soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 18 (2017) / Rubrik "Thema" / Standort St. Pöten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/526/941.pdf


Dagmar Fenninger-Bucher:

Die Definitions[ohn]macht der Kinder- und Jugendhilfe in Österreich oder „es ist alles eine Frage der Erziehung“


1. Einleitung

Die Ziele und Aufgaben und damit auch die Handlungsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit im Kontext institutioneller Kinder- und Jugendhilfe sind an ihren legistischen Grundlagen und Vorgaben verortet. Im vorliegenden Text soll in mehreren Schritten versucht werden, die damit entstehende Bruchlinie zu den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu analysieren. Konkret wird geprüft, inwieweit die im Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013 formulierten Zielsetzungen und Agenden sowie die im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch ausgeführten Kriterien des Kindeswohls mit der UN-Kinderrechtskonvention und den globalen Zielen Sozialer Arbeit (ifsw 2014) in Übereinstimmung gebracht werden können. Weiters wird die Frage behandelt, ob die gesetzlichen Grundlagen der Kinder- und Jugendhilfe adäquate Möglichkeiten bieten, die Ursachen der komplexen Problemlagen zu identifizieren, mit denen sich Kinder und Jugendliche in ihrem Aufwachsen konfrontiert sehen. Anhand der Forschungsergebnisse zum Themenkomplex der sozialen Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen wird die Angemessenheit der inhaltlichen Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung und der daraus generierten Konzepte zur Bewältigung struktureller und familiärer Herausforderungen betrachtet. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Stellenwert und die Wirkmacht der legistisch festgelegten Ausrichtung der Kinder- und Jugendhilfe deduktiv auf Maßnahmen und Ressourcen abzielt. In der zirkulären Annäherung an die Thematik kann ausgemacht werden, dass dies einen grundlegenden Widerspruch zu sozialarbeitswissenschaftlichen Konzeptionen in sich birgt, die sich bedürfnisorientiert und ermächtigend an den Verhältnissen anstatt am Verhalten einzelner Individuen orientieren.


2. Soziale Arbeit in der institutionellen Kinder- und Jugendhilfe: Basis und Legitimation

Innerhalb der Sozialarbeitswissenschaft besteht Einigkeit darüber, dass die Herausforderungen und Problemlagen, mit denen sich Kinder, Jugendliche und ihre Familiensysteme auf persönlicher, familiärer und struktureller Ebene konfrontiert sehen, vielschichtig und mehrdimensional sind. Im Folgenden sollen die für die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe unmittelbaren Gesetzesgrundlagen skizziert werden, um zu erfahren, welche Ziele, Aufgaben und Prinzipien im Rahmen institutioneller Sozialer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als vorrangig definiert werden. Dies ist insofern notwendig, als Gesetze und Verordnungen die Voraussetzung, Grundlage und Legitimation sozialarbeiterischen Handelns in der Arbeit mit Adressat*innen beziehungsweise Nutzer*innen der Kinder- und Jugendhilfe bilden.


2.1 Das Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz

Die Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung besteht im Wesentlichen aus dem Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz (B-KJHG 2013) und den Ausführungsgesetzen auf Bundesländerebene. Diese sind für Fachkräfte der Sozialarbeit unmittelbar und verbindlich umzusetzen. Im ersten Teil, den Grundsatzbestimmungen des B-KJHG 2013, werden im 1. Hauptstück in drei Paragrafen die Grundsätze, Ziele und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe ausgeführt.

„Grundsätze der Kinder- und Jugendhilfe
§ 1. (1) Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung1 zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
(2) Die Pflege und Erziehung2 von Kindern und Jugendlichen ist in erster Linie die Pflicht und das Recht ihrer Eltern oder sonst mit Pflege und Erziehung3 betraute Personen.
(3) Eltern und sonst mit Pflege und Erziehung4 betraute Personen sind bei der Ausübung von Pflege und Erziehung5 durch Information und Beratung zu unterstützen und das soziale Umfeld zu stärken.
(4) Wird das Kindeswohl hinsichtlich Pflege und Erziehung6 von Eltern oder sonst mit Pflege und Erziehung7 betrauter Personen nicht gewährleistet, sind Erziehungshilfen8 zu gewähren.
(5) In familiäre Rechte und Beziehungen darf nur insoweit eingegriffen werden, als dies zur Gewährleistung des Kindeswohls notwendig und im Bürgerlichen Recht vorgesehen ist.
(6) Die Wahrnehmung der Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe erfolgt in Kooperation mit dem Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem.

Ziele der Kinder- und Jugendhilfe
§ 2. Bei der Erfüllung der Aufgaben nach diesem Bundesgesetz sind folgende Ziele zu verfolgen:
1. Bildung eines allgemeinen Bewusstseins für Grundsätze und Methoden förderlicher Pflege und Erziehung9;
2. Stärkung der Erziehungskraft10 der Familien und Förderung des Bewusstseins der Eltern für ihre Aufgaben;
3. Förderung einer angemessenen Entfaltung und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sowie deren Verselbständigung;
4. Schutz von Kindern und Jugendlichen vor allen Formen von Gewalt und anderen Kindeswohlgefährdungen hinsichtlich Pflege und Erziehung11;
5. Reintegration von Kindern und Jugendlichen in die Familie im Interesse des Kindeswohles, insbesondere im Zusammenhang mit Erziehung12.

Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe
§ 3. Unter Berücksichtigung der Grundsätze des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, BGBl. Nr. 7/1993, sind folgende Aufgaben im erforderlichen Ausmaß zu besorgen:
1. Information über förderliche Pflege und Erziehung13 von Kindern und Jugendlichen;
2. Beratung bei Erziehungs-14- und Entwicklungsfragen und familiären Problemen;
3. Hilfen für werdende Eltern, Familien, Kinder und Jugendliche zur Bewältigung von familiären Problemen und Krisen;
4. Gefährdungsabklärung und Hilfeplanung;
5. Erziehungshilfen15 bei Gefährdung des Kindeswohls hinsichtlich Pflege und Erziehung16;
6. Zusammenarbeit mit Einrichtungen, Behörden und öffentlichen Dienststellen;
7. Mitwirkung an der Adoption von Kindern und Jugendlichen;
8. Öffentlichkeitsarbeit zu Zielen, Aufgaben und Arbeitsweisen der Kinder- und Jugendhilfe.“


(Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013; kursiv und hochgestellte Nummerierung durch d. Verf.)


Was fällt dabei auf? Wer nicht mitgezählt hat, die Nummerierung nach den Wörtern Erziehung, Erziehungskraft und Erziehungshilfen bezieht sich auf deren Häufigkeit. In 19 Sätzen oder Punkten kommt das Wort Erziehung ganze 16 Mal vor. Die Kinder- und Jugendhilfe bezieht sich somit in all ihren Agenden auf Pflege und Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Analog dazu werden Budgets, Ressourcen, Kontingente, Unterstützungsmöglichkeiten und Interventionen als Hilfen bzw. Unterstützung der Erziehung definiert: stationäre Unterstützung der Erziehung (Betreuung eines Kindes in einer sozialpädagogischen Betreuungseinrichtung), Unterstützung der Erziehung durch Sozialarbeiter*innen und alle Formen der ambulanten und mobilen Unterstützung der Erziehung durch Finanzierung von ambulanten und mobilen therapeutischen, existenzsichernden, gesundheits- und freizeitfördernden sowie Beratungs-, Betreuungs- und Bildungssettings. All diese Maßnahmen werden vornehmlich in materiell benachteiligten Familiensystemen zum Einsatz gebracht.


2.2 Die Begrifflichkeit der Erziehung – von Gehorsam, Regieren und dem richtigen Bewusstsein

In der 1968 erschienenen Brockhaus Enzyklopädie wird Erziehung als „pädagogische Einflußnahme auf die Entwicklung und das Verhalten Heranwachsender“ definiert, die „sowohl den Prozeß als auch das Resultat dieser Einflußnahme“ beinhaltet (Brockhaus 1968: 707) Auch der Erziehungswissenschafter Wolfgang Brezinka versteht Erziehung als Handlungen,

„durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Bestandteile zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten.“ (Brezinka 1990: 95)

Foucault prägte dafür den Begriff der Gouvernementalität als eine Art Denkweise des Regierens und politische Rationalität, die zum einen dem Leben der Individuen und zum anderen der Staatsmacht dienen und förderlich sein soll. Sie kommt als intentionale und richtunggebende Einwirkung in der kleinteiligen Familie ebenso wie in der Schule, in Einrichtungen und Firmen zur Anwendung. Nicht die Unterwerfung, sondern Regieren und Führen sind das Ziel, sodass sich die Akteur*innen im Kraftfeld dieser Macht eigenständig bewegen und damit größere Machtstrukturen wie den Staat ermöglichen. (vgl. Ruffing 2010: 108) Diese alles durchdringende Einflussnahme schließt damit an die totalisierende und zugleich individualisierende foucaultsche Pastoralmacht an, die wir, um wiederum zur Erziehung zurückzukehren, aus der Schwarzen Pädagogik kennen. Dazu zitiert Alice Miller in ihrem Werk Am Anfang war Erziehung aus J. Sulzers Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder aus dem Jahr 1748:

„Ein Kind, das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wird auch, wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und Regeln der Vernunft gern unterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt ist, nicht nach seinem Willen zu handeln. Dieser Gehorsam ist so wichtig, daß eigentlich die ganze Erziehung nichts Anderes ist, als die Erlernung des Gehorsams.“ (Sulzer 1748, zit. nach Rutschky 1977: 173ff, zit. nach Miller 1980: 27).

Ganz anders formulierte Adorno aus dem Stegreif oder wie er selbst es nannte, „auf einem Beine stehend“, seine Vorstellung von Erziehung. Sie beinhaltet weder Menschenformung, da das Recht dazu niemandem zukäme, noch eine bloße, dinghafte Wissensvermittlung. Vielmehr setzte er Erziehung mit der Herstellung eines richtigen Bewusstseins als Grundvoraussetzung echter Demokratie gleich. (vgl. Adorno 1971: 107)

Adorno war zugleich durchaus bewusst, wie schwierig die Erlangung dieses richtigen Bewusstseins angesichts einer Welt sein muss, die zu ihrer eigenen Ideologie geworden ist und somit jegliche Orientierung erschwert. Er folgerte daraus, dass die Frage der Erziehung von dieser Dimension längst überlagert wäre und dadurch obsolet geworden sei. (vgl. ebd.: 109)

Auch Luhmann widmete sich dem System der Erziehung auf gesellschaftlicher Ebene, die intentionale Tätigkeit stellte er dabei nicht in Frage. Er sah die Entwicklung der Fähigkeiten von Menschen und die Förderung in ihrer sozialen Anschlussfähigkeit als Ziel von Erziehung. (vgl. Luhmann 2002: 15) Mit der Idee des Menschen als Subjekt, der damit verbundenen zunehmenden Anerkennung der Diversität von Individuen und damit auch ihrer Lebensplanung wären auch die Erziehungsmodelle einer tradierten Gesellschaft verschwunden. (vgl. ebd.: 18) Nach Luhmann werden wir als Menschen geboren und werden durch Sozialisation und Erziehung zu Personen. Er bezieht die Funktion der Erziehung also auf die Personwerdung, quasi als Korrektur und Ergänzung der Sozialisation (vgl. ebd.: 38)

Weiters geht es nach Luhmann in der Sozialdimension um Erziehung zur Kommunikation, in der Zeitdimension um Erziehung zur Änderungsbereitschaft und in der Sachdimension um Erziehung zur Wahlfähigkeit. (vgl. ebd.: 195)


2.3 Kinder- und Jugendhilfe – eine Frage der Erziehung

Die Idee von Kindheit als abgegrenztem Zeitraum des Schutzes und der Vorbereitung ist relativ neu in der Geschichte und in erster Linie in der westlichen Hemisphäre verortet. Mit der Etablierung des Bürgertums avancierte das Familiensystem im 18. und 19. Jahrhundert zur zentralen Instanz der Sozialisation, die dazu dienen sollte, vorrangig männliche Kinder und Jugendliche mittels Bildung und Erziehung zu ökonomischen und/oder intellektuellen Leistungen und damit zur Erreichung und Festigung gesellschaftlich anerkannter Positionen in ihrem zukünftigen Erwachsenenleben zu befähigen. (vgl. Hungerland 2007: 29) Dieses Bild des Kindes als Objekt der Erziehung, als quasi unfertigem Menschen wurde mittlerweile von der neuen Kindheitswissenschaft abgelöst, die Kinder als Subjekte, als Seiende begreift und die Anerkennung von Rechten und handlungsleitenden eigenen Interessen von Kindern zum Inhalt hat. (vgl. ebd.: 34-35) Die Erziehungswissenschaft ist damit zur Bildungswissenschaft geworden und distanziert sich vom paternalistischen Begriff der Erziehung, der intentionalen Einwirkung, dem Formen von jungen Menschen. Sie versucht – zumindest in der Theorie – neue Wege zu gehen, in denen der Mensch vom Beginn seines Lebens an als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft gilt. Doch auch angesichts des neueren Zugangs, der Kinder als Subjekte anerkennent, trägt das Bildungssystem nach wie vor in erheblichem Ausmaß zur Reproduktion der Distribution kulturellen Kapitals und damit der Struktur des sozialen Raums bei. Somit setzt der Akt der Klassifizierung durch Bildung, so Bourdieu, soziale Rangunterschiede als endgültige Standesverhältnisse und die Verhängung von Totalurteilen durch das Bildungssystem bekommt für junge Menschen die Bedeutung eines Schicksalseffekts. (vgl. Bourdieu 1985: 35-45)

Während also die Bildungswissenschaft und mit ihr das Bildungssystem trotz der faktisch mächtigen Zuweisung junger Menschen auf bestimmte – auch exkludierte – Positionen im sozialen Raum den Begriff der Erziehung als zu bevormundend identifiziert und daher vermeidet, hat sich die Soziale Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe seiner bemächtigt. Sie betont mit der überdimensional vertretenen Aufgabenstellung der Pflege und Erziehung eine asymmetrische Beziehung vom Erwachsenen hin zum Kind und markiert heranwachsende Menschen damit als zu Formende, zwingt sie zurück in ein Konzept von Objekthaftigkeit, Passivität und Zwang.

Folgen wir der Gesetzgebung als unbedingter Handlungsausrichtung von Sozialer Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe, so wird offenkundig, dass die größte Herausforderung unserer Zeit in Bezug auf kindliche Problemlagen wohl ursächlich auf erzieherische Mängel zurückzuführen ist, in die es einzugreifen gilt. Da versagt – frei nach Foucault – die Familie als Institut des Regierens scheinbar zu einem hohen Anteil und mit negativen Auswirkungen in allen denk- und vorstellbaren Lebenszusammenhängen. Folgerichtig sieht sich die Soziale Arbeit als Mittel der Wahl, um im Zuge der Individual[erziehungs]hilfe wiederum Hilfen zur Erziehung zu installieren, nämlich dann, wenn die innerfamiliäre Regierung der Kinder nicht im gewünschten neoliberalen Sinn der Normierung, Disziplinierung, Sanktionierung oder Selbstentäußerung klappt. Die soziale Ausgrenzung immer größer werdender Gruppen von Menschen, mit der sich auch eine Vielzahl von Kindern sowohl in direktem wie auch im intergenerativen Kontext konfrontiert sieht, scheint für die Ausrichtung der von individueller Unterstützungsarbeit geprägten Kinder- und Jugendhilfe eine untergeordnete Rolle zu spielen.


3. Wie war das noch mal mit dem Kindeswohl?

Der Begriff Kindeswohl generiert sich in erster Linie aus dem Rechtsgut des Familienrechts und soll das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen sowie seine*ihre gesunde Entwicklung umfassen. Die Komplexität verschiedenster Bedingungen und wechselseitig wirkender, dynamischer Faktoren im Aufwachsen eines Kindes wird durch die Orientierung auf den Bezugspunkt und die Generalklausel Kindeswohl als theoretischem Konstrukt festgemacht und bildet damit die Grundlage familienrechtlicher Entscheidungen.

Im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB 2013) wird das Kindeswohl in § 138 für alle Angelegenheiten, die das minderjährige Kind betreffen, als leitender Gesichtspunkt gewürdigt, den es bestmöglich zu gewährleisten gilt. Die wichtigsten Kriterien des Kindeswohls werden in zwölf Punkten angeführt. Auf die materielle Basisversorgung nimmt der Text im ersten Punkt Bezug und betont damit die Notwendigkeit der Erfüllung ökonomischer Grundvoraussetzungen, die angemessene Versorgung bezieht sich insbesondere auf Nahrung, medizinische und sanitäre Betreuung wie auch auf Wohnraum und schließt eine sorgfältige Erziehung des Kindes mit ein. Der Begriff Erziehung kommt in § 138 kein weiteres Mal vor, vielmehr wird auf zu schaffende adäquate Lebensverhältnisse und auf die Wahrung des Willens, der Rechte, Interessen und Ansprüche des Kindes Bezug genommen.

Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch und seine 12 Punkte zum Wohle des Kindes:

Kindeswohl
§ 138
. In allen das minderjährige Kind betreffenden Angelegenheiten, insbesondere der Obsorge und der persönlichen Kontakte, ist das Wohl des Kindes (Kindeswohl) als leitender Gesichtspunkt zu berücksichtigen und bestmöglich zu gewährleisten. Wichtige Kriterien bei der Beurteilung des Kindeswohls sind insbesondere
1. eine angemessene Versorgung, insbesondere mit Nahrung, medizinischer und sanitärer Betreuung und Wohnraum, sowie eine sorgfältige Erziehung des Kindes;
2. die Fürsorge, Geborgenheit und der Schutz der körperlichen und seelischen Integrität des Kindes;
3. die Wertschätzung und Akzeptanz des Kindes durch die Eltern;
4. die Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Kindes;
5. die Berücksichtigung der Meinung des Kindes in Abhängigkeit von dessen Verständnis und der Fähigkeit zur Meinungsbildung;
6. die Vermeidung der Beeinträchtigung, die das Kind durch die Um- und Durchsetzung einer Maßnahme gegen seinen Willen erleiden könnte;
7. die Vermeidung der Gefahr für das Kind, Übergriffe oder Gewalt selbst zu erleiden oder an wichtigen Bezugspersonen mitzuerleben;
8. die Vermeidung der Gefahr für das Kind, rechtswidrig verbracht oder zurückgehalten zu werden oder sonst zu Schaden zu kommen;
9. verlässliche Kontakte des Kindes zu beiden Elternteilen und wichtigen Bezugspersonen sowie sichere Bindungen des Kindes zu diesen Personen;
10. die Vermeidung von Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen des Kindes;
11. die Wahrung der Rechte, Ansprüche und Interessen des Kindes sowie
12. die Lebensverhältnisse des Kindes, seiner Eltern und seiner sonstigen Umgebung.“

(§ 138 ABGB 2013)


4. Die Wirkmacht von Pflege und Erziehung sowie von Hilfen zur Erziehung – Welches Jahrhundert bespielt die Kinder- und Jugendhilfe?

Die Konzeption der Pflege und Erziehung und daraus ableitend die Aufgaben und Interventionsformen, die im Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz als Hilfen zur Erziehung definiert werden, erfahren also in der Ausformulierung des Kindeswohls im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch keine Spiegelung. Es stellt sich die Frage nach der Wirkmacht der Begrifflichkeiten in der Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung, die Kindern und Jugendlichen durchwegs den Status als zu Pflegende und zu Erziehende beimisst, die Asymmetrien betont und sich instruierend nach rückwärts orientiert. Woher kommt sie und wie begründet sie sich?


4.1 Der lange Weg der Geschichte

Hilfe zur Erziehung bei kindeswohlgefährdender Pflege und Erziehung als Grundlage von Sozialer Arbeit, wie sie im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe konzipiert ist, findet sich also weder in den Gesetzestexten des ABGB noch in den Grundsätzen und Dimensionen, die etwa Ilse Arlt für ein gelingendes Leben definiert. Allerdings beruft sich das Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz ausdrücklich auf die Grundsätze des Übereinkommens über die Rechte des Kindes, BGBl. Nr.7/1993 und leitet daraus in § 3 Aufgaben ab, die im erforderlichen Ausmaß zu besorgen sind. Im Kinder- und Jugendhilfesprech lesen sich die aus 54 Artikeln des Übereinkommens über die Rechte des Kindes abgeleiteten Aufgaben als „Information über förderliche Pflege und Erziehung von Kindern und Jugendlichen“, als „Beratung bei Erziehungs- und Entwicklungsfragen und familiären Problem“, als „Hilfe für werdende Eltern, Familien, Kinder und Jugendliche zur Bewältigung von familiären Krisen und Problemen“, als „Gefährdungsabklärung und Hilfeplanung“, als „Erziehungshilfen bei Gefährdung des Kindeswohls hinsichtlich Pflege und Erziehung“, als „Zusammenarbeit mit Einrichtungen, Behörden und öffentlichen Dienststellen“, als „Mitwirkung an der Adoption von Kindern und Jugendlichen“ und als „Öffentlichkeitsarbeit zu Zielen, Aufgaben und Arbeitsweisen der Kinder- und Jugendhilfe“. So gestaltet sich die Ableitung der österreichischen Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung vom internationalen Übereinkommen der Rechte des Kindes in 8 Punkten. (vgl. § 3 B-KJHG 2013)


Im Originaltext der UN-Kinderrechtskonvention werden die Rechte von Kindern in 54 Artikeln aufgelistet. Weder in diesen, noch in der Zusammenfassung auf 10 Grundrechte der UNICEF, der Kinderrechtsorganisation der UNO, kommt die Begrifflichkeit der Erziehung in der Form vor, wie wir sie in der Kinder- und Jugendhilfe kennen. Nur im Zusammenhang mit dem Recht auf ein gewaltfreies Aufwachsen wird von gewaltfreier Erziehung gesprochen. Wir finden die Rechte auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung, auf einen Namen und eine Staatszugehörigkeit, auf Gesundheit, auf Bildung und Ausbildung, auf Freizeit, Spiel und Erholung, auf Information und Versammlung, auf Privatsphäre und eben auf gewaltfreie Erziehung, auf Hilfe in Katastrophen, auf Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause und auf Betreuung bei Behinderung. Wohlergehen von Kindern und die damit verbundenen Rechte beziehen sich also auf eine sichere Umgebung, die frei von Diskriminierung ist und den Zugang zu sauberem Wasser, zu Nahrung, zu medizinischer Versorgung, zu Ausbildung und Mitsprache garantiert. (vgl. UNICEF o.J.) Die vom österreichischen Bundespräsidenten und vom Bundeskanzler unterzeichnete Ratifikationsurkunde für das Übereinkommen über die Rechte des Kindes wurde im Übrigen am 6. August 1992 beim Generalsekretär der Vereinten Nationen hinterlegt und trat mit 5. September 1992 in Kraft. (vgl. Übereinkommen über die Rechte des Kindes i.d.F.v. BGBl. Nr. 7/1993) Es liegen also gute 20 Jahre zwischen der Ratifizierung der Kinderrechte durch Österreich und der Neufassung des Bundes- Kinder- und Jugendhilfegesetzes 2013, auch wenn man auf Grund des Textstudiums meinen möchte, die Reihenfolge wäre umgekehrt erfolgt.


4.3 Global Definition of Social Work Profession 2014

Die generelle Positionierung und Ausrichtung Sozialer Arbeit wird im neuen Übereinkommen über die Global Definition of the Social Work Profession (ifsw 2014) sehr klar bestimmt. IFSW (International Federation of Social Workers) und IASSW (International Association of Schools of Social Work) definieren darin als zentrale Aufgabe Sozialer Arbeit auf der Makroebene soziale Veränderung und Entwicklung, auf der Mesoebene sozialen Zusammenhalt und auf der (individuellen) Mikroebene Ermächtigung und Befreiung. Sie stehen für das Vermögen und die Berechtigung, eigene Rechte wahrnehmen und realisieren sowie Handlungschancen für das (Zusammen-)Leben nutzen zu können. Die Prinzipien sind soziale Gerechtigkeit, um die kontinuierlich gerungen werden muss, kollektive Verantwortung im Gegensatz zur neoliberal geprägten individuellen Verantwortung, die Orientierung an den Menschenrechten und die bedingungslose Anerkennung von Diversität. Des Weiteren wird die Wirksamkeit Sozialer Arbeit ausgeführt: Sie wirkt auf Sozialstrukturen und befähigt Menschen, die Herausforderungen des Lebens angehen und Wohlbefinden/Wohlergehen erreichen zu können. Fehlen strukturelle Handlungschancen auf der Makroebene, interaktionale Handlungsmöglichkeiten auf der Mesoebene oder individuelle Handlungsfähigkeiten auf der Mikroebene, so sind Interventionen Sozialer Arbeit gefragt. (vgl. ifsw 2014, avenir social 2015) Weder in den international definierten Zielen Sozialer Arbeit noch in deren Prinzipien kommt das Wort Erziehung vor.


5. Herausforderungen unserer Zeit

Während Expert*innen aus den Disziplinen Ökonomie, Soziologie, Philosophie und Sozialarbeitswissenschaft die Faktoren von struktureller Gewalt in Form sozialer Ungerechtigkeit und die damit einhergehenden benachteiligenden, schädigenden, marginalisierenden Auswirkungen auf immer mehr Menschen konstatieren, manifestieren sich in Politik und Gesetzgebung zunehmend normierende, kontrollierende, stigmatisierende, disziplinierende und sanktionierende Methoden des Regierens. Ihnen zugrunde liegt ein neoliberales Ökonomieverständnis, das die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich und eine sich weiterhin erhöhende Anzahl ökonomisch benachteiligter Menschen vorantreibt. Angesichts der immer stärker werdenden Ausgrenzungsbemühungen seitens populistischer Medien und politischer „Meinungsmacher*innen“ ist zum einen die Gefahr einer weiteren Unterschichtung der armutsbetroffenen Bevölkerung, zum anderen die Ausgrenzung ganzer Gruppierungen, wie etwa die Gruppe der Menschen mit Fluchthintergrund oder Bezieher*innen sozialer Transferleistungen, gegeben. Am Beispiel der aktuell bereits in mehreren Bundesländern durchgesetzten Kürzungen der Mindestsicherung und der vorangegangenen Diskussion ist diese Entwicklung deutlich ablesbar. Im Artikel „Fluchtmigration und Armutsdefinition“ spricht der Armutssoziologe Christoph Butterwegge (2016a) von einem verengten Armutsbegriff und macht diesen Trend sehr deutlich, indem er auf die Praxis der zunehmenden Denunziation von eben nicht mehr als wirklich arm geltenden Transferleistungsbezieher*innen hinweist.

„Fortan dürften Langzeit- bzw. Dauererwerbslose häufiger als DrückebergerInnen, Faulpelze oder SozialschmarotzerInnen etikettiert, stigmatisiert und kriminalisiert werden. Auch sozialdarwinistische, wohlstandschauvinistische und rechtspopulistische Stimmungen könnten sich stärker ausbreiten.“ (Butterwegge 2016a: 8)

Parteipolitische und mediale Kampagnen für „Leistungswillige“ mit Slogans wie „Arbeit muss sich wieder lohnen!“ oder „Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein!“, wie wir sie in Österreich ebenfalls seit 2016 kennen und die dazu dienten, Kürzungen der Mindeststandards vorzubereiten, bestätigen diese Annahmen. In Bezug auf die Verteilungsschieflage von Einkommen und Vermögen und dem damit wachsenden Bedürfnis in unseren reichen Ländern, Armut auf Not und Elend zu reduzieren und damit einen mittelalterlichen Armutsbegriff zu rehabilitieren, weist Butterwegge (2016b) im Artikel „Auf dem Weg ins Mittelalter“ hin. Demnach „zählt nur als Betroffener, wer nicht mehr hat, als was er am Leibe trägt“ (Butterwegge 2016b).

Bourdieu war es, der die Begrenzungen individueller Handlungsspielräume durch hierarchisch strukturierte Sozialräume und die darauf einwirkenden Kräfteverhältnisse besonders hervorhob und gerade in den Biografien im „Elend der Welt“ die unmittelbaren und nicht aufhebbaren Auswirkungen neoliberaler Politiken auf einzelne Menschen deutlich nachzeichnete. Das sind harte Fakten der globalisierten Welt, die sich in einer Gesellschaft neoliberaler Prägung widerspiegelen, in einer Leistungsgesellschaft, die auf Individualisierung und damit Vereinzelung abzielt und jene Menschen als überflüssig markiert, die als Manager*innen ihrer selbst nicht in der Lage sind, ihre Kapitalien den Anforderungen des Marktes entsprechend zu entwickeln und zu vermarkten. Damit werden Individuen selbst zur Währung, sie verfügen nicht über Kapitalien unterschiedlichen Wertes, denn sie selbst sind das Kapital. Und so sind auch sie selbst es, die in Gefahr sind, als überschüssig identifiziert zu werden. Die Folge ist die für die Soziale Arbeit einigermaßen neue Dimension der sozialen Exklusion, die auch für Luhmann (2002) mit der seiner Theorie immanenten Annahme der grundsätzlich offenen Teilsysteme und dem ursprünglichen Postulat der Vollinklusion so nicht vorstellbar war. Mit der Zurücknahme staatlicher Regulatoren wird nun gerade diesen zuvor exkludierten Menschen suggeriert, durch Aktivierung ihrer Eigenressourcen, durch die Entwicklung entsprechenden Engagements wäre auch die geforderte Leistung möglich, durch den richtigen Einsatz ihrer selbst als der einzigen Ressource, über die sie verfügen, wären sie durchaus in der Lage, sich aus der Exklusions- und damit Armutsfalle zu befreien. So können jedoch Gefühle des Versagens verdoppelt und die Vernichtung des Selbstwerts beschleunigt werden. Im aktivierenden Staat kann die sozialpolitische Verantwortung einer staatlichen Gemeinschaft im Zuge der Fragmentierung und Individualisierung ohne weiteres zur Gänze an den oder die Einzelne abgegeben werden, indem persönlicher Erfolg nunmehr als freie Entscheidung für oder gegen die Aktivierung der Eigenressourcen und damit für oder gegen erbringbare Leistung interpretiert wird. Butterwegge, Lösch und Ptak (2017) bezeichnen diese Entwicklung als Erosion der für den europäisch geprägten Wohlfahrtsstaat konstitutiven Wertebasis und identifizieren eine in dreifacher Hinsicht wirkende Modifikation des Gerechtigkeitsbegriffs. Was ursprünglich Bedarfsgerechtigkeit war, heißt nun Leistungsgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit wird zur Teilhabegerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit mutiert zur Generationengerechtigkeit. Soziale Gleichheit und Gerechtigkeit erfahren zudem eine Diskreditierung, indem Freiheit zunehmend als Privatinitiative, Eigenverantwortung und Selbstvorsorge verstanden und interpretiert wird. (vgl. Butterwegge/Lösch/Ptak 2017: 140)

Auch der Philosoph Byung-Chul Han (2014) verortet die Gestalt der Freiheit innerhalb der Machttechniken des Neoliberalismus in unserem Glauben, freie und uns immer aufs Neue entwerfende Projekte zu sein. Damit kreieren wir eine effizientere Form der Subjektivierung und Unterwerfung. Denn die Freiheit selbst ruft Zwänge hervor, insbesondere die Freiheit des Könnens führt zu stärkeren Zwängen als das disziplinarische Sollen (vgl. Han 2014: 9-10).

Entlang dieser immer stärker wirkenden Bruchlinie innerhalb unserer Gesellschaft, im Wechselspiel der ständig anwachsenden Ungleichheit zwischen einzelnen Besitzenden und der größer werdenden Gruppe marginalisierter und sozial exkludierter Menschen, verlagert sich die ungleiche Kräfteverteilung weiter in Richtung globaler neoliberaler Ökonomie und Politik zuungunsten nationalstaatlicher Regulationsmacht. Im Duktus sozialstaatlichen Rückbaus findet sich auch die Soziale Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe mit den Auswirkungen zunehmender sozialer Ungleichheit und sozialer Exklusion konfrontiert. Welche Handlungsspielräume kann die Ausstattung mit individuellen Hilfen zur Erziehung angesichts der Herausforderung einer immer größer werdenden Gruppe sozioökonomisch benachteiligter Kinder und Jugendlicher bieten bzw. eröffnen?


6. Zur kindlichen Lebenslage der sozioökonomischen Benachteiligung

Die Politikwissenschafterin Margherita Zander (2010) betont die primäre Verantwortung von Politik und Gesellschaft in der Frage der Armutsbekämpfung. Nach ihrer Auffassung wirken einzelne Projekte nur partiell gegen materielle Benachteiligung und bleiben damit im Bereich der Sekundärprävention verortet. Im Sinne verbriefter Kinderrechte versteht Zander die Freiheit von Armut als fundamentales Menschenrecht und geht von der zentralen These aus, dass ein Aufwachsen unter Bedingungen sozioökonomischer Benachteiligung ein bedeutsames Entwicklungsrisiko für Kinder darstellt. (vgl. Zander 2010: 31)

Auch Gerda Holz und Andreas Puhlmann (2005) weisen in ihrer Längsschnittstudie zu den Wegen und Lebenssituationen materiell benachteiligter Kinder Armut als mehrdimensionales gesellschaftliches Phänomen aus, das eine individuelle Lebenslage darstellt und sich vor allem durch die folgenden Merkmale auszeichnet (vgl. Holz/Puhlmann 2005: 14-29):

Als Ursachen werden in der ISS-Studie zum einen Erwerbsprobleme und zum anderen soziale Probleme genannt. Dabei bilden arbeitende Arme und arbeitslose Arme heute zahlenmäßig fast gleich große Gruppen. Familien in Multiproblemlagen stellen die kleinste Gruppe der Armutsbetroffenen dar, werden aber in der öffentlichen und politischen Diskussion gerne als Prototyp von Armut vorgestellt. Diese Gruppe wird aber zugleich dazu benutzt, um vermutetes individuelles Fehlverhalten – fehlendes Eigenengagement, unverständliches Bewältigungshandeln oder sozial unerwünschte Verhaltensweisen – zu belegen und anzuprangern; eine ideale Grundlage zur Verfestigung sozialer Ausgrenzung. Als Ergebnis der Studie werden Kinder vor allem dann als risikogefährdet betrachtet, wenn sie in einer Familie mit einem oder mehreren der folgenden fünf sozialen Merkmale aufwachsen: alleinerziehend, bildungsfern, Migrationshintergrund, mehr als zwei Geschwister, Lebensort ist sozial belastet. Fakt ist jedenfalls, dass arme Kinder arme Eltern haben. Kinderarmut wird in vier Dimensionen/Lebenslagen gefasst: materielle Lage, soziale Lage, Gesundheit und kulturelle Lage. Diese Dimensionen der Kinderarmut finden sich in den komplexen Lebenslagetypen Aufwachsen im Wohlergehen, Benachteiligung und multiple Deprivation wieder. (vgl. Holz/Puhlmann 2005: 14-29)

In ihrem Bericht über arme und benachteiligte Jugendliche auf dem Weg ins Berufsleben weisen Hock und Holz (2000) auf Intergenerationswirkungen von Armut und sozialer Ausgrenzung hin:

„Es scheint sicher zu sein, daß Kinder und Jugendliche aus Armutsmilieus von Stigmatisierung und Diskriminierung nicht verschont bleiben und daß dies Folgen haben kann für den ganzen weiteren Lebensweg in dem Sinne, daß Armut über die Generationsgrenzen hinweg ‚vererbt’ wird.(…) Daraus läßt sich folgern, daß Armut auch Auswirkungen darauf hat, ob Jugendliche beziehungsweise junge Erwachsene den Übergang von der Schule in die Berufsausbildung erfolgreich gehen oder an dieser Schwelle scheitern.“ (Hock/Holz 2000: 73)

Diese jungen Menschen werden als sozial benachteiligt bezeichnet, die Systeme hinter ihnen, ihre Familien oder Teilfamilien und ihre materiellen Reproduktionsprobleme werden jedoch nur ansatzweise beforscht. (vgl. ebd.)

Wie wirkt sich die Spirale der Pauperisierung, der Marginalisierung, der Entwertung auf Kinder und Jugendliche aus, die in ökonomisch benachteiligten Familiensystemen aufwachsen? Können sie sich den schädigenden Prozessen entziehen, werden sie von Stigmatisierung und Ausgrenzung verschont, wo sie doch als unschuldig arm, als „würdige“ Arme gelten? Warum und wie kommt es zur Infantilisierung der Armut, zu einer überproportionalen Betroffenheit der Jüngsten in unserer Gesellschaft? In der Armut/Faktensammlung der Volkshilfe Österreich wird davon ausgegangen, dass in Österreich derzeit 410.000 Kinder und Jugendliche bis zu einem Alter von 24 Jahren armutsgefährdet sind, also 18 Prozent. Leben die Kinder und Jugendlichen in Ein-Eltern-Haushalten oder in Mehrpersonenhaushalten mit mindestens drei Kindern, steigt ihre Armutsgefährdung auf 31 Prozent bzw. auf 24 Prozent. Laut Statistik Austria ist für 35 Prozent der armutsgefährdeten Menschen in Österreich der Pflichtschulabschluss die höchste abgeschlossene Schulbildung. Hinzu kommt die vergleichsweise geringe Bildungsmobilität zwischen den Generationen. Während im OECD-Durchschnitt rund 39 Prozent der 25- bis 64-Jährigen einen höheren (formellen) Bildungsstand und nur 12 Prozent ein niedrigeres Ausbildungsniveau als ihre Eltern erreichen, sind es in Österreich 29 Prozent bzw. 16 Prozent. (vgl. Volkshilfe Österreich 2016)


7. Conclusio

Die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe zeigt uns, dass der Großteil der Kinder und Jugendlichen, mit denen wir arbeiten, in ihrem Lebensalltag und in ihrem familiären Bezugssystem über längere Zeiträume bzw. auch durchgehend mit den Problemen und negativen Auswirkungen sozioökonomischer und damit struktureller Benachteiligung konfrontiert sind. Sie ist die unmittelbare Ursache für eine oftmals über Generationen verfestigte soziale Ausgrenzung und spiegelt sich in allen Lebenswelten der Kinder wider. Drohender Wohnraumverlust, bevorstehende oder auch schon vollzogene Energieabschaltung, Einschränkungen in der Versorgung, nicht geleistete Schulbeiträge etc. verhindern die Möglichkeiten der Teilhabe, zeigen negative gesundheitliche Auswirkungen sowohl somatischer als auch psychischer Prägung, beeinflussen Emotionen und Gefühle, verletzen Selbstvertrauen und Selbstwert, verkürzen damit Bildungswege, führen zu Jugendarbeitslosigkeit, beeinträchtigen die kulturelle, soziale und kognitive Entwicklung bis hin zur multiplen Deprivation.

Die Kinder- und Jugendhilfegesetzgebung als verbindliche Maxime sozialarbeiterischen Handelns, aus der sich der Zugang zum Arbeitsfeld sowie Methoden und Ressourcen in der Kinder- und Jugendhilfe ableiten, steht also mit ihrer Definition der Grundlagen und Ziele wie auch mit den sich daraus ergebenden Aufgaben in absolutem Dissens zur internationalen Definition Sozialer Arbeit, zu den Theorien Sozialer Arbeit, zu den Ergebnissen aus der Kinderarmuts- und Resilienzforschung, zu den Kinder- und Menschenrechten. Damit offenbart sich fehlende Auseinandersetzung und Kenntnis der Ursachen sozialer Problemlagen und der Herausforderungen, mit denen Kindern und Jugendliche konfrontiert sind. Die inflationäre Verwendung des Begriffs der Erziehung bzw. der Pflege und Erziehung weist vielmehr darauf hin, dass daraus ableitend die aktuellen Ressourcen, die möglichen Maßnahmen und Interventionen auf Normalisierung und Disziplinierung von Menschen abzielen, die auf Grund von struktureller Gewalt, erschwerten ökonomischen Bedingungen, Chancenungleichheit und ähnlichen Faktoren einer fragmentierten, auf Leistung und Effizienz ausgerichteten Gesellschaft, von Erfahrungen der mangelnden Teilhabe, von Ausgrenzung oder Marginalisierung betroffen sind. Kinder und Jugendliche selbst als Subjekte und Akteur*innen mit einem Recht auf Selbstbestimmung können unter diesem repressiven Blickwinkel, der vorrangig auf Erziehung von Kindern abzielt und in dem sie selbst maximal als Objekte oder Produkte von Erziehung vorkommen, keinen Raum finden. Dieser defizitären und nach rückwärts gerichteten Standortbestimmung der Kinder- und Jugendhilfe müssen unweigerlich Problematisierung, Symptomatisierung, Pathologisierung und Stigmatisierung strukturell benachteiligter Kinder und ihrer Familiensysteme folgen. Wir sehen solche verfestigten Zuschreibungen beispielsweise in den Begrifflichkeiten NEETS (Not in Education, Employment or Training), das schulschwache Kind, das auffällige Kind, einkommensschwache Menschen, Multiproblemfamilien etc. Die dringend notwendige Dekonstruktion von Menschen als Fällen, von den Problemlagen, mit denen sie konfrontiert sind, als Erziehungsdefiziten, von möglicher professioneller Unterstützung als Einzelfallhilfe und Hilfe zur Erziehung wäre ein bescheidener, aber doch ein Anfang. Unser Ziel könnte in Anlehnung an Arno Gruen (2013) die Möglichkeit sein, als Originale unserer selbst nicht nur geboren zu werden, sondern auch unsere Lebensführung als Subjekte und Originale in Gemeinschaft und mit dem Anspruch auf Unterstützung durch diese Gemeinschaft gestalten zu können, um nicht als erzogene, disziplinierte, entäußerte Kopien unserer selbst leben zu müssen.


Literatur

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Über die Autorin

Dagmar Fenninger-Bucher
dagmar.fenninger-bucher@edu.fh-campuswien.ac.at / so161808@fhstp.ac.at

Gruppenleiterin der Kinder- und Jugendhilfe am Magistrat Wiener Neustadt und Projektleiterin der Initiative Kinderzukunft – jedem Kind alle Chancen. Derzeit berufsbegleitendes Masterstudium der Sozialen Arbeit an der FH St. Pölten. Nebenberuflich als Schriftstellerin und als Lehrbeauftragte am FH Campus Wien tätig (Forschung- und Projektentwicklung).

Publikationen:
jetzt, wo sie fortgeht (Roman), Verlag Bibliothek der Provinz 2012.
Ich bin, wer ich war. Mit Demenz leben. (Literarische Porträts), Residenz Verlag 2014.
Wir sind hier, wir tragen Namen (Roman). Verlag Bibliothek der Provinz 2014.