soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 18 (2017) / Rubrik "Thema" / Standort Feldkirchen
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/545/973.pdf
Hubert Höllmüller & Raphael Schmid:
Unsere Perspektiven auf die österreichische Kinder- und Jugendhilfe sind ausschnitthaft und von subjektiven Aspekten bedingt. Was uns in unserer Lehrtätigkeit am Studiengang für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Kindheit/Jugend und durch die Einblicke in die Realität der Profession immer klarer wird, ist, dass wir über unsere Perspektiven und Erfahrungen nicht nur reden sollten, sondern auch reden müssen.
Nicht erst Peter Pantuček-Eisenbacher und seine Kollegin formulieren dazu klar: die Kinder- und Jugendhilfe in Österreich weiß nicht, was sie tut. (vgl. Gharwal/Pantuček-Eisenbacher 2016)
„Obwohl ein seit Jahrzehnten wachsender Anteil öffentlicher Gelder in soziale und sozialpädagogische Maßnahmen investiert wird, wurden bisher keine Anstrengungen unternommen, Mittel für die Sozialarbeitsforschung bereit zu stellen. Es fehlt an fundiertem Wissen darüber, welche Maßnahmen die gewünschten Wirkungen erzielen, es fehlt an wissenschaftlich begleiteter Innovation.“ (ebd.: 5)
Mit unseren Worten befindet sich die österreichische Kinder- und Jugendhilfe im weitgehenden Blindflug in Bezug auf Wirksamkeit, Einbeziehung der Betroffenen und Fehlerkultur. Die Gründe dafür sind bekannt: Neben dem eklatanten Mangel an Forschung gibt es auch einen eklatanten Mangel an Interesse an der Forschung, die in diesem Bereich bereits stattfindet – und es gibt auch keine Diskussion darüber. Denn Forschung allein ist noch kein Garant für valide Ergebnisse. Bei der Auftragsforschung ist zumindest zu thematisieren, wie unabhängig sie sein kann, wenn Kinder- und Jugendhilfeträger die Auftraggeber und Finanziers von Forschung sind und zugleich durch ihre Rolle immer auch Mitgegenstand von Forschung. Die Forderung nach Forschung in der Kinder- und Jugendhilfe gilt es deshalb zu ergänzen um die Forderung nach Diskussion dieser Forschung.
Bisher hat es die AG Kindheit/Jugend der OGSA nicht geschafft, dazu einen nachhaltigen Diskurs zu entwickeln.
Wir beginnen aber mit positiven Gegenbeispielen:
1. Kärnten
In Kärnten hat ein jahrelanger Fachdiskurs zwischen Fachhochschule, der Fachabteilung des Landes, JugendamtsvertreterInnen und AkteurInnen aus dem Schul- dem Behindertenbereich und der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu mehreren Evaluationsprojekten geführt: Die mobilen Dienste wurden 2015 evaluiert, das Betreute Wohnen 2017 und mit dem anderen stationären Bereich wird jetzt begonnen. Bei den ersten beiden Projekten fand eine parallele wirtschaftliche Analyse statt, die nicht zu Einsparungen führte.
Vier zentrale Entwicklungsfelder wurden bisher identifiziert:
Weiters leitete die Kinder- und Jugendanwaltschaft auf Ersuchen des Kinder- und Jugendbeirats des Landes Kärnten ein Forschungsprojekt, durchgeführt durch eine interdisziplinäre ExpertInnenkommission, in dem sieben aktuelle Misshandlungsfälle von Kleinkindern analysiert wurden. Die Ergebnisse wurden zusammen mit dem Bericht zu den mobilen Diensten bei der letzten OGSA-Tagung Ende März 2017 in St. Pölten in einem Workshop vor fünf TeilnehmerInnen präsentiert.
Es ist durchaus als positiv hervor zu streichen, dass die angesprochenen Forschungsarbeiten stattfinden konnten. Dies kann auf mehreren Ebenen begründet werden:
In weiterer Folge geben wir einen Überblick über die angesprochene Arbeit der „ExpertInnenkommission Kindesmisshandlung/Kinderschutz“ in der Aufarbeitung der sieben konkreten Kindesmisshandlungsfälle und daraus abgeleiteten Weiterentwicklungsperspektiven für das Kinderschutzsystem in Kärnten. Wir beziehen uns hier unter anderem auf einen zusammenfassenden Folder zum Forschungsprojekt, herausgegeben durch die Kinder- und Jugendanwaltschaft des Landes Kärnten (2017), wie auch auf einen Artikel von Astrid Liebhauser und Raphael Schmid (2017) zum Forschungsprojekt, der in einer derzeit im Druck befindlichen Publikation erscheinen wird.
Zum Hintergrund und Anlass der Installierung der ExpertInnenkommission führte die im Rahmen des Kinder- und Jugendbeirats des Landes Kärnten im Jahr 2015 zum Thema gemachte, als signifikant wahrgenommene Häufung von schweren Kindesmisshandlungsfällen an Säuglingen zwischen 2012 und 2015. Zwei der sieben Kinder verstarben (eines davon als direkte Folge der Misshandlungen) und alle weiteren Kinder werden nach derzeitigem Einschätzungsstand mit schweren bis schwersten lebenslangen Beeinträchtigungen konfrontiert bleiben. Die Fälle, allesamt mit unter einjährigen Kindern als Opfer, wurden im Klinikum Klagenfurt sichtbar und durch den Primarius der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Dr. Wolfgang Wladika, eindringlich in genanntem Gremium zur Kenntnis gebracht und einer Diskussion und Bearbeitung zugeführt. Auf Anregung des Kinder- und Jugendbeirats kam es somit zur Einsetzung einer ExpertInnenkommission um die sieben Anlassfälle „im Hinblick auf wiederkehrende Muster und Gesetzmäßigkeiten zu analysieren, die Schnittstellenarbeit darzustellen (z.B.: Wer hat wen, wann, worüber informiert?) und daraufhin Schlussfolgerungen sowie Vorschläge zum raschen Erkennen von Hochrisikofamilien und infolgedessen Setzen von adäquaten Maßnahmen zu beschreiben (Vorgabe der Abteilung 4 des Amts der Kärntner Landesregierung vom 09.04.2015)“ (Liebhauser/Schmid 2017: o. S.).
Bei der ExpertInnenkommission handelte es sich um „eine ehrenamtlich tätige, interdisziplinäre ExpertInnenkommission aus kritisch und ergebnisoffen denkenden InsiderInnen des erweiterten Kinderschutzsystems“ (Liebhauser/Schmid 2017: o. S.) aus Kärnten mit Unterstützung durch Prof. Dr. Reinhart Wolff aus Deutschland, als namhaften Kinderschutz- und Qualitätsentwicklungsexperten. Die gewählte Zusammensetzung hatte das Ziel der Ermöglichung einer disziplinär gesehen breiten Betrachtung aufgrund der differenzierten Expertisen der Mitglieder „in den Bereichen der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Kinderschutzzentrumsarbeit, der therapeutischen und beratenden Arbeit, im Bereich der Rechtswissenschaften, Sozialen Arbeit, Sozialwissenschaften und Qualitätsentwicklung“ (ebd.: o.S.).
Ziel und Fokus der Herangehensweisen der ExpertInnenkommission war es dezidiert nicht, mögliches Einzelverschulden oder individuelle Versäumnisse darzustellen und „anzuprangern“, sondern durch die Analyse der Einzelfälle und die Ergebnisse ergänzender ExpertInneninterviews mit maßgeblichen VertreterInnen des erweiterten Kinderschutzsystems zu einer verallgemeinerten bzw. abstrahierten Metabetrachtung des Kärntner Kinderschutzes zu gelangen, in der Weiterentwicklungsbedarfe und -potenziale möglichst klar angesprochen werden. Es wurde eine zukunftszugewandte und weiterentwicklungsorientierte Forschungshaltung im Sinne eines „Lernens aus Fehlern“ verfolgt.
Als Schritt zur Seite sei hier – jedoch lediglich mittels eines „Streifschusses“ – der Ball der Fehlerkultur aus unserer Einleitung zu diesem Artikel aufgegriffen. Unsere Meinung ist, dass Soziale Arbeit per se eine konstruktive Fehlerkultur notwendig macht, welche eines der mächtigsten Qualitätskriterien für die Soziale Arbeit darstellen kann. Es handelt sich in der täglichen Arbeit „am Menschen“ um Entscheidungsnotwendigkeiten basierend auf multikausalen Wirkzusammenhangsüberlegungen und nicht um linear-kausale Wirkzusammenhänge, weshalb es in der weit überwiegenden Mehrzahl der fachlichen Entscheidungen mehrere gleichwertige Optionen gibt. Darüber hinaus ändern sich die Wissensbestände bezüglich Entscheidungsgrundlagen. Wer sich also „die Mühe“ machen mag, den Verlauf nach einer Entscheidung reflektierend zu betrachten, kann somit davon ausgehen, auch auf Fehlentscheidungen und Irrtümer zu stoßen. Diese detailliert zu betrachten und auf die unterschiedlichen Einflussfaktoren hin zu beleuchten, um die Wirkungen der sozialarbeiterischen Intervention auf ihre konstruktiven, neutralen und auch destruktiven Anteile hin besser fassen zu können, bietet die Chance, dieses Wissen in zukünftigen Entscheidungsmomenten nutzen zu können. In anderen Worten birgt ein intensives Suchen, Analysieren und zukunftsgewandtes Nutzen-Wollen von Fehlern im Sinne von Fehlentscheidungen/Irrtümern ein hohes Professionalisierungspotenzial und kann als „Lernen aus Fehlern“ verstanden werden (dieses Vorgehen ist ebenso auf Momente des Erfolges anwendbar und auch empfohlen).
Für nähere Informationen zu angewandten Forschungsmethoden und -instrumenten, wie auch den Datenquellen der hier beschriebenen Arbeit der ExpertInnenkommission Kindesmisshandlungen/Kinderschutz (2017) wird auf den Abschlussbericht verwiesen. Hervorgestrichen soll an dieser Stelle jedoch die sehr intensive und konstruktive ForschungspartnerInnenschaft mit einzelnen fallführenden SozialarbeiterInnen und den leitenden SozialarbeiterInnen des für die sieben Misshandlungsfälle territorial zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträgers im Rahmen der Rekonstruktion der Fallverläufe und gemeinsamen kritischen Diskussion der Hypothesen, Erkenntnisse und Empfehlungen erwachsend aus den Einzelfallbetrachtungen.
1.1 Ergebnisüberblick
Im Sinne eines stark verkürzten Ergebnisüberblicks sei als erster Schritt ein Blick auf die Lebensumstände bzw. -situationen der betroffenen Familien geworfen:
Die Misshandlungen passierten in allen Fällen in, zu diesem Zeitpunkt, aufrechten Partnerschaften der Kindeseltern und im gemeinsamen häuslichen Umfeld. Alle misshandelten Kinder waren zum Misshandlungszeitpunkt weniger als ein Jahr alt.
Insgesamt konnten 29 einzelne Risikofaktoren in den sieben Fällen rekonstruiert werden, welche ein breites thematisches Spektrum zwischen familiengeschichtlich belastenden Einflussfaktoren (z. B. eigene vergangene Gewalterfahrungen der Kindeseltern), problematischen sozioökonomischen Rahmenbedingungen (z. B. Schulden, Arbeitslosigkeit, prekäre Wohnverhältnisse), gesundheitlichen Risikokonstellationen (z. B. Frühgeburtlichkeit, Schwangerschaftskomplikationen), erhöhten Herausforderungen in der Pflege und Erziehung der Minderjährigen (z. B. Schreibabys/Koliken, Vielkinderhaushalt/Mehrlingsgeburt), bis hin zu Defiziten in den elterlichen Kompetenzen (z. B. Aggressivität, inadäquate Erziehungshaltungen, Drogen-/Alkoholmissbrauch) und Risikokonstellationen durch Versäumnisse des Kinderschutzsystems (z. B. nicht stattgefundene Fallübergabe bei Zuzug aus einem anderen Bundesland durch den „entsendenden“ Kinder- und Jugendhilfeträger) abbilden.
Hervorzuheben ist, dass es sich in allen Fällen um ein multifaktorielles Zusammenspiel mehrfacher Risikokonstellationen auf Seiten der betroffenen Familien handelte.
Mit dem heutigen erarbeiteten Wissen zu den sieben untersuchten Anlassfällen kann festgehalten werden, dass in allen Fällen Hochrisikokonstellationen auf Seiten der Familien vorherrschten, die grundsätzlich einen hohen Unterstützungsbedarf gefordert hätten. (vgl. Liebhauser/Schmid 2017)
Diese Hochrisikokonstellationen konnten aber durch das System des Kinderschutzes nicht als solche erkannt werden. Die Kinder- und Jugendhilfe und die bestehenden Kinderschutzangebote hätten in den sieben Fällen auch in der bestehenden Ausprägung gut helfen können.
„Doch gerade das notwendige frühe Erkennen von Risikokonstellationen stellt derzeit ein strukturelles Problem dar, für welches die ExpertInnenkommission Antworten bieten will.“ (Liebhauser/Schmid 2017: o. S.)
Ergänzend sei erwähnt, dass nur zwei der sieben Familien (vgl. ebd.) dem Kinder- und Jugendhilfeträger vor dem Misshandlungszeitpunkt bekannt waren (im Sinne von Kenntnis über die Familie als Fall der Kinder- und Jugendhilfe).
Hinsichtlich der Darstellung von Ergebnissen in Form von Empfehlungen muss in vorliegendem Beitrag auf abstrakter Ebene verblieben werden. Konkrete Detailempfehlungen finden sich im erwähnten Abschlussbericht (vgl. ExpertInnenkommission Kindesmisshandlung/Kinderschutz 2017). Die nachstehend dargestellten Empfehlungen fußen auf den Forschungsergebnissen und stellen Weiterentwicklungsbedarfe aus Sicht der ExpertInnenkommission dar. So benennt diese aus dem festgestellten Bedarf heraus drei übergeordnete Ziele für Qualitätsentwicklung im Kärntner Kinderschutz wie folgt:
„1. Kinderschutz muss als multiprofessionelle Herausforderung und Verantwortung ernst genommen werden.2. Kinderschutz-effektive Rahmenbedingungen wie auch Handlungs- und Prozessabläufe für ein optimiertes Zusammenspiel aller involvierten Berufsgruppen müssen bestmöglich geschärft, ausgebaut und mit Verbindlichkeit in deren Einhaltung ausgestattet werden.
3. Reflexive Räume des Hinterfragens der Kinderschutzpraxis, in denen der leitende Fokus auf Weiterentwicklung liegt, müssen regelmäßig vorgesehen sein. Diese stellen das Kerninstrument eines zentral koordinierten und breit getragenen Prozesses der Qualitätsentwicklung im Kärntner Kinderschutz dar.“ (Liebhauser/Schmid 2017: o. S.)
1.1.1 Weiterentwicklungsperspektive 1
Zur Weiterentwicklungsperspektive 1 lässt sich exemplarisch präzisieren, dass ersichtlich wurde, dass Familien mit durchaus bereits sehr stark ausgeprägtem Hilfebedarf sehr oft keinen Weg zum psychosozialen Hilfesystem finden (und auch das psychosoziale Hilfesystem keinen Weg zu den Familien findet), diese aber sehr wohl im Rahmen „alltäglicher Routinen“ mit vielen AkteurInnen des erweiterten Kinderschutzsystems in Kontakt treten (Gesundheitssystem: beispielsweise in Form des PädiaterInnenbesuchs, oder stationärer Aufenthalt im Kontext der Geburt bzw. Hebammenkontakte; Bildungs- und Betreuungssystem: Krabbelgruppen-, Kindergarten-, Schulbesuch). Es wurde bei den hierbei involvierten Berufsgruppen eine grundsätzlich stark gegebene Bereitschaft zur Kinderschutzverantwortungsübernahme festgestellt, ebenso aber auch Unsicherheit und artikulierter Ausbaubedarf in Bezug auf eigene Kompetenzen in der Wahrnehmung von Kindeswohlgefährdungshinweisen, wie auch in der Kooperationsgestaltung, Rollenklarheit gegenüber den unterschiedlichen für Kinderschutz verantwortlichen Stellen (insbesondere gegenüber dem öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeträger). Diese beiden Kompetenzbereiche – in anderen Worten beschrieben als Kompetenzen im Bereich Sozialer Diagnostik und eigener Rollen- und Auftragsklarheit – stellen ebenso einen so wahrgenommenen dringenden Ausbaubedarf auf Seiten der kinderschutzhauptverantwortlichen Stelle, nämlich dem öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeträger dar (es ist davon auszugehen, dass es sich bei dieser Erkenntnis um kein Kärnten-Spezifikum handelt).
Auf diese Weiterentwicklungsbedarfe gilt es im Rahmen der Aus- und Fortbildungen der unterschiedlichen Berufsgruppen klarer einzugehen, wie auch in der verstärkten und zusätzlich zu sehenden Bereitstellung von, durch eine professionelle, weiterentwicklungsorientierte Stelle bereitgestellten bzw. begleiteten, interdisziplinären Fortbildungs- und (hier wird auf obige Weiterentwicklungsperspektive 3 vorgegriffen) Reflexionssettings mit dem Ziel eines Ausbaus von Handlungs- und Erwartungssicherheiten bezüglich der Schnittstellenarbeit/Kooperation.
Darüber hinaus braucht es ebenso Verantwortungsklarheit in den einzelnen Organisationen und Stellen die mit Kinderschutzfragen in Kontakt kommen können. Beispielhaft gesprochen wird das Kinderschutzziel nicht dadurch zu erreichen sein, dass eine kinderschutzsensibilisierte Hebamme im Zuge der Geburt gewichtige Verdachtsmomente in Richtung einer Kindeswohlgefährdung oder eines stark vermuteten Unterstützungsbedarfes einer Familie wahrnehmen würde, ihr aber durch den/die diensthabende/n Oberarzt/ärztin untersagt werden würde, mit dem öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeträger Kontakt aufzunehmen, weil dies nicht Aufgabe des Krankenhauses sei und man den Familien „ja nicht das Jugendamt an den Hals hetzen wolle“ (exemplarischer O-Ton aus den ExpertInneninterviews).
1.1.2 Weiterentwicklungsperspektive 2
Als Brückenschlag zwischen Weiterentwicklungsperspektive 1 und beispielhaften Facetten der Weiterentwicklungsperspektive 2 ist festzuhalten, dass auch auf Seiten der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeträger sicher zu stellen ist, dass bereits in Momenten der Verdachtsmitteilung durch KooperationspartnerInnen ohne Vorliegen der Situation eines konkret begründeten Verdachts (hier würde durch die gesetzliche Mitteilungspflicht auf Seiten der MelderInnen nach §37 B-KJHG die „Maschinerie“ der Gefährdungsabklärung und in weiterer Folge eventuelle Hilfeplanung in Gang kommen müssen) diese Mitteilungen ernst genommen und kooperativ weitere Vorgehensweisen besprochen und abgestimmt in die Wege geleitet werden. Dieser vorangehende Satz ist im Lichte einer wahrgenommenen überwiegenden Ausrichtung der aktuellen öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe am Paradigma einer reaktiven, gefährdungsmanagenden Herangehensweise zu verstehen. Durch die ExpertInnenkommission wird dringend die intensive Weiterverfolgung eines Paradigmenwechsels in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe in Richtung einer stark proaktiven, präventiven, transparenten, klar und frühzeitig Sorgen gegenüber den Beteiligten aussprechenden Haltung empfohlen (wiederum kein „Kärnten-Spezifikum“). Zusätzlich zu „Haltungsfragen“ alle Berufsgruppen betreffend wird angeregt, Prozessabläufe in einem dialogischen Setting zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen dringend besser zu klären und entsprechende Ergebnisse umfassend zu kommunizieren (man denke hier an: Aufgabenbereichsüberschneidungen zwischen „Frühe Hilfen“ und öffentlichen Kinder- und Jugendhilfeträger inklusive der festgestellten und klärungsbedürftigen Selbst- und Fremdbilder bezüglich eigener und anderer Verantwortlichkeiten und Nicht-Verantwortlichkeiten; Situationen des massiven Auffassungsunterschiedes zwischen öffentlichem Kinder- und Jugendhilfeträger und der Kinderschutzgruppe des Krankenhauses mit fallverlaufsdestruktiven Auswirkungen, etc.).
1.1.3 Weiterentwicklungsperspektive 3
Zur Weiterentwicklungsperspektive 3 sei lediglich eine Facette näher beschrieben:
Aufgrund der erhobenen Ist-Situation, der inhaltlich und organisatorisch hohen Komplexität des Kinderschutzsystems und der getroffenen Interpretation der Dynamik im Kinderschutz konkret in Kärnten im Lichte der stark aufeinander abgestimmt notwendigen und viele Bereiche umspannenden Weiterentwicklungsbedarfe ist es eine der bedeutendsten Empfehlungen, dass es einer zentral koordinierenden, kritisch-distanzierten, weiterentwicklungsorientierten Fachstelle für Qualitätsentwicklung im Kärntner Kinderschutz bedürfe, die Weiterentwicklungspotenziale klar identifizieren kann und auch Befugnisse hat, Weiterentwicklung aktiv zu forcieren bzw. zu begleiten.
Es bleibt in dieser Empfehlung aus unserer Sicht zu hoffen, dass es einerseits zur Schaffung einer derartigen Fachstelle kommt und noch wichtiger, diese Stelle mit beschriebenen Rahmenbedingungen ausgestattet ist, um nicht nahtlos und somit erwartungsgemäß Ist-Stand erhaltend in derzeitige für die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe zuständige Organisationsstrukturen eingebettet wird und somit in ihrer „Wirksamkeit“ verblasst.
1.2 Conclusio
Abschließend sei aus der bisherigen Erfahrung der „Nachbearbeitung“ zu vorgelegtem Kinderschutzbericht festgehalten, dass große Offenheit der an der Basis arbeitenden MitarbeiterInnen der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe kommuniziert wurde, wenn es um die Perspektive geht, wie aus Sicht der Analyseergebnisse die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe arbeiten sollte (mit stark proaktiver, präventiver, transparenter, klar und frühzeitig Sorgen gegenüber den Beteiligten aussprechender Haltung). Hier wurde eine gute Portion an Frustration und Fatalismus auf Seiten der MitarbeiterInnen wahrgenommen, die angeben, seit langem unterschiedlichste, aus ihrer Sicht hinderliche Rahmenbedingungen in den unterschiedlichsten Settings – auch gegenüber den hierfür entscheidenden Stellen – artikuliert zu haben und das Gefühl zu haben „nicht ausreichend gehört und ernst genommen zu werden“. Hier lässt sich somit ein auf Fallebene – wie in der Einleitung bereits festgehalten – identifiziertes Phänomen auf einer hier anderen Ebene als offene Fragen in den Raum werfen: Wie intensiv werden die an der Basis arbeitenden SozialarbeiterInnen von den Stellen, die für Weiterentwicklung und Professionalisierung in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe zuständig sind, in die Weiterentwicklungsplanung miteinbezogen und gehört? Wie ernst werden deren Rückmeldungen genommen? Wie transparent wird somit die „Hilfeplanung“ bezüglich der Weiterentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe mit den Betroffenen (in diesem Fall den SozialarbeiterInnen der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe) kooperativ bearbeitet?
2. Steiermark
Zum Umbau der Kinder- und Jugendhilfe in Graz wurde in diesem Online-Journal ausführlich argumentiert und diskutiert (vgl. Zach 2014, Kessl/Reutlinger 2015, Schreier/Reutlinger 2013, Vincent 2014, Posch 2014, Noack 2016, Höllmüller 2014a, 2014b). Was bisher allerdings undiskutiert blieb, ist der Umbau der Kinder- und Jugendhilfe in den steirischen Bezirken.
Mit der Naivität eines neugierigen Forschers (Also ohne externen Auftrag und ohne die berühmten „Drittmittel“) habe ich (H. H.) vor eineinhalb Jahren begonnen, SozialarbeiterInnen von betroffenen Bezirken (anonymisiert) zu interviewen. In einer Dienstbesprechung einer Bundeshauptmannschaft erklärte ich mein Vorhaben. Am Land stellte ich mein Vorhaben vor. Nach vier Gesprächen kam kein weiteres mehr zustande. Beim letzten Versuch einer Terminvereinbarung wurde mir mitgeteilt, dass die Fachabteilung des Landes diese Interviews inzwischen untersagt hätte.
Was passiert da seit mehreren Jahren in den steirischen Bezirken, die bis zum Jahr 2018 alle auf das neue Modell umgestellt werden?
Die steirische Kinder- und Jugendhilfe versuchte vor einigen Jahren, im Bereich der ambulanten Hilfen mit der Einführung eines neuen Konzepts in Graz neue Wege zu gehen. Parallel dazu wurde auch für die Bezirke ein neues Modell erarbeitet. Während man in Graz die Marke „Sozialraumorientierung“ wählte, sollte in den Bezirken unter dem Fachbegriff „Case-Management“ und „flexible Hilfen“ ein alternatives Konzept umgesetzt werden. Trotz des Versuches, dabei eine unterschiedliche und unterscheidbare Alternative zu entwickeln, sind viele zentrale Elemente gleich:
Der einzige zentrale Unterschied ist, dass im Case-Management-Konzept die Entscheidung darüber, was ein Fall ist, und welche Unterstützungsform dafür eingesetzt werden soll, bei den SozialarbeiterInnen des Jugendamtes verbleibt, während in Graz dafür ein eigenes Gremium geschaffen wurde, das Sozialraumteam, in dem JugendamtsvertreterInnen und TrägervertreterInnen gemeinsam abklären, was ein Fall ist. Die SozialarbeiterInnen bringen also einen möglichen Fall ein, und das Sozialraumteam entscheidet, ob es einer wird. Gibt es keine Einigung, entscheidet die Sozialraumleitung und in letzter Instanz die Jugendamtsleitung.
Ein weiterer Unterschied liegt in den sehr speziellen und nicht immer nachvollziehbaren Qualifikationsanforderungen der Fachabteilung des Landes für die Bezirke, die bewirken, dass nicht nur neue Organisationen die Hilfeleistung durchführen, sondern dass diese nur zum Teil gut etablierte MitarbeiterInnen übernehmen und damit Fälle weiterführen können, weil diesen MitarbeiterInnen die nötigen Formalqualifikationen fehlen. Allein damit lassen und ließen sich Fälle „abschließen“, weil Eltern nicht bereit waren, einen BetreuerInnenwechsel mitzumachen.
Weiters sind die Berechnungsgrundlagen für die jeweils ausgeschriebenen Vollzeitäquivalente pro Bezirk nicht transparent und es ist zu vermuten, dass hier teilweise gespart wurde.
Einige Bezirke wurden bereits auf das Case-Management-Konzept umgestellt, einige stehen davor.
Die Effekte, die diese Umstellungen verursacht haben, lassen sich bisher nur vermuten, da bis dato keine Begleitforschung durchgeführt wurde. (Die Fachhochschule Eisenstadt evaluiert (bzw. evaluierte) im Sommer 2017 den Umbau eines Bezirkes. Mit Spannung erwarten wir die Ergebnisse.) Wird diese Ausschreibungskultur weiter etabliert, wird das sehr wahrscheinlich dazu führen, dass einige große Anbieter übrig bleiben.
2.1 Forschungsergebnisse
Eine Gruppe Studierender hat im Rahmen einer Lehrveranstaltung Interviews mit 29 AkteurInnen (davon 6 Leitungspersonen) von Anbieterorganisationen in steirischen Bezirken geführt, zu einzelnen Fragenbereichen geclustert und Hypothesen dazu entwickelt. Der Zugang zu den Interviewten verlief über persönliche/berufliche/ausbildungsbezogene Netzwerke.1
2.1.1 Wie kam es Ihrer Ansicht nach zur Umstellung bei den ambulanten Hilfen?
Hypothese: Zwei Gründe wirkten hier parallel: der Wunsch zu Sparen und der Wunsch das System zu verbessern
Abbildung 1: Wie kam es zur Umstellung bei den ambulanten Hilfen?
2.1.2 Wie läuft der Prozess?
Aussagen: Zusammenarbeit läuft gut, Arbeitsaufwand insbesondere die Dokumentation ist aufwendiger, Probleme haben sich verschoben.
Hypothese: der Prozess führt zu einer aufwendigeren Dokumentationsarbeit
2.1.3 Wie sind Sie in den Prozess eingebunden?
Abbildung 2: Wie sind Sie in den Prozess eingebunden?
Hypothese: Die gefühlte Einbindung ist abhängig von der Position im Team; Mitarbeiter*innen fühlen sich eher nicht eingebunden; Leitungspersonen fühlen sich gut bis sehr gut eingebunden.
2.1.4 Was sind die Effekte auf die Trägerlandschaft?
Aussagen: Träger booten sich gegenseitig aus, Intrigenspiele, einige werden ausgezielt ausgeschlossen, die unterschiedlichen Organisationskulturen werden zusammengespannt
Hypothese: Durch den Konkurrenzkampf zwischen den Trägern und die Reduzierung auf einige (große) Träger kommt es zu einem Verlust der Vielfalt und damit der Qualität des Angebots.
2.1.5 Welche Chancen sehen Sie?
Aussagen: Es könnte viel besser laufen, wenn man sich den Prozess kritisch anschaut, Betroffene anhört; es war nicht alles gut, was früher war, es war aber auch nicht alles schlecht, nicht nur Rahmen ändern, sondern auch Fachlichkeit weiterentwickeln, dazu braucht es aber eigene Ressourcen
Hypothese: Ein konzeptbasiertes ausfinanziertes System bietet bessere Möglichkeiten der fachlichen Weiterentwicklung sowie flexiblere Hilfemöglichkeiten.
2.1.6 Welche Risiken sehen Sie?
Aussagen: Geld im Vordergrund, Sparen, Preisdumping, große Träger kommen eher zum Zug, Druck, Beziehungsabbrüche.
Hypothese: Der finanzielle Aspekt gerät in den Vordergrund und das Land hat bessere Steuerungsmöglichkeit und damit größere Kontrolle über Träger und Jugendämter.
2.1.7 Wie ist der Dokumentationsaufwand?
Abbildung 3: Wie ist der Dokumentationsaufwand?
Hypothese: Es gibt eine Tendenz zu mehr Dokumentation sowie Unterschiede im Stand der Umsetzung und der Informationsweitergabe.
2.1.8 Was ist gleich geblieben?
Aussagen: Arbeit mit Klienten.
Hypothese: Es hat sich nicht viel verändert, mit den KlientInnen ist alles beim Alten, außer dort, wo Fallübergaben nicht funktioniert haben.
2.1.9 Geben Sie in Beispiel, wo es nun besser läuft.
Abbildung 4: Ein Beispiel, wo es besser läuft.
Hypothese: Vernetzung läuft besser und flexibleres Arbeiten ist möglich.
2.1.10 Geben Sie ein Beispiel, wo es schlechter läuft.
Abbildung 5: Ein Beispiel, wo es schlechter läuft.
Hypothese: Es gibt eine teilweise Verschlechterung der Betreuung der Klient*innen.
2.1.11 Welche Perspektiven hat das Jugendamt?
Aussagen: Einsparung, Kostensenkung, juristisch soll es hinhauen, Fachliches im Hintergrund.
Hypothese: Der Auftrag zur Umsetzung kam von politischer Ebene mit der Zielvorgabe der Kostendämpfung: Politik schlägt Bürokratie schlägt Fachlichkeit.
2.1.12 Wie läuft der Prozess ab?
Aussagen: Grundsätzliche Akzeptanz, eher positive Eindrücke.
Hypothese: Die MitarbeiterInnen fügen sich in ihre Rolle.
Aussagen: Bei Fallübergaben finden Beziehungsabbrüche statt, Wunsch nach Kontinuität beim Personal (Fluktuation bei den Trägern), kleine Träger verschwinden.
Hypothese: MitarbeiterInnen suchen nach Klarheit.
2.1.13 Was würden Sie jedenfalls empfehlen?
Aussagen: Bessere Trägervernetzung untereinander, miteinander reden um den Preiskampf einzudämmen, Qualität hat ihren Preis, mehr Transparenz gegenüber MitarbeiterInnen.
Hypothese: Qualitätsanspruch und die Bedürfnisse der Betroffenen werden tendenziell zurückgestellt.
2.1.14 Wovon würden Sie auf jeden Fall abraten?
Aussagen: Alles aus dem finanziellen Blickwinkel zu sehen.
Hypothese: Einsparung schlägt Innovation.
2.2 Theoretische Perspektive
Mögliche Effekte lassen sich aber auch aus theoretischen Perspektiven ableiten:
Pauschalfinanzierung ist in der Kinder- und Jugendhilfe keine Neuheit. Kriseneinrichtungen und aufsuchende Arbeit wie Streetwork sind grundsätzlich nicht fallbezogen finanziert. Fasst man den Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe weiter und versteht unter der Wahrung des Kindeswohls auch fördernde Konzepte, so ist die offene Kinder- und Jugendarbeit inhaltlich dazu zu nehmen und auch hier gibt es ausschließlich pauschale bzw. projektbezogene Finanzierung. Das meist „Fallübergreifende“ und „Fallunspezifische“ dieser Arbeit erlaubt allerdings einen klaren Ressourceneinsatz: Bestimmte Personalstunden erlauben bestimmte Angebotsformen, Öffnungszeiten etc. Erst wenn zum Beispiel Jugendliche ein Jugendzentrum „überrennen“ beginnt in den Netzwerken der Diskurs über Ausbau und zusätzliches Personal. Krisen-, Beratungs- und Therapieeinrichtungen arbeiten dann mit Wartelisten. Diese Form hat sich bei den pauschalierten Budgets der Kinder- und Jugendhilfe an den Jugendämtern (noch) nicht ausgebildet.
2.3 Anregungen für einen umfangreichen Fachdiskurs
Die Halbierung der Fallzahlen der ambulanten Hilfen (von ca. 5000 auf 2500) im ersten Jahr der Sozialraumorientierung in Graz2 hätte meines Erachtens eigentlich einen umfangreichen Fachdiskurs über die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Wirkungen auslösen müssen; Das war nicht der Fall. Ich möchte kurz eine paar Überlegungen skizzieren, was meines Erachtens diskutiert werden könnte: Es ist anzunehmen, dass im Jahr davor (nennen wir es Jahr A) mit 5000 Fällen die JugendamtssozialarbeiterInnen genauso von der fachlichen Richtigkeit der Einsetzung der ambulanten Hilfen überzeugt waren wie die freien Träger, die die entsprechenden Hilfen durchgeführt haben. Und das ist auch für das Folgejahr (nennen wir es Jahr B) mit 2500 Fällen anzunehmen.
Haben sich also die SozialarbeiterInnen im Vorjahr jedes zweite Mal geirrt, oder schärfer formuliert: falsch entschieden? Und haben dann die freien Träger diese Fehlentscheidungen nicht bemerkt, oder haben sie sie bemerkt und nichts dazu gesagt? Oder haben sie etwas dazu gesagt und das wurde nicht ernst genommen?3
Und wäre dieses Phänomen4 auf andere Jugendämter übertragbar? Ist es also so, dass sich Jugendämter ohne das Grazer Modell generell bei der Fallentscheidung zu ambulanten Hilfen jedes zweite Mal irren?
Und könnte diese Zahl noch größer sein, wenn Folgendes überlegt wird:
Wie hoch ist generell die Treffsicherheit der Kinder- und Jugendhilfe? Also werden exakt alle Kinder und Jugendlichen erreicht, die einen Bedarf an Hilfestellung haben? Oder haben wir einerseits zu viele Fallentscheidungen und anderseits werden trotzdem nicht alle damit erfasst, die Hilfe benötigen würden?
Nehmen wir an, im Jahr A gibt es zu den 5000 definierten Fällen 1000, die undefiniert bleiben, aber eigentlich Hilfe bräuchten: Dann wären wir im Jahr B mit 2500 definierten Fällen schon unter der Hälfte von 6000 realen und potenziellen Fällen des Jahres A. Aber wurde im Jahr B die Treffsicherheit erhöht und wenn ja, in welchem Ausmaß? Oder sank die Treffsicherheit? Und wie wirkt sich die steigende Bevölkerungszahl und damit auch die steigende Zahl der Kinder und Jugendlichen auf die Gesamtfallzahl aus? Wenn diese in den Folgejahren weiter sinkt, was bedeutet das?
Aus einer soziologischen Perspektive ließe sich zusätzlich fragen, ob eine Stadt es schon irgendwie kompensieren kann, wenn tausende Kinder und Jugendliche pro Jahr von Hilfestellungen ausgeschlossen werden bzw. falls sich hier dauerhafte Defizite ergeben, ob und wo diese sichtbar werden würden.
3. Und noch ein Zahlenspiel
Wir wissen, solche zahlenbezogenen Fragestellungen sind nicht üblich in der Sozialen Arbeit, weil sie rasch den Geruch von Ökonomisierung und Entfremdung annehmen können. Aber um genau das geht es: Die Deckelung des Budgets losgelöst von einem realen Bedarf verbunden mit Trägern, die sich bereit erklären, den gemeinsam festgestellten Bedarf, wie hoch er auch sein mag, mit einem Pauschalbetrag abzudecken, hat der Stadt Graz Millionen eingespart und tut dies weiterhin.
Wir möchten noch eine andere zahlenbezogene Fragestellung aufwerfen, die die stationäre Kinder- und Jugendhilfe betrifft und den daran sich reibenden europäischen Diskurs zur De-Institutionalisierung – europäisch deshalb, weil er in Österreich kaum stattfindet. Auch einige Panels der AG Kindheit/Jugend der OGSA konnten den Diskurs nicht befördern.
Deutschland (2012) |
Österreich (unter 18-Jährige, 2010) |
Schweden (2010) |
|
---|---|---|---|
Fremdunterbringungsquote je 10.000 unter 21-Jährige | 117 | 79 | 63 |
Anteil Heimerziehung | 50% | 59% (Kärnten: 75%) | 21% |
Wir wollen hier nur anregen, über Gründe zu spekulieren, wieso in drei vergleichbaren Ländern solch signifikante Unterschiede in den Quantitäten von betroffenen Kindern und Jugendlichen einerseits und in den Hilfeformen andererseits bestehen. Sind die Zielgruppen so verschieden und sind es die Hilfekulturen? Oder vertraut die Bevölkerung in einem Staat der Behörde deutlich mehr als in einem anderen? Oder Misstraut die Behörde den Eltern mehr? Oder zeigen sich BürgerInnen gegenseitig in einem Land deutlich öfters bei der Behörde an?
Wir wollen mit den beiden KollegInnen abschließen, mit denen wir auch begonnen haben. Treffender können wir es nicht formulieren, auch wenn wir in Kärnten das Argument der Verschwiegenheitspflicht gut ausräumen konnten:
„Das Erfahrungswissen von Generationen ist derzeit kaum zugänglich, da das Sammeln, Sichten, Aufschreiben, Diskutieren mit dem Argument der Verschwiegenheitspflicht verhindert wird.Forschung und die kritische Sichtung und Verbreitung der akkumulierten beruflichen Erfahrung werden so behindert, Forschungsprojekte, Evaluationen etc. nicht finanziert. Es ist um die Freiheit der Forschung zum Sozialen in Österreich nicht gut bestellt.“ (Gharwal/Pantuček-Eisenbacher 2016: 6)
Aber machen wir was daraus!
Verweise
1 Die von Hubert Höllmüller geführten Interviews mit JugendamtssozialarbeiterInnen – obwohl mit einem sehr ähnlichen Leitfaden – konnten nicht miteinbezogen werden, weil dadurch die Anonymität der Interviewten nicht gewährleistet wäre.
2 Ein signifikanter Rückgang der Fallzahlen ist auch in den Bezirken zu vermuten, hier sind bis jetzt keine Zahlen veröffentlicht.
3 Der Vollständigkeit halber ließe sich auch Fragen, ob gerade in diesem Jahr der Bedarf so eklatant zurückgegangen ist? Bei der Entwicklung der Fallzahlen der vorhergehenden Jahre allerdings sehr unwahrscheinlich.
4 Das damalige Jugendamt Graz formulierte klar, dass dies der Effekt der neuen Fachlichkeit sei.
Literatur
AFET – Bundesverband für Erziehungshilfe e.V. (2013): Qualitätsentwicklung in der stationären Jugendhilfe. Fachtagungsdokumentation, https://www.afet-ev.de/aktuell/AFET_intern/2013/2013-1510-14.KJB-Koop-Hannover.php (20.09.2017).
Bundesgesetz über die Grundsätze für Hilfen für Familien und Erziehungshilfen für Kinder und Jugendliche (Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013 – B-KJHG 2013), i.d.F.v. BGBl. I Nr. 69/2013, https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20008375 (20.09.2017).
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Über die Autoren
Prof. (FH) Dr. Hubert Höllmüller
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Mag. (FH) Raphael Schmid
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