruch auf 200 Deutschkursstunden. (vgl. GVV 2017: Art. 9, Z.13) Diese Stundenanzahl ist jedoch nicht ausreichend, vor allem nicht um den Pflichtschulabschluss positiv zu absolvieren. Darüber hinaus gibt es nicht ausreichend Kursplätze. Das unzureichende Bildungsangebot behindert den Lernerfolg. Neben den Deutschkursstunden fällt es den jungen Menschen schwer, die deutsche Sprache im Kontakt mit Personen mit Deutsch als Muttersprache üben und anwenden zu können, da kaum Berührungspunkte zwischen den beiden Gruppen bestehen.

„Lernziele und -fortschritte sind auch dann schwer erreichbar, wenn Lernende keine Möglichkeiten haben die erlernte Sprache mit deutschsprachigen Personen üben und anwenden zu können.“ (Mobayyen 2013: 46)

Bei den Auswertungen bezüglich des Spracherwerbs der Jugendlichen ist es für alle wichtig und positiv, Deutsch zu lernen und zu beherrschen, teilweise wird es als prägendstes Ereignis seit der Ankunft in Österreich bezeichnet. Außerdem besteht eine Korrelation zwischen der Möglichkeit, einen Deutschkurs besuchen zu können und dem Ansteigen der Biografielinie bzw. der positiven Wahrnehmung einer Lebensphase. (vgl. Panzenböck 2014: 130f) Auch die Literatur belegt den positiven Effekt des Spracherwerbs. Die Fähigkeit des Individuums, sich zu artikulieren, und die (Be-)Achtung des Gesagten durch andere Mitglieder der Gesellschaft ermöglicht die Erfahrung von Anerkennung und lässt Handlungsfähigkeit erfahren. Das Beherrschen der Sprache des Aufnahmelandes setzt Bewältigungsstrategien für den Umgang mit alltäglichen Belastungen frei und bietet die Möglichkeit, sich aus Abhängigkeiten zu lösen und partizipativ an der Gesellschaft teilzunehmen. (vgl. Brandmaier/Ahrndt 2012: 315) Sprachvermögen eröffnet Handlungsräume, es ermöglicht, die Welt aufzunehmen, zu bezeichnen, zu ordnen, auszudrücken und die Wahrnehmungen mit anderen zu teilen. Auch deshalb stehen Sprache, Gesellschaft und Individuum stets in einem interdependenten Verhältnis zueinander. (vgl. Henkelmann 2012: 61f)

Über das Deutschkursangebot hinaus sind der Zielgruppe angepasste Bildungsangebote in der Erwachsenenbildung wie etwa Basisbildung, Pflichtschulabschlusskurse, höhere Bildung sowie Berufsausbildungen wichtig. In diesem Prozess müssen die unterschiedlichen Bildungsbiografien der jungen Menschen beachtet werden. So haben etwa drei der Jugendlichen nie eine Schule besucht und alle anderen, mit Ausnahme von einem Jugendlichen, besuchten zwischen drei und sechs Jahren die Schule. Alle Jugendlichen bezeichnen den Schulbesuch in Österreich als wichtig und geben vereinzelt sogar an, dass sie unter anderem nach Österreich gekommen sind, um hier ihr Menschenrecht auf Bildung wahrnehmen zu können. Der Schulbesuch ermögliche ihnen bessere Zukunftsperspektiven und hat selbstermächtigenden Charakter.

„Seit ich in Österreich in die Schule gehe, ist meine Sprache besser geworden, ich kann mit meinen Problemen besser umgehen, wenn ich mit den Leuten sprechen kann.“ (Interview Hameed, vgl. Panzenböck 2014: 134)

Die erworbenen Kompetenzen erweitern die Handlungsmöglichkeiten der Jugendlichen, steigern ihre Problemlösungskompetenzen und steigern das Selbstvertrauen durch Erfolgserlebnisse im Lernen. Die Schule bietet positive zwischenmenschliche Begegnungen mit Gleichaltrigen und genuinen ÖsterreicherInnen. Darüber hinaus verhilft die Schule zu einer konstanten Tagesstruktur, die Halt und Orientierung bietet, in der sie auch Unterstützung erfahren. (vgl. Panzenböck 2014: 131-136)


5. (Klinische) Soziale Arbeit mit UMF im Bildungskontext

Was die Frage der Konsequenzen für die (Klinische) Soziale Arbeit betrifft, so lassen sich zwischen den bezeichnenden Lebenserfahrungen der jungen Menschen und den Kompetenzen der Sozialen Arbeit Handlungsaufgaben für die Arbeit mit UMF im Bildungskontext formulieren.

Ganz allgemein ist der Aufbau einer tragfähigen Beziehung grundlegend für den Arbeitsprozess mit UMF. Parteilichkeit für die KlientInnen, die echte Anerkennung der großen Ungerechtigkeit in Bezug auf politische und gesellschaftliche Realitäten, die ihnen widerfährt, sowie Transparenz im Arbeitsprozess und emotionale Annahme ihrer Situationen bilden dafür die Grundbausteine. Weiters soll große Achtsamkeit darauf gelegt werden, die Autonomie der KlientInnen möglichst nicht einzuschränken. Eine sorgfältige sozialdiagnostische Abklärung und Ressourcenorientierung unter Einbezug der bio-psycho-sozialen Perspektive ist für den weiteren Arbeitsprozess essenziell. Durch die vielen negativen Erlebnisse der Jugendlichen muss also eine tragfähige Vertrauensbeziehung für den gemeinsamen Arbeitsprozess geschaffen werden. (vgl. Panzenböck 2014: 144)


5.1 Bio-psycho-soziales und Person-in-Environment-Modell

Unter der bio-psycho-sozialen Perspektive der Klinischen Sozialen Arbeit und dem Person-in-Environment-Ansatz müssen bei der Arbeit mit UMF neben innerpsychischen Prozessen auch kontextuelle und sozialstrukturelle Aspekte in der Arbeit berücksichtigt werden. (vgl. Pauls 2013: 43, 64) Gerade bei UMF, die Traumatisierungserfahrungen gemacht haben und sich in benachteiligten, defizitären sozialen und materiellen Umgebungen wiederfinden, die starken Situationsdruck auslösen, wird das Zusammenwirken von biologischen, psychischen und sozialen Faktoren besonders deutlich. (vgl. Brandmaier/Ahrndt 2012: 309) Diese negativen innerpsychischen Faktoren sowie Umgebungsfaktoren nehmen starken Einfluss auf das Leben der Jugendlichen. Neben der defizitären Wirkung kann, wie Silvia Staub-Bernasconi (1995) dies aus einer positiven Perspektive beschreibt, der soziale Kontext Bedingungen zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung darstellen. Hier ist die Aufgabe der Sozialen Arbeit, die Bedingungen zur Lebensbewältigung zu stärken, materielle Existenzsicherung und Räume zur Lebensgestaltung zu ermöglichen. (vgl. Geißler-Piltz/Mühlum/Pauls 2005: 28) SozialarbeiterInnen besitzen hohe Sensibilität für psychosoziale und psychische Probleme. Vor allem bei traumatisierten und stark belasteten Jugendlichen sind Interventionen zur Stabilisierung, Wiedergewinnung von Selbstvertrauen und Stärkung der Schutzfaktoren zentral. Darüber hinaus müssen zu bewältigende Entwicklungsaufgaben, die Förderung der Ressourcen und Potenziale der Jugendlichen und ihre Alltags- und Lebensbewältigung unterstützt werden. Auch die Vernetzung mit Hilfsangeboten, die Abklärung des Therapiebedarfs sowie die enge Zusammenarbeit mit PsychotherapeutInnen sind von Bedeutung. (vgl. Zito/Brandmair 2010: 165)


5.2 Salutogenese

Unter Einbezug des bio-psycho-sozialen Modells und einer Person-in-Environment-Perspektive sollen im Arbeitssetting mit UMF die Arbeitskonzepte des salutogenetischen Ansatzes nach Aaron Antonovsky (1979), die soziale Unterstützung, Resilienzförderung sowie Empowermentkonzepte zur Anwendung kommen. (vgl. Panzenböck 2014: 54)

Das salutogenetische Konzept nach Aaron Antonovsky (1979) sucht nach Settings und Faktoren, die Gesundheit bewahren und stabilisieren und richtet dabei den Fokus auf identitätssichernde Erfahrungen von subjektiver Gestaltungskraft, Lebensstimmigkeit und sozialer Anerkennung. Auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Individuum ist die Ausbildung eines ausgeprägten Kohärenzgefühls als gesundheitsfördernder Schutzfaktor wichtig. Das Kohärenzgefühl geht von einem grundlegenden und überdauernden Gefühl des Vertrauens in die Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit der Lebensereignisse aus und ist ein zentraler Faktor des salutogenetischen Ansatzes. (vgl. Antonovsky 1979: 10) Durch die Stärkung der sozialen und psychischen Kompetenzen der Jugendlichen mithilfe von begleitender psychosozialer Beratung und Sozialtherapie unter Einbezug der Umgebung, können sie in ihrer individuellen Belastungsverarbeitung unterstützt werden und ein gesundheitsförderndes Kohärenzgefühl aufbauen. (vgl. Pauls 2013: 102-108)


5.3 Soziale Unterstützung

Psychosoziale Unterstützung soll bei der Fokussierung auf die Bedingungen der positiven Lebensgestaltung und Lebensbewältigung dazu beitragen, positive Handlungserfahrungen zu ermöglichen, Lebensbedingungen als verstehbar und handhabbar sowie die eigenen Kontrollmöglichkeiten zu erfahren. Materielle Existenzsicherung sowie soziale Unterstützung in Form von emotionaler, sozialer, instrumenteller und informationeller Unterstützung tragen maßgeblich dazu bei. Soziale Netzwerke sollen ausgebaut und förderlich einbezogen werden und die Jugendlichen sollen darüber hinaus lernen, ihre psychologischen Ressourcen zur aktiven Stressbewältigung mobilisieren zu können. (vgl. Pauls 2013: 80ff, Weihnhold/Nestmann 2012: 53ff) Sozialer Unterstützung kommt ein starkes Präventions- und Behandlungspotenzial zu, welches im Arbeitsalltag mit UMF genutzt werden und vor allem auch präventiv eingesetzt werden soll. (vgl. Pearson 1997: 27f)


5.4 Resilienzförderung

Durch begleitende Resilienzförderung erfahren die jungen Menschen eine weitere Stärkung in der Bewältigung ihrer Lebens- und Alltagsbedingungen. Resilienzförderung für Menschen mit Fluchterfahrung muss auf verschiedenen Ebenen ansetzen. Es muss äußere Sicherheit größtmöglich hergestellt werden, in Form von staatlichem Schutz, gerechten asylpolitischen Strukturen etc. Auch die Schule soll dabei einen Ort der Sicherheit darstellen, in dem die Jugendlichen Hilfestellungen bekommen und tragfähige Beziehungserfahrungen, in denen ihnen echte Wertschätzung entgegengebracht wird, erleben. Im Sinne der Resilienzförderung soll die Schule auch als transitorischer Raum dienen, in dem die versteckten Fähigkeiten der jungen Menschen reaktiviert werden und Beachtung finden. Hilfestellungen bei der Existenzsicherung, Gesundheitsförderung und förderliche Personen stellen weitere wichtige Bausteine der Resilienzbildung in der Arbeit mit UMF dar. (vgl. Irmler 2011: 580-587)


5.5 Bildung als Empowerment

Zentral ist darüber hinaus, das Gefühl für Selbstwirksamkeit der Jugendlichen zu stärken. Es wirkt erlebten Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen entgegen und stellt einen zentralen Schutzfaktor dar. (vgl. Herriger 2002: 169f) Bildung trägt dazu bei, Wissen und Kompetenzen zu erwerben. Die erworbenen Kompetenzen im kulturellen, instrumentellen, sozialen sowie personalen Sinn ermöglichen ein Gefühl der Handlungsfähigkeit, des Erlebens von Erfolgen und wirken somit selbstermächtigend. Sie wirken inklusionsfördernd und ermöglichen es den Jugendlichen, sich in ihrer Umwelt zurecht zu finden, mit anderen in Kontakt treten zu können und mit ihren eigenen inneren Befindlichkeiten und Emotionen besser umgehen zu können. Es sollen außerdem Räume der Lebensgestaltung, wie Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, ermöglicht werden. Im Sinne des Empowerments werden in diesen Räumen die Autonomie und die Kompetenzen der jungen Menschen gefördert. (vgl. Herriger 2002: 18) Schule stellt z. B. einen Ort der Lebensgestaltung dar, in dem die Potenziale der jungen Menschen gefördert werden. Bildung soll die jungen Menschen zu einer selbstbestimmten Individualität führen, die im größtmöglichen Maß die Kontrolle über den Verlauf ihres Lebens haben. Dies setzt Entfaltungs- und Entwicklungsprozesse in Gang. Soziale Arbeit soll, unter Achtung der größtmöglichen Autonomie der KlientInnen, diese Prozesse begleiten und fördern.

Über die Förderung der Kompetenzen und Selbstermächtigungserfahrungen der jungen Menschen hinaus hat die (Klinische) Soziale Arbeit im Kontext der Schule für UMF eine Stabilisierungs- und Orientierungsfunktion, beispielsweise durch psychosoziale Beratung, sozialtherapeutisches Angebot, die Erweiterung des sozialen Netzes der SchülerInnen sowie das Erleben einer geregelten Tagesstruktur.


6. Fazit

Ziel der Arbeit war es, der Frage nachzugehen, welche bezeichnenden Lebenserfahrungen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen während des Asylverfahrens und der ersten Zeit nach dem Asylverfahren in Österreich wahrgenommen werden. Weiters sollte der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen sich daraus für die Soziale Arbeit ergeben und ob der Zugang zu Bildung Teil eines Empowermentkonzeptes in der (Klinischen) Sozialen Arbeit sein kann.

Bezugnehmend auf die bezeichnenden Lebenserfahrungen der UMF kann zusammengefasst werden, dass diese eine große Bandbreite aufweisen. Die Jugendlichen durchlaufen zahlreiche Stationen während ihres Asylverfahrens in Österreich, die sehr prägend für ihr Leben hier sind.

Als zentrales Lebensereignis stellt sich das Thema Bildung während der Interviewsituationen dar. Der Spracherwerb sowie der Zugang zu Bildung und die Möglichkeit, eine Schule besuchen zu können, sind für die Jugendlichen überaus wichtig.

Was die Frage der Konsequenzen für die Soziale Arbeit betrifft, so lassen sich zwischen den bezeichnenden Lebenserfahrungen der jungen Menschen und den Kompetenzen der Sozialen Arbeit Handlungsaufgaben für die Arbeit mit UMF im Bildungskontext formulieren. Unter der bio-psycho-sozialen Perspektive der Klinischen Sozialen Arbeit und dem Person-in-Environment-Ansatz müssen bei der Arbeit mit UMF neben innerpsychischen Prozessen auch kontextuelle und sozialstrukturelle Aspekte in der Arbeit berücksichtigt werden. Grundlegend für den Arbeitsprozess ist der Aufbau einer tragfähigen Beziehung zu den KlientInnen. Parteilichkeit für die KlientInnen, die echte Anerkennung der großen Ungerechtigkeit in Bezug auf politische und gesellschaftliche Realitäten, die ihnen widerfährt sowie Transparenz im Arbeitsprozess und emotionale Annahme ihrer Situationen bilden dafür die Grundbausteine. Weiters soll große Achtung darauf gelegt werden, die Autonomie der KlientInnen bestmöglich nicht einzuschränken. Eine sorgfältige sozialdiagnostische Abklärung und Ressourcenorientierung unter Einbezug der bio-psycho-sozialen Perspektive ist für den weiteren Arbeitsprozess essenziell. Durch die vielen negativen Erlebnisse der Jugendlichen muss also eine tragfähige Vertrauensbeziehung für den gemeinsamen Arbeitsprozess geschaffen werden. Der Fokus der Soziale Arbeit muss dabei stets die Bedingungen der positiven Lebensgestaltung und Lebensbewältigung in den Blick nehmen. (vgl. Panzenböck 2014: 141-144)


Verweise
1 Die Asylstatistiken des Jahres 2016 waren zu Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht.
2 Durch eine Änderung im Jahr 2013/2014 wurde das Bundesasylamt vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) abgelöst und stellt damit die erste Instanz im Asylverfahren dar. (vgl. BM.I o.J.).


Anhang: InterviewpartnerInnen

Die Jugendlichen wurden in den Interviews durch neue Vornamen anonymisiert. Der Forscherin ist es wichtig, die Geschichten dieser jungen Menschen nicht hinter Abkürzungen und nüchternen Bezeichnungen verschwinden zu lassen, sondern ihnen mittels eines Namens eine Persönlichkeit und ein Gesicht zu geben. Es soll nicht vergessen werden, dass hinter den Erzählungen tapfere junge Menschen stehen, die in ihrem Leben bereits viel erleben und ertragen mussten, viel geschafft haben und ihre teilweise sehr intimen Geschichten in den Interviews teilen. Die gewählten Vornamen stellen berühmte Persönlichkeiten aus den Herkunftsländern der Jugendlichen dar, zu denen ihre Geschichten eine gewisse Ähnlichkeit haben bzw. zu denen es eine Verbindung gibt. Die acht jungen Menschen, die über ihre Situation seit der Ankunft in Österreich erzählen, sind Dagmola, Shoaib, Esmail, Karim, Aziz, Julius, Hameed und Sayed.

Biografielinie Aziz
Abbildung 1: Biografielinie von Aziz


Biografielinie Dagmola
Abbildung 2: Biografielinie von Dagmola


Biografielinie Esmail
Abbildung 3: Biografielinie von Esmail


Biografielinie Hameed
Abbildung 4 : Biografielinie von Hameed


Biografielinie Julius
Abbildung 5: Biografielinie von Julius


Biografielinie Karim
Abbildung 6: Biografielinie von Karim


Biografielinie Sayed
Abbildung 7: Biografielinie von Sayed


Biografielinie Shoaib
Abbildung 8: Biografielinie von Shoaib


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Über die Autorin

Marlene Panzenböck, MA
p.marlene@gmx.at

studierte Soziale Arbeit und Klinische Soziale Arbeit an der FH Campus Wien.
2012 begründete sie PROSA mit und ist seitdem Standortleiterin eines Schulstandortes sowie Prozessverantwortliche für das Sozialarbeitsteam.
Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Schulsozialarbeit mit Geflüchteten.