soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 18 (2017) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort Wien
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Katrin Hierzer:

Postkoloniale Theorien und Soziale Arbeit

Potenziale für eine kritische Profession


1. Einleitung

In diesem Artikel wird die Relevanz von Postkolonialen Theorien für die Soziale Arbeit herausgearbeitet und diskutiert. Ausgangspunkt bildet hierbei ein kritisches Verständnis von Sozialer Arbeit, das Dynamiken zu Machtverhältnissen, Normalisierungstendenzen und Differenzkonstruktionen inkludiert. So entsteht ein Spannungsfeld, in dem es einerseits Ziel der Profession ist, Ungleichheiten zu beseitigen, andererseits wirken hegemoniale Ordnungen, in denen Differenzkonstruktionen ständig (re-)produziert werden. (vgl. Mecheril/Melter 2010: 124ff)

Auch postkoloniale Theorien entwickeln sich aus einer kritischen Betrachtungsweise gegenüber hegemonialen Ordnungen, besonders gegenüber der „eurozentrischen Sichtweise“ und der davon geprägten Wissensproduktion. Es rücken Machtverhältnisse und Ungleichheiten ins Zentrum von Diskussionen rund um Stigmatisierungsprozesse, Rassismen oder Exotismen. (vgl. Kerner 2012: 11) Spätestens seit den 1980er-Jahren sind postkoloniale Perspektiven im akademischen Diskurs etabliert, und in unterschiedlichen Disziplinen relevant. Anfangs vor allem in den Literaturwissenschaften rezipiert, fanden sie erst einige Jahre später Einzug in die (deutschsprachigen) Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie zunehmend auch in der Sozialen Arbeit. Zentral bleibt die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus bzw. Themen rund um koloniale Machtverhältnisse. So sind auf politischer, ökonomischer, kultureller sowie sozialer Ebene massive Auswirkungen zu erkennen, die in den ehemaligen Kolonien bis heute sichtbar und spürbar sind. (vgl. ebd.: 20ff)

Ausgangspunkt der postkolonialen Theorien bilden also gesellschaftliche Prozesse, die mithilfe kultureller Produktion konstruiert werden. Diese Herangehensweise eröffnet die Möglichkeit auf kritische Perspektiven, die allerdings häufig aus „akademischen Zentren der Industriegesellschaften“ (Angermüller/Bellina 2012: 35) entspringen. Umso wichtiger ist, wie auch aus postkolonialen Analysen hervorgeht, das Zusammendenken von Theorie und Praxis. (vgl. Angermüller/Bellina 2012: 28ff) Schon aus der Kombination von Theorie und Praxis zeigt sich das Potenzial für die Soziale Arbeit, denn besonders hier ist ein Ineinandergreifen dieser beiden Pole nicht wegzudenken.

Um also ein Zusammendenken von Sozialer Arbeit und postkolonialen Theorien zu diskutieren, gibt zunächst eine überblickshafte Darstellung von postkolonialen Theorien (2) eine nähere Definition. Dabei werden vor allem die in der Literatur als Hauptwerke rezipierten Konzepte Orientalismus, Subalternität und Hybridität fokussiert. In einem weiteren Schritt werden postkoloniale Theorien nochmal konkreter gesetzt und mit aktuellen, für die Soziale Arbeit relevanten Diskursen in Verbindung gebracht (3), dabei werden Themen wie Subjektbildung, Repräsentation und Gender aufgegriffen. Darauffolgend werden Dynamiken der Sozialen Arbeit, die Differenzkonstruktionen beinhalten mit historischen und globalen Prozessen in Verbindung gebracht (4), um anschließend Wirkungsebenen postkolonialer Theorien für die Soziale Arbeit (5) zu skizzieren und einen Ausblick zu diskutieren.


2. Postkoloniale Theorien: Ein Überblick

„Generell lässt sich sagen, dass postkoloniale Theorien als kritische Theorien verstanden werden können, als Theorien also, die den Anspruch erheben, auf gesellschaftliche Missstände einschließlich ihrer Ursachen und Wirkungen aufmerksam zu machen und dadurch dazu beizutragen, diese Missstände zu beheben.“ (Kerner 2012: 12)

Das Präfix „post“ ist, wie aus diesem Zitat hervorgeht, nicht im Sinne eines Phänomens, das im Anschluss an den Kolonialismus stattfindet, zu betrachten, sondern bezieht sich vielmehr auf die Verwobenheit kolonialer Herrschaft mit heutigen Strukturen. (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 16)

„Anstatt Geschichte als lineare Progression zu betrachten, wendet sich postkoloniale Theorie den Komplexitäten und Widersprüchen historischer Prozesse zu.“ (ebd.: 16)

Aus Einführungswerken zu postkolonialen Theorien lässt sich entnehmen, dass es sich hierbei nicht um ein einzelnes Theorem handelt, welches sich starr anwenden lässt, vielmehr sind sie als interdisziplinäre, dynamische und kritische Konzepte zu verstehen und anzuwenden. Wie bereits in der Einleitung erwähnt wurde, stehen Dynamiken rund um Machtverhältnisse sowie Ungleichheiten im Vordergrund. (vgl. Kerner 2012: 12, Castro Varela/Dhawan 2015: 15ff). Postkoloniale Theorien schaffen Möglichkeiten, Ungleichheiten zu erkennen, zu benennen und schließlich dagegen vorzugehen.

„Eine derartige Perspektive ermöglicht es Geschichten der Ausbeutung mehr Authentizität zu verleihen und Strategien des Widerstands zu entwickeln.“ (Bhabha 2011: 9)

Werden in der Literatur postkoloniale Theorien rezipiert, stehen häufig drei Konzepte im Fokus, auf die ich hier für ein vertiefendes Verständnis näher eingehen möchte: „Orientalismus“ nach Edward W. Said (2009), „Subalternität“ nach Gayatri Chakravorty Spivak (2008) und „Hybridität“ nach Homi K. Bhabha (2012).

Orientalismus beschreibt nach Said (2009) ein Phänomen des Otherings. Im Zentrum steht die Dichotomie von dem „fortgeschrittenen Westen“ und dem „unterentwickelten Osten“. In Anlehnung an Foucaults Diskurstheorie wird das Bild des Orients erst durch den Westen geschaffen, um Unterdrückungsmechanismen bzw. Kolonisierung zu ermöglichen und zu legitimieren. Gleichermaßen kommt es erst durch diese Form der Unterdrückung zur Identitätsbildung des Westens. (vgl. Said 2009: 11ff) Auch Stuart Hall (1994) bezieht sich in seinem einflussreichen Essay „The West and the Rest“ auf Said. Konstruktionen von dem „Westen und dem Rest“ führen schließlich zu Kategorisierungen, Homogenisierungen und es werden Bilder und Zusammenhänge im Denken produziert, welche zu Vergleichen und Hierarchisierungen führen. (vgl. Hall 1994: 137ff)

In ihrem berühmten Essay „Can the subaltern speak?“ beschäftigt sich Spivak (2008) mit der Rolle der Frau des „globalen Südens“, wobei sie die Bezeichnung der Subalternen an Antonio Gramsci anlehnt. Der Ausdruck, dass die Subalternen nicht sprechen können, bedeutet für Spivak (2008), dass der Sprechakt, im Sinne von „Sprechen“ und „Hören“ nicht vollzogen werden kann, weil die Äußerungen der Subalternen immer dem hegemonialen Hören unterlegen sind. Die Anliegen der Subalternen sind in einer postkolonialen und eurozentrischen Konstruktion verortet und werden nur in diesem Zusammenhang gehört, was wiederum andere Aspekte und Bedürfnisse verdeckt. (vgl. Spivak 2008: 126f) Am Beispiel des Verbots der Witwenverbrennung in Indien, welche durch die britische Kolonialmacht durchgesetzt wurde, veranschaulicht sich die Komplexität der Thematik. Spivak (2008) äußert sich klar gegen die Praxis der Witwenverbrennung, dennoch betont sie die Schwierigkeit durch das Eingreifen der Kolonialmacht:

„Das Image des Imperialismus als Begründer der guten Gesellschaft trägt die Markierung des Eintretens [espousal] für die Frau als Objekt des Schutzes vor ihrer eigenen Art.“ (ebd.: 81ff)

Hybridität nach Bhabha (2011, 2012) bezeichnet einen Kulturbegriff, der Kultur nicht als etwas Einheitliches versteht. Ins Zentrum der Diskussion rückt vielmehr die Beziehung bzw. das Aushandeln von Kultur. Bhabha sieht Kultur also primär als ständige Aushandlungsprozesse, die in einem kolonialen Machtverhältnis stattfinden. Betrachtet werden also Subjektkonstitutionen im Spannungsfeld von Macht und Autorität. Hybridität soll dabei aber keinesfalls mit Identität gleichgesetzt werden. So lehnt Bhabha selbst den Begriff der multiplen Identitäten ab und fokussiert in erster Linie den performativen Charakter des Konzepts. Es rücken Verhandlungsprozesse und darin enthaltene Machtverhältnisse in den Vordergrund. (vgl. Bhabha 2011: 5ff, Bhabha 2012: 61ff, Castro Varela/Dhawan 2015: 223ff, Kerner 2012: 125f, Ziai 2016: 38) Im Rahmen dieser Verhandlungen entsteht nach Bhabha (2012) ein „Dritter Raum“, der neben Interaktionen auch eine zeitliche Dimension beinhaltet. Er veranschaulicht diese Theorie mit dem Bild einer Schwelle, die symbolisch für den ständigen Übergang steht. Dabei ist weniger ein Anfangs- und ein Endpunkt dieses Übergangs von Bedeutung, sondern vielmehr die Schwelle an sich und welche Prozesse in diesem Raum ausgehandelt werden. In dem Raum entsteht schließlich ein Zustand von Liminalität bzw. eine liminale Figur; weder das eine, noch das andere, sondern etwas Neues. (vgl. Bhabha 2012: 61ff)

Postkoloniale Theorien schaffen einen neuen Blickwinkel auf gesellschaftliche Phänomene und erweitern die Sozialwissenschaften um eine neue Perspektive. Möglichkeiten zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Themen wie Migration, Geschlechterverhältnissen, Entwicklungspolitik, Konfliktforschung etc. werden geschaffen. (vgl. Ziai 2016: 25ff) So werden gesellschaftliche Ordnungen in Frage gestellt, was wiederum Möglichkeiten zu kritischem und widerständigem Handeln schafft.


3. Diskurse im postkolonialen Kontext

Die dargestellten Konzepte von postkoloniale Theorien haben in den letzten Jahren Einzug in verschiedene sozialpolitische Diskurse gefunden. Um hier einen näheren Einblick zu geben, werden in diesem Kapitel drei Diskursfelder näher skizziert. Zum einen werden vor allem Debatten im Migrationsbereich geführt – hier möchte ich vor allem auf Dynamiken von Subjektbildungsprozessen näher eingehen. Zum anderen bildet die Betrachtung von Repräsentation und ihren Herausforderungen einen wichtigen Teil. Einen dritten Diskursstrang bildet schließlich die Genderthematik und ihre Verknüpfungen mit postkolonialen Theorien. 


3.1 Subjektbildungsprozesse

Werden Migrationsdiskurse betrachtet, lässt sich feststellen, dass diese eng in Verbindung mit dem Begriff der Integration stehen. Hier ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen dem individuellen „Engagement“ der immigrierten Personen und den tatsächlichen Möglichkeiten und Chancen. Auf politischer Ebene wird zumeist ersteres fokussiert und den Ausgangspunkt der Diskussion bildet häufig ein Verständnis des „fortgeschrittenen Westens“. Die Auseinandersetzung mit Chancen und Möglichkeiten zu Integration werden eher ausgeklammert. (vgl. Castro Varela 2006: 152ff)

Debatten um Migration und Integration müssen in einem globalen und historischen Zusammenhang gesehen werden, der die Konstruktion des „Wir und die Anderen“ aufdeckt und hinterfragt:

„Die deutsche Nation – dasselbe gilt für Europa – stabilisiert ihre Selbstdefinition vom demokratischen Rechts- und Sozialstaat mit menschlichem Gesicht immer wieder über das Bild der ‚armen Entwicklungsländer‘, der ‚fundamentalistischen Terrorstaaten‘ und den aus diesen migrierenden und flüchtenden Menschen, die gewissermaßen als Kontrastfolie zur ‚sicheren‘ und ‚wohlhabenderen Ersten Welt‘ instrumentalisiert werden.“ (ebd.: 155)

Eine weitere in Migrationsdiskursen verankerte Betrachtungsweise sieht in den postkolonialen Theorien die Möglichkeit, den Dualismus zwischen „Migrant_innen“ und „Nicht-Migrant_innen“ aufzulösen. Migration soll dabei nicht mehr als außergewöhnliches Phänomen betrachtet werden, sondern als Teil der „Lebenswirklichkeit“ und als „Ausgangspunkt des Denkens“ verstanden werden. Eine solche Logik soll sich durch einen „postmigrantischen“ Blick herausbilden. (vgl. Yildiz 2017: 19ff)

Interessant in diesem Kontext sind schließlich Diskurse, die Zugehörigkeit und Identität bzw. Subjektbildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft näher thematisieren. Auch bei diesen Prozessen wirken Normalitätsvorstellungen sowie hierarchische Ordnungen. Kultur wird häufig als starres Konzept eingesetzt, um hegemoniale Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Auch in pädagogischen Institutionen, wie Schulen oder Jugendzentren, existiert eine hegemoniale Ordnung. Rollenzuschreibungen wie „Migrant_in“ oder „Nicht-Migrant_in“ werden in unterschiedlichen Kontexten relevant und von den Subjekten in der Praxis verwirklicht. (vgl. Mecheril 2014: 12ff)

„Die Macht der Ordnungen wendet sich also nicht gegen das Subjekt, sondern verwirklicht sich durch das Subjekt.“ (ebd.: 18)

Kulturelle Differenz rückt in den Vordergrund und wird häufig auch mit Prozessen von Ab- bzw. Aufwertung in Verbindung gebracht. Eigenschaften werden meist als unveränderbar und natürlich dargestellt, zudem kommt es weiters zu einer Überbetonung von religiöser Zugehörigkeit. Subjektbildungsprozesse werden schließlich durch Fremddefinitionen mitstrukturiert und sind auch auf ungleiche Machtverhältnisse, Diskriminierung und Ausschlussmechanismen zurückzuführen. In vielen Diskursen kommt es also zu Zuschreibungen, welche komplexe individuelle Zusammenhänge und Biografien ausklammern. (vgl. Yildiz 2012: 328ff)

Hegemoniale Ordnungen sind aber auch von Brüchen und Diskontinuitäten geprägt. Zuschreibungen verfestigen sich zwar zum einen durch vorgegebene Strukturen und zum anderen durch das Handeln der Subjekte, gleichzeitig ist aber eben jenes Handeln durch Performanz geprägt, die Veränderung und Modifikation zulässt. In anderen Worten, es ergibt sich ein Spannungsfeld, in dem die Handlungsmöglichkeiten des Subjekts vorstrukturiert sind und Zuschreibungen verfestigt werden, diese allerdings auch wieder umgedeutet werden können. Durch Handlungsspielräume besteht also die Möglichkeit, jene Zuschreibungen aufzubrechen und zu verändern. (vgl. Mecheril 2014: 18f)

Werden diese Ausführungen in Bezug auf Soziale Arbeit betrachtet, zeigt sich die enge Verbindung zu „integrativer Arbeit“ und den damit häufig verbundenen „Kontroll- und Normalisierungsfunktionen“. Für eine kritische Soziale Arbeit bedarf es einer Transparenz gegenüber jener Funktion und das Offenlegen und Reflektieren der eigenen Beteiligung an diesen Prozessen. (vgl. Castro Varela 2006: 152ff) Ein weiterer Punkt ergibt sich im Hinterfragen von hegemonialen Ordnungen in der Sozialen Arbeit: In welcher Weise treten Zuschreibungen auf, wie werden sie reproduziert und fixiert und wo gibt es Möglichkeiten zu Brüchen und Diskontinuitäten?


3.2 Herausforderungen von Repräsentation

Bei einer kritischen Betrachtung von Repräsentation wird betont, dass sich – trotz Sichtbarmachen von marginalisierten Gruppen – Ungleichheitsverhältnisse manifestieren. Interessant ist dabei, wer diejenigen sind, die über marginalisierte Gruppen sprechen, wie die jeweiligen Gruppen dargestellt werden und wer schließlich Partizipationsmöglichkeiten im Diskurs hat. (vgl. Broden/Mecheril 2007: 13ff)

„Es geht darum, deutlich zu machen, wo Darstellungen der Anderen, Verlautbarungen über die Fremden, Repräsentationen des Nicht-Eigenen als hegemoniale Praxen wirken, weil sie die so genannten Anderen, Fremden, Nicht-Eigenen zu Objekten degradieren und dazu tendieren, sie in diesem Status zu halten.“ (ebd.: 18)

Die Grenzziehung zwischen Mehrheitsgesellschaft und „den Anderen“ bleibt aufrechterhalten, während ein Transfer von starren Konzepten stattfindet. Selbst gruppenzugehörige Repräsentant_innen können diese Problematik nur schwer lösen, weil dann ihr Bild bzw. ihre Darstellung zu einer Homogenisierung der repräsentierten Gruppe führen können. Vertretungspraxen sind also von hegemonialen Ordnungen beeinflusst und müssen diesbezüglich transparent gemacht werden; ebenso sollen essentialistische Darstellungen hinterfragt werden. Wenn also Repräsentation (mitunter auch durch die Soziale Arbeit) den Zweck hat, marginalisierte Gruppen und deren Problematiken sichtbar zu machen, geht gleichzeitig eine Verfestigung jener in deren Position einher. Deshalb bedarf es immer einer kritischen Auseinandersetzung, auch wenn Gruppen für sich selbst sprechen. (vgl. Castro Varela/Dhawan 2007: 30ff) In Anbetracht von Spivaks Ausführungen zu Subalternen wird der mit Repräsentation einhergehende Dualismus betont. Durch Repräsentation einer Gruppe, im Sinne des Für-die-Gruppe-Sprechens, geht schließlich das Schweigen jener Gruppe einher. (vgl. ebd.: 36ff)

Ein Hinterfragen von Repräsentationsverhältnissen ist wichtig für eine kritische Soziale Arbeit. Das Einnehmen einer postkolonialen Perspektive kann an dieser Stelle zu einer reflektierten Betrachtung von Dynamiken und Machtverhältnisse beitragen. Zwar kann nicht von einer vollständigen Befreiung vom Konflikt die Rede sein, dennoch kann ein kritischer Blick und ein ständiges Hinterfragen der eigenen Rolle angeregt werden.


3.3 Feministische postkoloniale Theorie

Ein weiterer Diskursstrang verknüpft postkoloniale Theorien mit Gendertheorien. Gendertheorien sind von zahlreichen Debatten und Diskussionen geprägt, deren Skizzierung den Rahmen des Beitrags sprengen würde. Verschiedene Konzepte und Ansätze unterscheiden, aber ergänzen sich auch. So können überblickshaft strukturtheoretische Ansätze, welche gesellschaftliche Ungleichheiten analysieren, sozialkonstruktivistische, welche sich mit der Konstruktion von Geschlechterunterschieden befassen, sowie dekonstruktive Ansätze, welche Geschlechternormen allgemein in Frage stellen, unterschieden werden. (vgl. Plößer 2013: 200)

Angesichts der Aspekte von Machtverhältnissen, dem Aufdecken von Ungleichheiten und der Auseinandersetzung mit Konstruktion von Differenz, scheinen zwischen Gendertheorien und postkolonialen Theorien Zusammenhänge zu bestehen. Aus postkolonialer Perspektive wird zusätzlich betont, dass hegemoniale Geschlechterdichotomien und Heteronormativität als eurozentrisches Konstrukt erst im Zuge des Kolonialismus verbreitet wurden, weshalb andere Konzepte von Gender und Sexualität in den Hintergrund traten. (vgl. Hostettler/Vögele 2014: 10ff)

Die Problematik des Eurozentrismus lässt sich zum Beispiel an der Konstruktion und Darstellung der „Dritten-Welt-Frau“ veranschaulichen. Dieses Bild der unterdrückten Frau wird hauptsächlich durch eurozentrische Zuschreibungen geprägt. Gewalt an diesen Frauen ist häufig mit der Auffassung einer rückständigen Entwicklung der „Dritten Welt“ konnotiert, zudem stellt Religion einen wesentlichen Faktor dar. Dies hat zur Folge, dass Gewalt eine Art Kulturalisierung erfährt, entpolitisiert wird oder einfach als traditionsbedingtes Phänomen behandelt wird. (vgl. Klapeer 2016: 120f)

„Eine Verletzung von Frauen- und Menschenrechten ist daher gleichsam ein Ausdruck und eine Manifestation einer im Globalen Norden schon ‚überwundenen Vergangenheit‘ in der Gegenwart der Moderne.“ (ebd.: 121)

Im Gegensatz zur unterdrückten Frau der „Dritten Welt“ steht die emanzipierte Frau des „Westens“. Im Westen vorhandene Ungleichheiten werden somit unsichtbar gemacht (vgl. ebd.).

Besonders aktuell in politischen Debatten ist die Verbindung von Unterdrückung und Religion. Die „christliche, westliche“ Frau scheint gegenüber der „muslimischen Frau“ mehr Möglichkeiten zu haben. Das Kopftuch wird als Symbol der Ungleichheit gewertet. In Debatten wird diese Konstruktion häufig noch ausgeweitet, indem es schließlich europäische Männer sowie Frauen sind, welche für die Rettung der Unterdrückten verantwortlich sind. Dadurch kommt es nicht nur zu einer „Viktimisierung der anderen Frau“, sondern es können durch diese Konstruktionen auch restriktive Migrationspolitiken legitimiert werden. (vgl. Castro Varela/Dhawan 2009: 11ff) Aus postkolonialer feministischer Sicht wird hier deutlich, dass Geschlecht an sich stark verschränkt ist mit Zuschreibungen und Konstruktionen und als „rassifiziertes, sexualisiertes und klassifiziertes Konstrukt betrachtet werden muss.“ (Klapeer 2016: 115) Diese Konstruktionen formieren sich schließlich im Zusammenhang mit kolonialen und transnationalen Praktiken, die Ungleichheiten produzieren und aufrechterhalten. (vgl. ebd.)

Für eine gendersensible Soziale Arbeit bedeutet dies also, dass über die Aspekte von Geschlechterdifferenz und deren Konstruktionen und Zuschreibungen auch noch die postkoloniale Komponente beachtet werden sollte, um kritisch und reflektiert zu arbeiten. 


4. Sozialer Arbeit und Differenzkonstruktionen

Die vorherigen Ausführungen zeigen, dass postkoloniale Theorien bereits in vielen für die Soziale Arbeit relevanten Bereichen angekommen sind. Dennoch sind meistens nur vereinzelt Verweise auf deren Potenzial zu finden. Eine gängige Rezeption bzw. Anwendung in der Sozialen Arbeit scheint aktuell noch ausständig zu sein. An dieser Stelle möchte ich speziell Diskurse um Differenz und Soziale Arbeit näher mit postkolonialen Theorien in Verbindung bringen.

Schon die institutionelle Etablierung von Sozialer Arbeit gründet in der Konstruktion von Differenz, Abweichung und Andersheit. Formen von Armut und Desintegration bilden die Grundlage für die Disziplin und der Umgang damit bleibt bis heute eine brisante Frage. Soziale Arbeit muss sich daher zum einen mit der Konstruktion von Differenz auseinandersetzten und zum anderen damit, wie sich diese in sozialen Praktiken manifestieren und Ungleichheiten (re-)produzieren. (vgl. Kessl/Plößer 2010: 7):

„Für die Soziale Arbeit stellt sich deshalb aktuell die Frage nach einem fachlich verantworteten Umgang mit Differenz und Andersheit, im Zuge dessen die Differenzierungspraktiken der Adressat_innen Sozialer Arbeit wie auch die der im Feld der Sozialen Arbeit professionell Tätigen zugleich reflektiert werden.“ (ebd.)

Wird Soziale Arbeit als „Instanz zur Bearbeitung von Differenz und Andersheit“ verstanden, dann schwingt bei Interventionen, deren Ziel gesellschaftliche Teilhabe ist, gleichzeitig die Normalisierungspraxis mit. Das heißt, erfolgreiche Interventionen sind gleichzeitig in Machtverhältnisse mit normalisierender Wirkung eingebettet. Soziale Arbeit hat in der Definition von Adressat_innen sowie deren Darstellung in Gruppen eine wichtige und nicht unkritische Funktion und ist somit als Teil des „Otherings“ zu verstehen. (vgl. ebd.: 7f)

Interessant ist an dieser Stelle der Dualismus, der entsteht, wenn Soziale Arbeit auf Differenzen bzw. Ungleichheiten aufmerksam macht. Einerseits besteht die Möglichkeit, bestimmte Verhältnisse offen zu legen, andererseits darf nicht vergessen werden, dass dadurch gleichzeitig neue Normen festgelegt werden können, deren flexibler oder komplexer Charakter schließlich verloren geht. Es wird im diesen Sinne auch „Andersheit“ mitkonstruiert. (vgl. Mecheril/Melter 2010: 124)

„Vermittelt von dieser Unterscheidungspraxis ist Soziale Arbeit in historisch wechselnden Fokussierungen staatlicher und sozialarbeiterischer Aufmerksamkeit auf bestimmte ‚Andere‘ bezogen und bringt diese ‚Anderen‘ als Andere (z. B. kooperationsbereite Mädchen und unterstützenswerte MigrantInnen) hervor.“ (ebd.: 128)

Um nun den Bogen zu Postkolonialen Theorien zu spannen, scheint es wichtig zu erwähnen, dass in dieser Differenzdebatte historische, globale und postkoloniale Dimensionen noch nicht ausreichend Einzug gefunden haben. Dabei scheinen diese durchaus relevant, um mögliche Unschärfen zu verhindern. Natürlich kann auch durch postkoloniale Theorien das Dilemma der Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit Othering nicht gänzlich aufgelöst werden, aber immerhin ergeben sich neue und ergänzende Denk- und Sichtweisen auf Ungleichheiten und Konstruktionen des/der „Anderen“. Um Diskriminierung und Ungleichheiten aufzudecken bzw. zu verhindern, bedarf es einer kontextspezifischen Perspektive, die historische und transnationale Prozesse miteinbezieht. Nur so kann Soziale Arbeit kritisch agieren, ohne die Gefahr von Kulturalisierung und Stereotypisierungen außer Acht zu lassen. (vgl. Castro Varela 2010: 259ff)


5. Soziale Arbeit mit postkolonialem Blick

Ich möchte an dieser Stelle konkrete Punkte diskutieren, um die Verbindung bzw. Herausforderung von postkolonialen Theorien und Sozialer Arbeit noch deutlicher herauszuarbeiten und mehrere Wirkungsebenen sichtbar zu machen.

Zuerst sehe ich besondere Relevanz in der Thematisierung der Auftragsebene. Wie bereits anhand von Migrationsdiskursen (siehe Kapitel 3.1) skizziert, sind historische und globale Perspektiven ein großer Teil sozialpolitischer Debatten, deren Ausgangspunkt häufig eurozentrische Sichtweisen bilden. Welche Ordnungen und Machtverhältnisse schließlich auf die Soziale Arbeit und institutionelle Kontexte wirken, gilt es zu hinterfragen bzw. auch dagegen vorzugehen.

Zweitens scheint für die Praxis die Relevanz der Reflexionsebene gegeben, wobei hier besonders ein Augenmerk auf individuelle Zuschreibungen und Erwartungshaltungen gelegt werden soll, sowohl ausgehend von Seiten der Professionist_innen als auch von Seiten der Adressat_innen. Durch eine postkoloniale Betrachtungsweise wird es möglich, eigene Handlungslogiken sowie Haltungen hinsichtlich globaler und historischer Kontexte zu hinterfragen. Konsequenzen durch Orientalismus oder durch andere historische und globale Prozesse sind durchaus Teil der professionellen Praxis. Auch im Sinne Spivaks (2008), die davon ausgeht, dass Rassismen als Konstrukt der Geschichte permanent reproduziert werden und unbewusst großen Einfluss auf die eigene Haltung haben können, wird dazu aufgerufen, eigene Rassismen ständig zu hinterfragen. (vgl. Spivak 2008: 136)

Als dritten Aspekt lässt sich die Repräsentationsebene diskutieren. Soziale Arbeit ist häufig mit Aspekten von Repräsentation verknüpft, beispielsweise schon dadurch, dass es zu Zielgruppendefinitionen kommt. Ein Hinterfragen von Repräsentationsverhältnissen ist wichtig für eine kritische Soziale Arbeit und kann in vielen Handlungsfeldern und Bereichen relevant werden. Das Einnehmen einer postkolonialen Perspektive kann an dieser Stelle zu einer reflektierten Betrachtung von Dynamiken und Machtverhältnisse beitragen. Zwar kann nicht von einer vollständigen Befreiung vom Konflikt die Rede sein, dennoch kann ein kritischer Blick und ein kontinuierliches Reflektieren der eigenen Rolle angeregt werden. Denn Prozesse des „Zum-Schweigen-Bringens“ können immer mitschwingen – an dieser Stelle soll nochmal auf Spivak und ihre These über Subalterne hingewiesen werden.

Viertens möchte ich noch die Ebene der Performanz hervorheben, und dabei Bhabhas Konzept der Hybridität in den Fokus nehmen. Werden Differenzkonstruktionen nicht als starre Konzepte gesehen und der Fokus auch auf Brüche und Diskontinuitäten gerichtet, dann könnten sich neue Handlungsspielräume ergeben, welche wichtige Ressourcen für die Soziale Arbeit darstellen. „Der dritte Raum“ wäre somit ein Raum für andere Denkmuster, der das Aufbrechen von Differenzkonstruktionen ermöglichen würde. Ordnungsschemata werden zwar so nicht aufgehoben, dennoch zeigt sich Potenzial für andere Denkweisen. Für die Praxis würde das bedeuten, dass Kategorien aufgebrochen bzw. neu definiert werden, um so eine Erweiterung von Handlungsspielräumen zu ermöglichen.

Postkoloniale Theorien haben in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften einen regelrechten „Boom“ erfahren, dies zeigt sich an ihrer breiten Rezeption. Allerdings muss betont werden, dass die Übernahme der Konzepte auf andere Bereiche durchaus Problematiken mit sich bringt. Unter anderem zeichnen sich die Theorien durch ihre hohe Komplexität aus und können nur schwer als starre Konzepte übernommen werden. Dennoch kann eine dynamische, überschneidende Anwendung von Konzepten wie Orientalismus, Subalternität und Hybridität viele Potenziale beinhalten. (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 16ff, Ziai 2016: 36f)

Aus unterschiedlichen Diskursen, wie sie in Kapitel 3 skizziert wurden, geht hervor, dass postkoloniale Theorien bereits eng mit Thematiken der Sozialen Arbeit verknüpft sind. So zeigt sich, dass die Anwendung postkolonialer Konzepte eine wichtige Ressource darstellt, um historische und koloniale Bezüge zu erkennen und kritisch zu hinterfragen, um komplexe Lebenswelten und Biografien sowie gesellschaftliche, hegemoniale Ordnungen ganzheitlich zu verstehen. 

Für die Professionist_innen Sozialer Arbeit wäre also das Wissen und Verinnerlichen postkolonialer Theorien eine wichtige Ressource, um Zuschreibungsprozesse, Differenzkonstruktionen sowie das eigene Handeln zu reflektieren. Dabei muss allerdings betont werden, dass dieses Hinterfragen von Handlungslogiken und Haltungen einen dauerhaften Prozess darstellt, der nicht abgeschlossen werden kann. Die Verinnerlichung postkolonialer Perspektiven einerseits in der Lehre und in der Theorienbildung Sozialer Arbeit sowie deren Etablierung in der professionellen Praxis andererseits halten Chancen und Herausforderungen bereit. Es bleibt abzuwarten, wie sich der Diskurs zukünftig entwickelt und ob sich eine breitere Anwendung in Lehre und Praxis vollziehen wird. Angesichts aktueller politischer Debatten und gesellschaftspolitischer Wendungen, vor allem im Migrations- und Flüchtlingskontext, scheinen sich jedenfalls weitere Fragestellungen für postkoloniale Theorien und Soziale Arbeit sowie deren Verknüpfung aufzutun.


Literatur

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Castro Valera, María do Mar (2006): Integrationsregimes und Gouvernementalität. Herausforderung an interkulturelle/internationale Soziale Arbeit. In: Otto, Hans-Uwe / Schrödter, Mark (Hg.): Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Multikulturalismus – Neo-Assimilation – Transnationalität. Sonderheft 8 der neuen praxis, S. 152-177.

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Kerner, Ina (2012): Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.

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Mecheril, Paul / Melter, Claus (2010): Differenz und Soziale Arbeit. Historische Schlaglichter und systematische Zusammenhänge. In: Kessl, Fabian / Plößer, Melanie (Hg.): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 117-134.

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Ziai, Aram (2016): Postkoloniale Studien und Politikwissenschaft. Komplementäre Defizite und ein Forschungsprogramm. In: Ziai, Aram (Hg.): Postkoloniale Politikwissenschaft. Theoretische und Empirische Zugänge. Bielefeld: Transcript, S. 25-48.


Über die Autorin

Katrin Hierzer, BA
katrin.hierzer@gmx.at

Bachelorstudium Kultur- und Sozialanthropologie (Universität Wien, Abschluss 2014); Bachelorstudium Soziale Arbeit (FH Campus Wien, Abschluss 2017); Masterstudium Politikwissenschaft (Universität Wien, Beginn 2017); Trainee beim Fonds Soziales Wien.