soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 18 (2017) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Eisenstadt
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/532/945.pdf
Tanja Tegeltija:
1. Einleitung
Im Jahr 2016 leben in Wien 776.800 Menschen mit Migrationshintergrund (vgl. Statistik Austria 2017). Die Anzahl umfasst alle ZuwanderInnen der ersten und zweiten Generation und entspricht 42,8% der Gesamtbevölkerung. So kann davon ausgegangen werden, dass der Migrationsanteil in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften mindestens genauso hoch ist. Die Kinder und Jugendlichen wachsen vermehrt in anderen Kulturen und somit zwei- oder mehrsprachig auf. Da das Angebot an SozialpädagogInnen mit mehrsprachiger Kompetenz oftmals mangelt, ergeben sich in der Alltagsbewältigung große Herausforderungen in Wiener Wohngemeinschaften.
Oft wird der Begriff „Mehrsprachigkeit“ unterschätzt, allerdings handelt es sich dabei um einen komplizierten Sachverhalt. Denn die zweisprachige Entwicklung kann sowohl mit Chancen, als auch mit Risiken verbunden sein. Daher sollte sie als ein wesentlicher Faktor des kindlichen Aufwachsens betrachtet werden.
Eine Unterbringung in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft stellt für Kinder und Jugendliche einen großen Umbruch im Leben dar. Abgesehen davon, dass unterschiedliche Lebensstile und -verhältnisse aufeinanderstoßen, muss sich das Kind an neue Menschen, eine neue Umgebung und an andere Sitten und Bräuche gewöhnen. Aus Sicht der Forscherin haben Traditionen aus der Familie (wie eigene Feste, Erzählungen und Sagen aus dem Herkunftsland) einen hohen Stellenwert im Leben eines Menschen und tragen einen wesentlichen Anteil zur Identitätsentwicklung bei. Daher ist die Fortsetzung dieser Besonderheiten, in einem solchen Lebensumbruch umso bedeutender. Doch bekommen die Kinder und Jugendlichen auch nach einer außerfamiliären Unterbringung die Möglichkeit, ihre Kulturmerkmale und die damit verbundene Erstsprache weiterzuführen?
Der folgende Artikel basiert auf den Ergebnissen meiner Bachelorarbeit „Kultursensibilität und Mehrsprachigkeit in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften“ als Abschlussarbeit des Studiums Soziale Arbeit an der FH Burgenland 2017. Im Zuge meiner Forschungstätigkeit beschäftigte ich mich mit folgender Forschungsfrage:
„Wie können Kinder ihre kulturellen Traditionen und Mehrsprachigkeit in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften weiterführen und wie werden sie dabei unterstützt?“
Das Forschungsziel war zum einen die Relevanz diverser Kulturmerkmale im Alltag zu erläutern und zum anderen sollte aufgezeigt werden, was Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund brauchen, um beide Milieus miteinander verbinden zu können. Meine Absicht war, Denkanstöße zum Umgang mit kulturellen Differenzen im Zuge einer außerfamiliären Unterbringung zu geben.
2. Theoretische Perspektive
Im Folgenden werden jene theoretischen Aspekte genauer erläutert, die für die Beantwortung der Forschungsfrage von Bedeutung erschienen. Diese Ausführungen sollen zum einen dem Zweck eines einheitlichen Verständnisses und zum anderen der Nachvollziehbarkeit der anschließenden Forschungsergebnisse dienen.
2.1 Chancen und Risiken im Umgang mit Mehrsprachigkeit
Es gibt eine Menge an empirischen Untersuchungen und theoretischen Ansätzen, die sich damit beschäftigen, ob die mehrsprachige Erziehung eine Überforderung oder eine Bereicherung für die kindliche Entwicklung darstellt. Ein großer Teil der Forschungsauswertungen bestätigt allerdings, dass sich die Zweisprachigkeit besonders in frühen Jahren auf viele Entwicklungsbereiche positiv auswirkt. (vgl. Triarchi-Herrmann 2012: 108).
Auch wenn die mehrsprachige Erziehung eine große Bereicherung für Kinder und Jugendliche sein kann, darf nicht geleugnet werden, dass dabei auch Schwierigkeiten entstehen können. Wird die Erstsprache der Kinder bei der Sprachentwicklung vernachlässigt, zum Beispiel durch Kindergarten oder eine außerfamiliäre Unterbringung, können Sprachstörungen und unterdurchschnittliche Schulabschlüsse die Folge sein. Sprachen bauen aufeinander auf und beeinflussen sich gegenseitig. Wurde die Muttersprache also nicht ausreichend etabliert und professionalisiert, kann das richtige Erlernen jeder weiteren Sprache nicht erfolgen (vgl. Verband binationaler Familien und Partnerschaften 2007: 7-8).
Mehrsprachigkeit kann, abgesehen von der kognitiven Entwicklung, auch einen starken Einfluss auf die emotionale Entwicklung eines Kindes haben. In erster Linie geht es darum, die Sprachenvielfalt der Kinder zu erkennen und wertzuschätzen. Denn Sprache ist die Grundlage für jeden Beziehungsaufbau. Wird die Mehrsprachigkeit zum Beispiel aufgrund einer außerfamiliären Unterbringung unterbrochen und nicht weiter gefördert, kann es im schlimmsten Fall zu psychischen Erkrankungen kommen. In der Arbeit mit Kindern sollte beachtet werden, dass die Sprache, die in der frühen Kindheit von nahen Bezugspersonen übermittelt wurde, eine besondere Bedeutung beibehält. Kinder entwickeln eine emotionale Bindung zu dieser Sprache. Wird diese Sprache nicht gefördert oder sogar vernachlässigt, verliert das Kind den Bezug zu dieser Bindung und ein Stück seiner Identität (vgl. ebd.: 8).
2.2 Dimension der „Kultur“
Menschen sind von unterschiedlichen Kulturen in ihrer Identitätskonstruktion und alltäglichen Lebensführung geprägt, wobei Kultur hier nicht nur im Sinne nationaler oder religiöser Zugehörigkeit gedacht wird. Kulturen unterschieden sich voneinander durch bestimmte Merkmale wie Religion, Wahrnehmung, Zeit- und Raumerleben, Sprache, Wertorientierung etc. All diese Komponenten sind miteinander verbunden und begleiten Menschen in ihrem Verhalten, ohne dass es bewusst wahrgenommen wird. Es sind Selbstverständlichkeiten, die für alle Mitglieder einer Kultur als natürlich empfunden werden. Erfolgt eine Begegnung mit einer anderen Kultur, stellt sich schnell heraus, dass es auch alternative Formen des Denkens und Handelns gibt. Häufig kommt es zu Stolpersteinen, wenn versucht wird, diese unterschiedlichen Lebensarten miteinander zu vereinbaren (vgl. Maletzke 1996: 42). Oft ist es unumgänglich „fremde“ Kulturen in das eigene, gewohnte Schema zu integrieren. Beispielsweise, wenn Menschen aus verschiedenen Ländern einen Lebensraum teilen, wie es in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften der Fall ist.
Jeder Mensch hat seine kulturelle Identität jahrelang aufgebaut und so stark verinnerlicht, dass sich kaum jemand über das Ausmaß der eigenen kulturellen Prägung bewusst ist. Im Fremdunterbringungskontext kann das enorme Auswirkungen haben, denn die Erziehungserfahrungen der Kinder mit Migrationshintergrund entsprechen häufig nicht den Erwartungen der Fachkräfte. Dies stellt für beide Seiten eine große Herausforderung dar und die Kinder und Jugendlichen können unterschiedlich darauf reagieren. An diesem Punkt sollte Klarheit darüber geschaffen werden, dass differierende Werthaltungen zu verschiedenen Erwartungen führen. Es verlangt viel Sensibilität und bewusste Reflexion, um die persönliche Grundhaltung zu erkennen und beidseitiges Verständnis zu ermöglichen (vgl. Zoller-Mathies/Steixner 2011: 3-5).
3. Methode der Datenerhebung und -auswertung
Um verschiedene Sichtweisen in Bezug auf die Integration von diversen Kulturmerkmalen in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften zu bekommen, wurden in der vorliegenden Arbeit drei problemzentrierte Interviews mit SozialpädagogInnen, die in unterschiedlichen sozialpädagogischen Wohngemeinschaften tätig sind, geführt. Dabei wurden die Fachkräfte mit dem Thema „Kultursensibilität und Mehrsprachigkeit“ konfrontiert.
Die ausschlaggebendsten Aspekte aus der Datenerhebung wurden mithilfe des Kodierparadigmas zerlegt und analysiert. Dieses Verfahren erfolgt in drei Schritten: dem Paraphrasieren, dem offenen Kodieren und dem axialen Kodieren. Diese drei Phasen verlaufen aufbauend und sind daher miteinander verbunden. Das Kodierparadigma ist in der Gounded Theory von Strauss und Corbin verankert und ermöglicht einen qualitativen Forschungsansatz. „Das Ziel der Grounded Theory ist das Erstellen einer Theorie, die dem untersuchten Gegenstandsbereich gerecht wird und ihn erhellt.“ (Strauss/Corbin 1996: 9). Durch dieses Verfahren soll es also der/dem ForscherIn gelingen, eine Theorie zu entwickeln, um latente – also für die Interviewten bewusst nicht zugängliche – Inhalte sichtbar zu machen (vgl. ebd.: 18). Dies ist insbesondere bei der vorliegenden Forschungsfrage der Fall, in der es um unbewusste Handlungen, Erwartungen, Rollenzuschreibungen und Interaktionen auf Basis soziokultureller Prägung geht.
4. Ergebnisse der empirischen Auseinandersetzung
Im Folgenden werden Originalzitate aus den problemzentrierten Interviews, die den unterschiedlichen Umgang und die Positionierung Sozialer Arbeit hinsichtlich Mehrsprachigkeit in den unterschiedlichen WGs zeigen, wiedergegeben und analysiert. Dabei werden gleichzeitig die unterschiedlichen Arbeitsweisen der SozialpädagogInnen aus verschiedenen Wohngemeinschaften miteinander verglichen.
4.1 Mehrsprachigkeit in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften
„Manchmal ist es halt wichtig, dass wir als Betreuer wissen, über was Kinder sprechen (…) Aber ich verbiete nicht, dass sie Sprachen sprechen. Jede Sprache, die ein Kind kann ist ein Plus für das Kind und dementsprechend muss das natürlich unterstützt und gefördert werden.“ (Sozialpädagoge 1: Z. 27-34)
Sozialpädagoge 1 steht den mitgebrachten Sprachen der Kinder offen gegenüber. Bei der Betreuung der Heranwachsenden toleriert er, wenn „fremde“ Sprachen zur Kommunikation untereinander eingesetzt werden. Er empfindet diese Sprachkompetenz als Vorteil und ist daher der Meinung, dass diese gefördert werden soll. Die Professionalisierung und Etablierung der Erstsprache bildet eine bedeutende Basis für das Erlernen jeder weiteren Sprache. Der Sozialpädagoge ist sich dessen offensichtlich bewusst und verweigert den Kindern daher nicht die Verwendung ihrer Muttersprache. Offen bleibt, ob er gezielte Methoden verwendet, um die Förderung der Erstsprachen zu unterstützen. Außerdem bleibt ungeklärt, wie seine KollegInnen zu diesem Thema stehen und agieren. Grundsätzlich sollte sich das gesamte Team darüber einig sein, wie Kulturen und Mehrsprachigkeit in eine Einrichtung integriert werden. Des Weiteren sollten pädagogische Maßnahmen, um kulturelle Hintergründe in den Alltag einzubinden, mit allen KollegInnen transparent kommuniziert werden. Nur mit diesem Ansatz können Kinder und Jugendlichen davon profitieren.
„In unserer WG sprechen alle Kinder untereinander Deutsch. Ja. Weil es gilt ja die Sprache zu sprechen, die jeder versteht. Allerdings haben wir einen Kollegen und eine Wirtschaftshelferin, die beide Türkisch sprechen. Hierbei wird Lucas oft verleitet mit denen eben auf Türkisch zu sprechen. Sie antworten aber beide auf Deutsch und die weisen ihn dann auch zurück und sagen (Bitte sprich Deutsch) und das Kind versteht das dann auch nicht falsch. Es sind einfach kurze Momente, wo das Kind dann die Muttersprache spricht, aber dann weisen wir die Kinder darauf hin und das ist dann auch kein Problem.“ (Sozialpädagoge 2: Z. 33-37)
Sozialpädagoge 2 beschreibt im Gegensatz zu Sozialpädagoge 1, dass es nicht gern gesehen wird, wenn die Kinder ihre Muttersprache in der Wohngemeinschaft sprechen. Vielmehr werden sie dazu aufgefordert, sich auf Deutsch zu unterhalten. Vermutlich steht die Sorge um einen möglichen Kontrollverlust – da die PädagogInnen die „fremde“ Sprache nicht verstehen – im Vordergrund. Genauso besteht womöglich auch die Angst, dass sich durch die Verwendung der unterschiedlichen Sprachen, einzelne Gruppen bilden könnten. Nichtsdestotrotz, macht es den Eindruck, als hätten die Kinder und Jugendlichen den Drang dazu, ihre Erstsprache zu verwenden. Denn obwohl ihnen bewusst ist, dass sie ermahnt werden, versuchen sie das „Verbot“ zu umgehen und setzen ihre Muttersprache trotzdem ein. Die Kinder suchen sich bewusst die Menschen, die ihre Sprache verstehen und möchten mit ihnen einen Dialog führen. Doch sie treffen immer wieder auf Abweisung. Ihnen wird vermittelt, dass ihre Erstsprache in der Institution fehl am Platz ist. Der Sozialpädagoge versucht diese Vorgehensweise zu bagatellisieren, indem er äußert, dass das für die Kinder „auch kein Problem ist“. Anscheinend ist ihm nicht bewusst, dass die Erstsprache aller Heranwachsenden ein wichtiges Identitätsmerkmal darstellt und der Abbruch zu Schwierigkeiten in der kindlichen Entwicklung führen kann. Den Kindern wird durch die Verweigerung der Muttersprache Ablehnung ihrer kulturellen Prägung vermittelt.
4.2 Konflikte im Alltag aufgrund der Mehrsprachigkeit
„Wenn Konflikte innerhalb der Sprache entstehen. Also wenn jetzt sich zwei Geschwister in einer Sprache streiten, die ich nicht versteh. Das ist sehr schwer. (…) Da hilft es dann im Endeffekt einfach die Situation zu beruhigen und danach in einem Gespräch einfach wieder aufarbeiten, was ist da passiert (…) Ähm, verlangt natürlich viel Spitzengefühl von den Pädagogen.“ (Sozialpädagoge 1: Z. 57-65)
Dadurch, dass Sozialpädagoge 1 sehr tolerant der Integration unterschiedlicher Sprachen im Alltag gegenübersteht, entstehen in dieser Hinsicht auch pädagogische Herausforderungen. Er beschreibt, dass durch die Einbindung der Muttersprache in die Wohngemeinschaft zusätzliche Anforderungen an die SozialpädagogInnen entstehen. Die Fachkräfte müssen ein besonders hohes Maß Einfühlungsvermögen am dem Tag legen. Trotzdem bleibt er seiner Grundhaltung zu dem Thema treu und lässt sich dadurch nicht verunsichern.
„Und wenn andere Kinder in der Nähe sind, die kriegen das nicht so mit, wenn jemand eine andere Sprache spricht, weil wir sie rechtzeitig darauf hinweisen, dass sie bitte Deutsch sprechen sollen. Aber insofern gibt es jetzt keine Konflikte, weil’s nie so Thema war.“ (Sozialpädagoge 2: Z. 45-47)
Die Heranwachsenden, die versuchen ihre Muttersprache zu benutzen, werden gleich aufgefordert Deutsch zu sprechen. Dadurch soll vermieden werden, dass zusätzliche Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung entstehen. Die SozialpädagogInnen sind anscheinend der Meinung, dass das Einbinden der Erstsprache Probleme hervorrufen könnte, die sie zu vermeiden versuchen. Beispielsweise könnte es zu Gruppenbildungen kommen und diesem Phänomen möchten die Fachkräfte entgegenwirken. Sie sind vermutlich davon überzeugt, dass Kinder und Jugendliche, die diese „fremde“ Sprache nicht verstehen, nicht möchten, dass eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird. Offen bleibt, ob es tatsächlich ein Problem für diese Kinder darstellt, wenn unterschiedliche Sprachen in den Alltag einfließen. Doch scheinbar ist das „nie so Thema“ in dieser Wohngemeinschaft. Es macht sich niemand nähere Gedanken darüber und so entstehen auch keine Konflikte.
4.3 Förderung der Mehrsprachigkeit in Wohngemeinschaften
„(…) sie motivieren, dass sie mit den Eltern ihre Muttersprache sprechen oder dass sie was erzählen oder einen Film in der Muttersprache anschauen, dabei werden sie unterstützt.“ (Sozialpädagogin 3: Z. 124-125)
In der Wohngemeinschaft, in der Sozialpädagogin 3 tätig ist, stehen den Kindern neben der Möglichkeit, ihre Muttersprache untereinander zu sprechen, Medien in verschiedenen Sprachen zur Verfügung. Wenn die Heranwachsenden das Bedürfnis haben, sich mit Sprachen und anderen Welten auseinanderzusetzen, wird ihnen das durch fremdsprachige Filme oder CDs ermöglicht. Damit die Muttersprache nicht vernachlässigt wird, werden sie zusätzlich immer wieder daran erinnert, in der Kommunikation mit der Familie ihre Sprache einzusetzen.
„In unserer Wohngemeinschaft bedarf es an keiner derartigen Unterstützung, da die Kinder ausschließlich zu Hause ihre Muttersprache sprechen und in dieser Weise gefördert werden, um ihre Muttersprache sozusagen weiterzuentwickeln. Aber professionalisieren können wir nur, indem wir die Kinder in irgendwelche Kurse geben oder anbieten, dass wir dahingehen oder, dass die halt bitte die Sprache zuhause lernen.“ (Sozialpädagoge 2: Z. 97-102)
Da es in dieser Wohngemeinschaft von Sozialpädagoge 2 für die Kinder und Jugendlichen nicht vorgesehen ist, ihre Muttersprache zu sprechen, fällt auch eine derartige Unterstützung weg. Die Heranwachsenden können ihre Erstsprache nur in Verbindung mit ihrer Familie weiterentwickeln. Der Sozialpädagoge reflektiert scheinbar nicht, dass die Kinder durch die Fremdunterbringung nur wenig Zeit zu Hause verbringen. Das bedeutet, sie erleben durch die Unterbringung einen Entwicklungsabbruch ihrer Herkunftssprache und somit auch ihrer Identität. Wie mehrere Theorien bestätigen, bildet die Erstsprache eine Brücke zu jeder weiteren Sprache. Das heißt, wenn die Muttersprache nicht professionalisiert und etabliert wurde bzw. wird, kann keine Zweitsprache richtig erlernt werden. Das ist eine häufige Ursache von mangelnden Deutschkenntnissen bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die Relevanz der richtigen Aneignung der Erstsprache wird unterschätzt und vielmehr steht die Sorge der fehlenden Kompetenzen der Zweitsprache im Vordergrund. Solange die Muttersprache allerdings nicht richtig entwickelt wurde, können mangelnde Kenntnisse mit noch so vielen Förderungsmaßnahmen partout nicht aufgeholt werden. Denn alle Sprachen, die ein Mensch im Laufe des Lebens erwirbt, stehen im ständigen Wechselspiel zueinander und bilden eine Ganzheit. Abgesehen von eventuellen Sprachschwierigkeiten, kann der Sprachabbruch einen wesentlichen Einfluss auf die psychische Stabilität des Kindes haben. Jeder Mensch bildet zu seiner Erstsprache eine besonders emotionale Bindung. Mit dieser Sprache werden besondere Feste, Menschen und Orte in Verbindung gebracht. Wird die Erfahrung gemacht, dass diese Sprache unerwünscht ist, bricht ein wichtiger Teil der eigenen Identität weg.
Sozialpädagoge 2 ist scheinbar der Ansicht, dass seitens der Wohngemeinschaft eine Förderung der Erstsprache nur durch Kurse ermöglicht werden kann. Es wird nicht erkannt, dass das Team auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, zum Beispiel indem es den Heranwachsenden – zumindest zu bestimmten Zeiten – gewährt wird, ihre Muttersprache untereinander zu benutzen.
4.4 Interkulturelle Traditionen in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften
„(…) wir achten da eben auch beim Essen, dass wir immer wieder auch mit den Kindern zusammen kochen, damit sie was zeigen von sich. Wir achten auch bei Festen darauf, dass wir, wenn Kinder ein Fest feiern wollen, dass sie aus ihrer Heimat kennen, dann erzählen sie uns manchmal davon. Dann können wir das zusammen feiern. (…) einfach ein Geben und Nehmen. Zusammen wachsen.“ (Sozialpädagoge 1: Z. 136-140)
Sozialpädagoge 1 berichtet, dass durch verschiedene Aktivitäten die unterschiedlichen Kulturen der Heranwachsenden, in den Alltag miteinbezogen werden. Mit den Kindern kann zum Beispiel gekocht werden, dadurch können sie auch typische Mahlzeiten zubereiten. Durch das gemeinsame Kochen fühlt sich das Kind gebraucht und wenn es dabei etwas Persönliches einbringen darf, wird zusätzlich ein Gefühl von Wichtigkeit und Respekt vermittelt. Außerdem zeigen die SozialpädagogInnen gegenüber den mitgebrachten Kulturen Interesse, indem sie die Kinder dazu animieren, darüber zu erzählen. Wenn jemand den Wunsch hat, ein bestimmtes Fest in der Wohngemeinschaft zu feiern, besteht dazu auch die Möglichkeit. Der Sozialpädagoge empfindet die Einbindung der Kulturen als persönliche Bereicherung. Die Kinder können Neues von ihm lernen und er genauso von ihnen. Diesbezüglich wäre die Sicht der Heranwachsenden interessant. Denn offen bleibt, ob diese fast überspitzte Vorgehensweise auch von den Kindern und Jugendlichen so positiv erlebt wird, oder ob sie sich auf ihre Herkunft reduziert fühlen.
„Wenn sie sagen, sie wollen uns eine Mahlzeit aus ihrer Kultur zeigen, dann können wir das auch kochen. Wir wollen da nichts aufzwingen, aber die Kinder selber haben nie den Eindruck gemacht, sie wollen jetzt unbedingt ein Fest aus ihrer Kultur bei uns feiern.“ (Sozialpädagoge 2: Z. 143-145)
Auch in dieser Wohngemeinschaft wird versucht, die unterschiedlichen Kulturen durch das Kochen von besonderen Speisen zu integrieren. Allerdings nur, wenn ein Kind das aktiv einfordert. Das bedeutet, der Vorschlag muss vom Kind kommen, damit es die Möglichkeit bekommt, etwas von Zuhause einzubringen. Es ist fraglich, inwieweit die Heranwachsenden den Mut haben, solche Aktivitäten nahezulegen, wenn allein der Gebrauch der Muttersprache unerwünscht ist. Natürlich ist das Kochen von kulinarischen Mahlzeiten eine tolle Möglichkeit, die außerfamiliäre Unterbringung mit etwas Heimatlichem und Gewohntem zu verbinden. Allerdings sollte dabei gleichzeitig beachtet werden, dass den Kindern und Jugendlichen nichts aufgezwungen wird. Es kann nämlich durchaus der Fall sein, dass die Familie schon länger in Österreich lebt und sich ihre Ess- und Kochgewohnheiten entsprechend verändert haben. Vielleicht haben die Heranwachsenden keinen Bezug zu traditionellen Mahlzeiten, aber sehen das Kochen als einzige Möglichkeit, ihre Kultur zu zeigen und die anderen dafür zu begeistern. Es sollte nicht die einzige Form der Einbindung sein.
„Ich glaub sie würden schon gern ihre Traditionen aus der Familie in der WG weiterführen, aber die Kinder können sich auch so schlecht erinnern. Sie können es nicht in Worte fassen, sie erzählen dann auch irgendwas. Ich weiß oft nicht, was sie meinen. Ich kenn das ja nicht. (…) Aber die freuen sich immer, wenn sie irgendwas sehen was mit ihrem Land zu tun hat.“ (Sozialpädagogin 3: Z. 152-155)
Die Kinder und Jugendlichen der Einrichtung wollen scheinbar den Bezug zu ihren kulturellen Traditionen nicht verlieren. Sie berichten auch gerne darüber und möchten mitteilen, wie wunderbar ihre Kultur ist. Doch die Traditionen wurden in der Institution nicht weitergeführt und rücken somit immer weiter in den Hintergrund. Die Heranwachsenden mit Migrationshintergrund passen sich durch die Fremdunterbringung an und vergessen die Merkmale ihrer Kultur, wie gewohnte Feste, Mahlzeiten oder Bräuche. In der Wohngemeinschaft kann eine Weiterführung nicht angeboten werden, da es anscheinend an der interkulturellen Kompetenz mangelt. Die Fachkräfte kennen natürlich die Eigenschaften der einzelnen Kulturen nicht und können daher auch keine Methoden anbieten, um diese in den Alltag einzubinden. Durch ein größeres Angebot an SozialpädagogInnen mit Migrationshintergrund, die ihr interkulturelles Wissen auch in der pädagogischen Arbeit nutzen, könnte diesem Problem entgegengewirkt werden. Genauso wie durch die Erweiterung der Curricula der betreffenden Ausbildungen im Hinblick auf die Interkulturalität.
4.5 Wie gehen Kinder und Jugendliche mit „fremden“ Kulturen um?
„Die Kinder freuen sich meistens sehr darauf, weil sie das kennenlernen wollen, wie das jetzt ist. Es ist halt etwas, das man sieht die ganze Zeit, aber nie selber feiert und dann hat man die Chance, dass man da mitmacht. Sie sind sehr offen und tolerant dabei.“ (Sozialpädagoge 1: Z. 151-154)
Auch Kinder, die nicht der katholischen Religion zugehören, kennen Feiertage wie den Heiligen Abend oder Ostern. Sie erleben diese durch Medien oder Erzählungen von Schulkammeraden, hatten aber bislang noch nicht die Gelegenheit selbst Teil dieser Feierlichkeiten zu sein. Daher ist die Freude umso größer, nun gemeinsam mit ihrer WG-Gruppe an diesen Festen teilzuhaben.
„Die Kinder lieben das Fest sehr, egal ob die einen orthodoxen oder auch muslimischen Hintergrund haben. Sie genießen es und prahlen auch damit.“ (Sozialpädagoge 2: Z. 235-236)
Alle Kinder dieser Wohngemeinschaft – unabhängig welcher Religion sie zugehören – freuen sich, den Heiligen Abend am 24. Dezember gemeinsam mit der WG zu feiern.
„Ich glaube, die anderen Kinder würden sich auch sehr freuen, wenn verschiedene kulturelle Feste in der WG gefeiert werden.“ (Sozialpädagogin 3: Z. 204-205)
Kinder und Jugendliche sind sehr offen gegenüber kulturellen Eigenschaften eingestellt. Sie freuen sich, wenn sie Neues kennenlernen dürfen und entwickeln keine Abneigung. Es scheint so, als hätten sie generell keine Schwierigkeiten im Umgang mit unterschiedlichen Kulturen. Ganz im Gegenteil, sie würden es bevorzugen, mehr davon zu erfahren. Das zeigt, dass Kinder weltoffen sind. Neues kennenzulernen verängstigt sie nicht. Sie sind neugierig und wollen die Welt der anderen Kinder erforschen. Wenn sie Vorurteile aufbauen, dann vermutlich nur, wenn ihnen diese vermittelt wurden.
4.6 Interkulturelle Kompetenz in Bezug auf die Ausbildung
„Es wäre sicher gut, es näher zu behandeln. Was für Unterschiede es gibt und worauf man Rücksicht nehmen sollt. Aber ich glaub, dass da die Gefahr ist, dass man zu viel auf die Kultur schiebt und quasi der die Schuld gibt für alles Negative.“ (Sozialpädagogin 3: Z. 223-236)
Sozialpädagogin 3 schildert, dass es von Vorteil wäre, wenn die Interkulturalität im Zuge der Ausbildung näher thematisiert werden würde. So hätten SozialpädagogInnen bereits beim Berufseinstieg einen Überblick über diverse Kulturmerkmale. Sie wüssten zumindest in groben Zügen über kulturelle Feste, Speisen und Bräuche Bescheid. Somit hätten auch Kinder und Jugendliche keine großen Schwierigkeiten dabei, wenn sie sich an typische Traditionen nicht mehr allzu gut erinnern können. Durch diese Erweiterung der interkulturellen Kompetenz im Zuge der Ausbildung könnte den Kindern nämlich auf die Sprünge geholfen werden. Schwierigkeiten im Beziehungsaufbau und besondere Verhaltensweisen könnten vermutlich ebenfalls besser reflektiert werden. Des Weiteren könnten SozialpädagogInnen durch diese Fertigkeiten gezielte Angebote initiieren, um die unterschiedlichen Kulturen in die Einrichtung einzubinden. Der Nachteil dabei ist, dass die Kinder zwangsläufig aus ihrer Rolle als ExpertInnen in diesem Gebiet fallen. Außerdem würde die Gefahr bestehen, dass jedes unerwünschte Verhalten der Heranwachsenden auf die kulturellen Hintergründe zurückgeführt wird. Die Kultur könnte somit als Ursache für alles Negative gesehen werden und somit die Identität der Kinder auf ihre religiöse, ethnische oder nationale Zugehörigkeit reduziert oder zumindest diese für sie noch relevanter werden. Dies könnte zur Folge haben, dass damit kulturelle Unterschiede in der WG-Gruppe mehr Beachtung finden als davon unabhängige Gemeinsamkeiten aller Kinder.
5. Fazit
Wie die Analyse der empirischen Daten zeigt, kann in den untersuchten Einrichtungen keine einheitlich professionelle Arbeitsweise identifiziert werden, damit Kinder und Jugendliche ihre kulturellen Traditionen und Mehrsprachigkeit in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften weiterführen können. Die Auseinandersetzung mit dem Material verdeutlicht, dass eine Vielfalt an Strategien und Möglichkeiten die Arbeit in sozialpädagogischen Wohngemeinschaften hinsichtlich kultureller Aspekte bestimmt. Diese führen jedoch allesamt zu keinem einheitlichen Vorgehen.
Durch gesellschaftliche Entwicklungen ergeben sich zahlreiche Veränderungen in all unseren Lebensbereichen. Gerade die weltweite Migration, die durch Kriege, die zunehmende Globalisierung, Wirtschaftskrisen oder Naturkatastrophen entsteht, spielt hierbei eine bedeutende Rolle. Unter anderem ist es auch die Aufgabe der Sozialen Arbeit, die fachlichen Standards entsprechend dieser Entwicklungen anzupassen. Doch wie die Ergebnisse darstellen, existieren in den befragten Institutionen keine einheitlichen Richtlinien im Hinblick auf die Interkulturalität. Der Vergleich der Interviews veranschaulicht zwei sehr unterschiedliche Positionierungen Sozialer Arbeit. Denn während es in der einen sozialpädagogischen Wohngemeinschaft keinerlei Problem darstellt, die Muttersprache zu sprechen, ist es in der anderen nicht einmal zu bestimmten Zeiten erlaubt.
Hier macht es den Eindruck, als würde neben den allgemeinen hohen pädagogischen Anforderungen an die Fachkräfte weder Raum noch Zeit bleiben, um zusätzliche Methoden einfließen zu lassen, die einen Austausch über Gemeinsamkeiten und Eigenarten der jeweiligen Kulturen ermöglichen. Doch allein durch die Einbindung von Banalitäten kann Offenheit, Wertschätzung und Toleranz vermittelt werden.
Ziel der Forscherin war es, mit diesem Artikel die LeserInnen dazu anzuregen, sich über die eigenen Werte bewusst zu werden und zu reflektieren, welchen Einfluss sie auf den persönlichen Arbeitsansatz haben. Denn fraglich ist, wie es dazu kommt, dass mehrsprachige Fachkräfte, die in der Sozialen Arbeit generell mangelnd vorhanden sind, ihre Kompetenz nicht nutzen, um die verschiedenen Sprachen der Heranwachsenden zu fördern. Denn wie die Theorie bestätigt, stellt die Professionalisierung der Erstsprache eine wichtige Basis für das Erlernen jeder weiteren Sprache dar. Wenn diese Arbeitsweise bewusst reflektiert werden würde, könnten eventuell alternative Lösungen gefunden werden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mit Interkulturalität in den untersuchten Institutionen widersprüchlich und heterogen umgegangen wird. Der erste Schritt in die richtige Richtung bezüglich der Entwicklung der interkulturellen Kompetenz ist das Reflektieren und Bewusstwerden der kulturellen Wurzeln der Fachkräfte. Denn die „Kultur nimmt Einfluss auf die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, wahrnehmen und uns darin verorten.“ (Zoller-Mathies/Steixner 2011: 5) Im Laufe unseres Lebens treten wir mit Menschen aus verschiedensten Kulturen in Beziehung. Der Austausch über kulturelle und sprachliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten vermittelt dem Gegenüber Interesse und Wertschätzung. Allein diese Kleinigkeit kann viel bewirken und fördert gleichzeitig unser Kulturwissen.
Literatur
Maletzke, Gerhard (1996): Interkulturelle Kommunikation. Zur Interaktion zwischen Menschen und verschiedener Kulturen. Opladen: Westdeutscher Verlag GmbH.
Statistik Austria (2017): Bevölkerung in Privathaushalten nach Migrationshintergrund. http://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/bevoelkerung_nach_migrationshintergrund/033241.html (19.04.2017).
Strauss, Anselm / Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Aus dem Amerikanischen von S. Niewiarra und H. Legewie. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.
Triarchi-Herrmann, Vassilia (2012): Mehrsprachige Erziehung – Wie Sie Ihr Kind fördern. 3. Auflage, München/Basel: Ernst Reinhardt Verlag.
Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e. V. (Hg.) (2007): Kompetent Mehrsprachig. Sprachförderung und interkulturelle Erziehung im Kindergarten. 2. Auflage, Frankfurt am Main: Brandes & Aspel Verlag GmbH.
Zoller-Mathies, Susi / Steixner, Margret (2011): Kultur und Beziehung in Fremdunterbringung. In: soziales_kapital. 7 (2011), http://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/218 (15.03.2017).
Über die Autorin
Tanja Tegeltija, BA
|