soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 19 (2018) / Rubrik "Werkstatt" / Standort Innsbruck
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/563/1024.pdf
Eva Fleischer:
1. Einführung
„Ja, auf die Kinder kann man sich heute nicht mehr verlassen, es ist ja nicht mehr wie früher. Die haben auch ihr eigenes Leben, die sind heute berufstätig, weil sie das wollen. Und dann haben sie nebenbei wirklich keine Zeit mehr, man muss es auch von deren Seite sehen“ (Frau L, 80, pflegende Angehörige; vgl. Fleischer et al. 2016).
Derzeit leben über 80 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause, unterstützt von (überwiegend weiblichen) Angehörigen und ambulanten Diensten bzw. 24-Stunden-Betreuung (vgl. Appelt/Fleischer 2014). Die folgend beschriebenen Entwicklungen lassen aber erwarten, dass dieses Modell der familiären Pflege und Betreuung in Zukunft nicht mehr ungebrochen vorausgesetzt werden kann:
Die konkrete Erbringung von Care für ältere Personen findet auf kommunaler Ebene statt. In Tirol wird dies über Gesundheits- und Sozialsprengel1 organisiert. Der Leistungskatalog der Sozialsprengel umfasst vorwiegend Betreuungsdienste (Essen auf Rädern, Hauskrankenpflege, Haushaltsführung, Hilfsmittelverleih, Tagesbetreuungsstrukturen, Alten- und Pflegeheime oder betreubares Wohnen). Teilweise finden sich auch Kinderbetreuungsangebote im Portfolio. Diese Angebote müssen je nach regionalen Gegebenheiten spezifisch gestaltet werden, da es z. B. große Unterschiede in den Bevölkerungsstrukturen der jeweiligen Gemeinden gibt. Während manche Gemeinden im ländlichen Raum Zugänge verzeichnen, sind andere sehr stark von Abwanderung betroffen (vgl. Österreichische Raumordnungskonferenz 2014).
Demgegenüber steht eine Sozialplanung im Bereich Altenhilfe/Altenpflege, die in Österreich auf Länderebene verankert ist, so auch in Tirol (vgl. Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Soziales 2013). Neben Regionalisierung ist ein weiterer zentraler Aspekt zukunftsfähiger Sozialplanung die Einbindung der betroffenen Bevölkerung im Sinne der Partizipation (vgl. Blaumeiser et al. 2002, Böhmer 2015a, Pfundstein/Baumgärtner 2010), Wüthrich/Amstutz/Fritze 2015). In Österreich gibt es derzeit nur Pilotprojekte, die diesen Anforderungen entsprechen. Exemplarisch können zwei Projekte genannt werden: „Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben“ der Stadtgemeinde Landeck, dem Institut für Palliativ Care und Organisationsethik in Kooperation mit der Tiroler Hospizgemeinschaft (vgl. Wegleitner/Schuchter/Prieth 2015) sowie das Projekt „Wohnen und Betreuung im Alter in der Region Wagram / Dunkelsteinerwald“ (vgl. Chorostecka-Hassan/Esmursaeva/Tranker 2015, Gruber/Stöger 2014). Ein Ergebnis beider Projekte war, dass ein Bedarf an sozialarbeiterischen Informations- und Beratungsangeboten auf Gemeinde bzw. Stadtebene festgestellt werden konnte.
Der Sozialsprengel Mieminger Plateau trat 2015 an den Masterstudiengang „Soziale Arbeit, Sozialpolitik und Sozialmanagement“ am Management Center Innsbruck mit der Bitte um Unterstützung bei der Weiterentwicklung der Angebote heran, wobei von Anfang an eine sozialräumliche Perspektive leitend war. Das Projekt wurde unter dem Titel „Gutes Leben im Alter in Mieming – Wo geht die Reise hin?“ im Studienjahr 2015/16 unter der Leitung von FH-Prof.in Eva Fleischer mit einer Gruppe von zehn Studierenden2 durchgeführt.
Die Ausgangsfragestellungen lauteten:
Diese Ausgangsfragestellungen wurden im weiteren Verlauf gemeinsam mit der Steuergruppe in eine Reihe von Unterfragestellungen differenziert. Diese berührten die Themen Wohnen, Pflege, Werte/Tabus, Alltag und Freizeit, Selbstbestimmung, finanzielle Situation/Leistbarkeit von Pflege und Zukunftsperspektiven.
Das Ziel des Projektes war die Entwicklung von Vorschlägen für konkrete Maßnahmen, die dem Gemeinderat und dem Vorstand des Sozialsprengels übermittelt wurden. Weitere Ziele waren die Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema „Pflege und Alter“ und Steigerung des Bekanntheitsgrades des Sprengels, die jedoch indirekt erreicht werden sollten.
Im Folgenden werden zunächst zentrale theoretische Bezüge dargestellt, dann folgt eine Beschreibung der spezifischen Situation der Gemeinde, des Forschungsdesigns, ausgewählter Ergebnisse sowie die Diskussion.
2. Theoretische Bezüge
Die theoretische Basis des Projekts bildeten neben den oben kurz benannten Daten und Fakten theoretische Konzepte wie Partizipation (vgl. Straßburger/Rieger 2014), soziale Gerontologie (vgl. Aner/Karl 2010), kommunale Sozial- bzw. Pflegeplanung (vgl. Blaumeiser et al. 2002, Böhmer 2015a, Böhmer 2015b, Wüthrich/Amstutz/Fritze 2015), Sozialpolitik und Care (vgl. Appelt/Fleischer 2014, Fleischer 2014, Gerhard 2014) und Caring Communities (vgl. Dörner 2012, Kricheldorff/Klott/Tonello 2015). Aus diesen Zugängen ergaben sich Grundorientierungen dieses Projekts.3
Folgende Annahmen sind dem Forschungsprozess unterlegt: Die sozioökonomischen Veränderungen und die damit einhergehenden Lebenswelten und Lebenslagen von älteren Personen erfordern innovative Lösungen für Pflege und Betreuung. Diese innovativen Lösungen können aber nur gemeinsam mit den (zukünftigen) pflege- und betreuungsbedürftigen Personen erarbeitet werden. Dabei kommt der Gemeindeebene besondere Bedeutung zu, da auch die Angebote vorwiegend auf der kommunalen Ebene verankert sind.
Im Zuge einer Orientierung am Gemeinwesen und an einer ganzheitlichen Wahrnehmung von älteren Menschen nicht nur als pflegebedürftige, abhängige Personen, sondern auch als Menschen, die etwas zur Gemeinschaft beitragen können und wollen und für die in Folge der Individualisierung Selbstbestimmung ein hoher Wert ist, erhält auch die Soziale Arbeit als Profession in der Altenarbeit bzw. Altenhilfe eine neue Bedeutung. Soziale Arbeit kann pflegebegleitend tätig sein, z. B. in der Angehörigenarbeit, im Case-Management oder in der Organisation von Ehrenamtlichkeit und Nachbarschaftshilfe. Sie kann aber auch in der Gemeinwesenarbeit, in der offenen Altenarbeit und in der Sozialplanung in der Moderation und Begleitung von partizipativen Prozessen tätig sein (vgl. Aner 2010: 41, AG „Altern und Soziale Arbeit“ der OGSA 2017).
3. „Alterswohnsitz“ Mieming
Die Situation in Mieming ist insofern untypisch, als die 40 km von Innsbruck entfernte Gemeinde seit den 1980er-Jahren ihre Bevölkerung verdoppelt hat, was vor allem einem starken Zuzug geschuldet ist, wobei die Gemeinde insbesondere als Alterswohnsitz beliebt ist.
Mieming verfügt über eine gute Verkehrsanbindung, der nächstgelegene Ort mit fachärztlicher Versorgung und Einkaufszentren ist binnen 10 Minuten mit dem Auto erreichbar, ebenso die Inntalautobahn A12. Zwischen den einzelnen, weit auseinanderliegenden Ortschaften gibt es allerdings keine öffentliche Verkehrsanbindung. Die nächstgrößeren Städte sind Innsbruck und Landeck, welche jeweils etwa 40 Kilometer entfernt liegen.
Die Gemeinde hatte 2016 3.862 Einwohner_innen, 10,53% der Einwohner_innen kamen aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland, 1,83% der Mieminger_innen aus dem Nicht-EU-Raum. In den letzten zehn Jahren kam es zu einem Bevölkerungszuwachs von 100%, was einerseits auf Geburten, vor allem aber auf Zuwanderung zurückzuführen ist. Mieming ist als Alterswohnsitz beliebt, so haben zahlreiche Personen aus Innsbruck zunächst einen Zweitwohnsitz, um dann im Alter ganz in den Ort zu ziehen. Durch die verkehrsgünstige Lage pendelt die überwiegende Mehrheit der Erwerbstätigen zu ihren Arbeitsplätzen.
Damit ergeben sich eine Reihe von Herausforderungen für die Gemeinde. Bei zugezogenen Personen, insbesondere bei Personen mit einem Alterswohnsitz, fehlen eventuell dörfliche und familiäre Netzwerke, die im Alter unterstützend sein können. Ähnliches gilt auch für den hohen Pendler_innen-Anteil, der zusätzlichen Zeitaufwand für den Weg von/zur Arbeit kann sich erschwerend auf die innerfamiliäre Pflege auswirken. Aber auch die Familienformen selber verändern sich. Etwa die Hälfte der Mieminger Bewohner_innen ist ledig. Hierbei ist anzunehmen, dass Pflegebedarf dieser nicht mehr im familiären Kontext abgedeckt werden kann. Mit zunehmendem Alter ab 60 Jahren verändert sich das Geschlechterverhältnis. Im Alter gibt es mehr Frauen und somit auch mehr Witwen als Witwer (5:1), d. h. insbesondere alleinstehende ältere Frauen sind auf Unterstützung angewiesen.
Zusätzlich ist festzuhalten, dass sich die Gemeinde zu einer internationalen Gemeinschaft entwickelt hat, in der derzeit Menschen aus 40 Herkunftsländern repräsentiert sind. Hier stellt sich auch die Herausforderung, wie mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen auch im Bereich der Angebote für ältere Menschen umgegangen wird.
4. Angebotsstruktur
Zum Zeitpunkt der Studie wurde der Großteil der Pflege und Betreuung von Angehörigen übernommen. Zusätzlich gab es in Mieming ein Senior_innenheim mit 44 Plätzen, eine Wohnanlage für betreubares Wohnen mit 12 barrierefreien Wohneinheiten sowie ambulante Leistungen durch den Sozialsprengel. Weiter waren 24-Stunden-Betreuer_innen in Mieming tätig, es war jedoch nicht möglich, dazu exakte Daten zu erhalten, da die 24-Stunden-Betreuung als Parallelstruktur neben den Angeboten des Sozialsprengels durchgeführt wird. Es gibt keine Dokumentation auf Gemeindeebene, die Berührungspunkte zwischen Sozialsprengel und 24-Stunden-Betreuer_innen sind unsystematisch. Gute Zusammenarbeit gibt es mit der Hospizgemeinschaft und ihren ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen sowie den Ärzten und Physio- bzw. Logotherapeut_innen im Ort. Für ältere Personen gab es zudem über die Vinzenzgemeinschaft4 und den Seniorenbund Treffen mit sportlichen oder kulturellen Aktivitäten und Ausflüge.
5. Vorgehensweise
Im Sinne der partizipativen Sozialplanung hatte die Einbeziehung von wichtigen Akteur_innen und Betroffenen hohe Priorität, deshalb wurde eine projektbegleitende Steuergruppe eingerichtet. Vertreten waren der Sozialsprengel Mieming, der Sozialausschuss der Gemeinde Mieming, die Hospizgruppe Mittleres Oberinntal – Mieminger Plateau, die Vinzenzgemeinschaft und der Seniorenbund. Insgesamt fanden vier Steuergruppensitzungen statt, darüber hinaus gab es laufende Abstimmungen, insbesondere mit Claudia Spielmann (Geschäftsführerin Sozialsprengel) und Maria Thurnwald (Sozialausschuss Gemeinde Mieming).
Der Ablauf des Projektes kann grob in drei Phasen beschrieben werden. Nach einer öffentlichen Auftaktveranstaltung im September 2015 unter dem Titel „Älter werden in Mieming – Wo geht die Reise für uns alle hin?“ erarbeiteten die Studierenden die theoretische Basis und lernten durch persönliche Kontakte und Einrichtungsbesuche die Situation in Mieming kennen. Gleichzeitig wurde die Steuergruppe etabliert, die dann in weiterer Folge die Fragestellungen für die Forschungsinstrumente mitentwickelte und das Forschungsdesign wesentlich mitbestimmte. Als Design wurde eine Kombination aus Fragebogenerhebung (vgl. Schneider 2013), Gruppendiskussionen (vgl. Kühn/Koschel 2011), teilnehmender Beobachtung (vgl. Streblow 2008), Sozialraumbegehung und Nadelmethode (vgl. Früchtel/Budde/Cyprian 2013) sowie Worldcafé (vgl. Bruck/Müller 2007) gewählt.
Von Jänner 2016 bis Februar 2016 erfolgte die Überarbeitung und Testung des Fragebogens. Studierende führten im Rahmen von Hausbesuchen gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Ehrenamtlichen des Sozialsprengels teilnehmende Beobachtungen durch und erkundeten die sozialräumliche Situation mit Ortsbegehungen.
Im März wurde die schriftliche Fragebogenerhebung durchgeführt, bei der die Hälfte aller Einwohner_innen über 45 befragt wurde (784 Personen, Rücklauf 18,23%). Parallel dazu fanden fünf Gruppendiskussionen (pflegende Angehörige, Professionelle, unterschiedliche Gruppen von älteren Personen – aktive Senior_innen, betreuungs-/pflegebedürftige Personen) mit insgesamt 32 Teilnehmer_innen statt. Nach der Auswertungsphase im April wurden die ersten Ergebnisse im Rahmen der Generalversammlung des Sozialsprengels im Mai 2016 vorgestellt. Ebenfalls im Mai 2016 fand eine Zukunftswerkstatt statt, die das Ziel hatte, die Ergebnisse der breiteren Bevölkerung vorzustellen und konkrete Maßnahmen zu formulieren und zu priorisieren. Hier wurde auf die Methoden Worldcafé und Nadelmethode zurückgegriffen.
Da die Beteiligung an der Zukunftswerkstatt nicht sehr groß war, wurden die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Erhebung und die Ergebnisse aus der Zukunftswerkstatt bei der Erstellung des Maßnahmenkatalogs gleichermaßen berücksichtigt. Im November 2016 wurde der Maßnahmenkatalog im Rahmen einer Informationsveranstaltung öffentlich dem Bürgermeister übergeben.
6. Ergebnisse
In diesem Abschnitt werden zunächst generelle Einschätzungen vorgestellt. Anschließend werden die Bereiche Wohnen und Pflege/Betreuung und der Ausschnitte des entwickelten Maßnahmenkatalogs ausführlicher beschrieben.
6.1 Allgemeine Einschätzung
Generell wird die allgemeine Situation älterer Menschen in Mieming durchaus positiv eingeschätzt, 65% der Befragten gaben an, dass die Situation entweder sehr gut oder gut sei. Differenziert nach Alter der Untersuchungsteilnehmer_innen fällt aber auf, dass es in der Altersgruppe der Jüngeren eine stärkere Tendenz zu negativen Einschätzungen gibt. Dies könnte darauf hindeuten, dass Jüngere zum einen vielleicht eher als Angehörige in Pflege- und Betreuungssituationen eingebunden sind und Lücken bzw. Verbesserungsbedarf sehen, zum anderen die Angebote aber auch (noch) nicht kennen. Darüber hinaus können die negativen Einschätzungen auch mit generell gestiegenen Ansprüchen an das Leben im Alter zusammenhängen. Die Teilnehmer_innenzahlen sind jedoch zu gering, um diese Hypothesen zu testen.
Eine Einschätzung der Angebote für Ältere in Mieming bezogen auf einzelne Angebote ist durchaus differenziert. Die folgende Tabelle ist so zu lesen, dass auf der Skala von 0 bis 4 eine Abstufung vorliegt und aufsteigend von ungenügend (4) bis sehr gut (1) zu interpretieren ist.
Abbildung 1: Generelle Einschätzung von Angeboten in Mieming (Fleischer et al. 2016)
Die Versorgung mit Medikamenten erhielt die besten Werte, während bei Fahrdiensten, Angeboten im Bereich Freizeit (gemütlicher Treffpunkt/Unterhaltungsangebote, Freizeitangebote, Kultur- und Bildungsangebote) sowie Beratung die schlechtesten Bewertungen vergeben wurden.
6.2 Wohnen
Zum Thema Wohnen wurde im Fragebogen die ideale Wohnform unter den folgenden drei Aspekten abgefragt: Einmal unter der Annahme, sie seien noch mobil und selbstständig, dann mit der Annahme, sie seien zwar noch selbständig, bräuchten aber Unterstützung in Lebensbereichen wie beispielsweise Kochen und Einkaufen und als dritte Frage unter der Annahme, dass Unterstützung im Alltag sowie bei der Körperpflege (z. B. Toilettengang) benötigt wird. Bei allen drei Fragen war eine offene Frage angeschlossen, die die Befragten aufforderte, ihre jeweilige Wahl zu begründen.
Abbildung 2: Bevorzugte Wohnform in Abhängigkeit vom Unterstützungsbedarf (Mehrfachnennungen möglich) (Fleischer et al. 2016)
Die Menschen in Mieming wollen so lange wie möglich selbstständig daheim wohnen. Wichtige Argumente dafür sind die Selbstbestimmung, Ruhe und das vertraute Umfeld. Wenn es irgendwann nicht mehr möglich sei, ohne Unterstützung zu wohnen, wollen die meisten Menschen in ihren eigenen vier Wänden bleiben und das soll durch Hilfe durch den Sozialsprengel, 24-Stunden-Betreuung, Familienangehörige oder Bekannte ermöglicht werden. Es wird aber auch hervorgehoben, dass man zeitintensive Betreuung Familienangehörigen nicht zumuten will, ebenso wie das Wohnen bei Familienangehörigen nur für sehr wenige vorstellbar ist. Wenn der Zeitpunkt kommt, an dem man nicht mehr daheim wohnen kann, dann ist das betreubare Wohnen die bevorzugte Option. Die Personen, die bereits im betreubaren Wohnen in Mieming leben, stellen dazu klar, dass das „betreubare Wohnen“ im Gegensatz zu „betreutem Wohnen“ so heißt, weil es keine inkludierte Betreuung gibt. Sollte eine Betreuungsleistung gewünscht sein, dann muss diese, wie im privaten Bereich, zugekauft werden. Hier wünschten die Bewohner_innen, dass es eine Art Minimum von Betreuung geben sollte, in dem Sinn, dass z. B. einmal in der Woche jemand „nachschauen“ kommt, dass es nicht gänzlich auf die Eigeninitiative der Bewohner_innen ankommen muss. Auch das Pflegeheim ist vorstellbar. Es soll aber durchaus auch über Alternativen nachgedacht werden, wie eine Senior*innen WG oder betreubares Wohnen am Bauernhof.
6.3 Pflege/Betreuung
Im Fragebogen wurden zunächst erhoben, inwiefern die Befragten bisher mit dem Thema „Pflege und Betreuung“ in Berührung gekommen waren. Falls die Befragten bereits selber gepflegt bzw. betreut haben bzw. selber Pflege und Betreuung erhalten (haben), wurden zu diesen Erfahrungen spezifische Fragen gestellt. Dann wurde die Bekanntheit von Betreuungsformen abgefragt und erhoben, welche Betreuungsformen die Befragten bevorzugen (würden). Als Erzählaufforderung in der Gruppendiskussion zu diesem Thema wurde gefragt, welche Pflege- und Betreuungsformen bekannt sind und welche Erfahrungen damit bereits gemacht wurden.
Das Thema Pflege und Betreuung ist bei den Befragten durchaus im Bewusstsein, auch wenn die meisten durch das Umfeld damit in Berührung gekommen sind. Die Pflege und Betreuung wird meist von weiblichen Angehörigen durchgeführt, wobei die Unterstützung des Sozialsprengels durchaus (zusätzlich) angenommen wird, die 24-Stunden-Betreuung spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Viele Angehörige, die ihre Familienmitglieder pflegen, sind sehr belastet, insbesondere, wenn sie die Pflege mit ihrem Beruf vereinbaren müssen. Aber nicht nur für die Angehörigen, auch für die pflegebedürftigen Personen selbst kann dies eine Belastung sein, da sie den Personen, die sie pflegen, also meist ihren Kindern, nicht zur Last fallen wollen. Es gibt aber auch Fälle, in denen beide Seiten zufrieden mit der Situation sind. Die Entscheidung zur Betreuung im Pflegeheim wird als schwierig beschrieben, dies liegt zum einen an der gesellschaftlichen Wertvorstellung, die die Pflege durch Angehörige immer noch als Ideal ansieht, zum anderen aber auch an der Personalausstattung der Heime. Die Professionellen berichten von Spannungen und Konflikten mit manchen Angehörigen, die sie sehr belasten, wobei sie selber ebenfalls sehen, dass für eine optimale Pflege eine bessere Personalausstattung unabdingbar wäre.
Bezüglich der ärztlichen Versorgung wird eine Verbesserung der allgemeinärztlichen und fachärztlichen Versorgung gewünscht. Nachbarschaftshilfe wird als sehr bereichernd, jedoch nicht (mehr) als Selbstverständlichkeit angesehen. Mit den Leistungen des Sozialsprengels sind die befragten Personen im Großen und Ganzen zufrieden, es wird aber eine bessere Aufklärung, eventuell durch eine Koordination, gewünscht. 24-Stunden-Betreuung spielt eine wesentliche Rolle in der Unterstützung von pflegebedürftigen Personen. Dabei ist das Thema gekennzeichnet von fehlenden Informationen, aber auch von unterschiedlichen Einschätzungen zur Qualität der Betreuung und zur Lebenssituation der 24-Stunden-Betreuerinnen. Hier besteht Informationsbedarf, aber auch Bedarf nach Austausch bzw. gezielter Kooperation zwischen den Akteur_innen. Abgesehen davon ist das Thema „Zeit“ in vielen Bereichen relevant. Um Betreuung und Pflege menschlich gestalten zu können, braucht es mehr Zeitressourcen für alle.
6.4 Maßnahmenkatalog
Der folgende Ausschnitt aus dem Maßnahmenkatalog5 bündelt die in den einzelnen Bereichen genannten Maßnahmen, da diese oft mehrfach genannt wurden.
Eine zentrale Forderung ist der Wunsch nach einer Koordinations- und Beratungsstelle für psychosoziale Angelegenheiten, die als erste Anlaufstelle dienen soll. Diese Stelle sollte nicht auf Pflegethemen beschränkt sein, sondern einem sozialarbeiterischen Ansatz folgend, umfassend tätig werden. Als mögliche Aufgabenbereiche wurden genannt:
Als Generalthema wurde schließlich als Ziel die Entwicklung der Gemeinde zu einer senior_innenfreundlichen Gemeinde formuliert, das auf vielerlei Ebenen umgesetzt werden sollte:
7. Diskussion
Das Ergebnis bietet eine gute Ausgangsbasis für weitere Schritte hin zu einer „fürsorgenden Gemeinde“ (caring community), in der Soziale Arbeit als unverzichtbarer Teil eines Netzwerkes der Sorge gesehen wird. Durch den Methodenmix konnten unterschiedliche Perspektiven einbezogen werden, was sich auch in den unterschiedlichen Einschätzungen zu den jeweiligen Themen in Abhängigkeit von der jeweiligen Methode der Erhebung zeigt.
Bürger_innenbeteiligung in der Sozialplanung für Ältere ist in Tirol ein noch ungewohntes Feld und es ist positiv hervorzuheben, dass die Gemeinde Mieming diesen Schritt gewagt hat. Unser Projekt ist in Bezug auf die Beteiligungsmöglichkeiten der Bevölkerung im Modell der Partizipationspyramide im Bereich der „Vorstufen der Partizipation“ (vgl. Fritz 2015) anzusiedeln. Die Einwohner_innen hatten durch die Gruppendiskussionen, im Fragebogen und die Zukunftswerkstatt die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, ihre Lebensweltexpertise wurde wertgeschätzt. Bei den Mitgliedern der Steuergruppe war die Einflussmöglichkeit wesentlich höher, da ihre Wünsche die Schwerpunkte des Projektes bestimmt haben, was als Mitbestimmung während des Forschungsprozesses zu sehen ist. Die Entscheidungskompetenz z. B. über die Themen der Erhebung wurden in weiten Teilen abgeben. Da die Umsetzung aber beim Sozialsprengel bzw. der Gemeinde bleibt, kann das Projekt letztlich im Rahmen der Vorstufen von Partizipation eingeordnet werden. Der Umfang der Mitwirkungsmöglichkeiten wurde zumindest von Anfang an klar kommuniziert.
Um Partizipation umfassend sicherzustellen, braucht es auch eine Kultur der Beteiligung. Dass diese an vielen Stellen noch zu entwickeln ist, spiegelt sich auch in diesem Forschungsprozess. Die Ergebnisse sind das Resultat eines Prozesses, der viele Mieminger_innen miteinbezogen hat, aber nicht alle. Die Beteiligung an der Fragebogenerhebung und an der Zukunftswerkstatt war verhältnismäßig gering.
Mögliche Gründe können an der Methodik der Fragebogenerhebung selber liegen. Persönliche Hausbesuche wären sicherlich ergiebiger gewesen, da der Fragebogen einerseits sehr umfassend war, andererseits gerade Menschen mit Sehbeeinträchtigung bzw. auch leichten kognitiven Beeinträchtigungen oder nicht-deutscher Muttersprache eventuell Schwierigkeiten hatten, den Fragebogen auszufüllen. Bei der Zukunftswerkstatt könnte das schöne Wetter eine Rolle gespielt haben, der parallele Prozess zur familienfreundlichen Gemeinde (Familie & Beruf Mangement GmbH 2017) könnte vielleicht auch eine gewisse Sättigung mit dem Thema verursacht haben. Generell stellt sich die Frage, wie Partizipation so organisiert werden kann, sodass sich nicht nur die bereits engagierten Personen beteiligen oder einzelne Gruppen ihre partikularen Interessen durchsetzen. So konnte eine wesentliche Gruppe von Akteur_innen, Personen, die in der 24-Stunden-Betreuung tätig sind, nur indirekt (aus Perspektive von Angehörigen) in die Untersuchung aufgenommen werden, da der Einbezug dieser Gruppe von einem Teil der professionellen Pflegekräfte vehement abgelehnt wurde.
Bei der Interpretation der Daten wurde deutlich, dass es „die“ Älteren nicht gibt, dies zeigte sich z. B. bei Fragen danach, wie oder ob Pflege durch Angehörige erwünscht oder gerade nicht erwünscht ist. Die Gruppe der Älteren zeichnet sich durch unterschiedliche Interessen, Wertvorstellungen und auch soziale und materielle Ressourcen aus. Gleichwohl scheint die Pflege und Betreuung oder generell die Beschäftigung mit dem Thema Alter vor allem ein Frauenthema zu sein. Dieser Aspekt verdient Aufmerksamkeit auch im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit. Die demografischen Entwicklungen, die am Anfang der Studie beschrieben wurden, schlagen sich auch in den Ergebnissen als Herausforderungen nieder, z. B. die hohe Rate von zugezogenen Menschen oder auch von Pendler_innen, ebenso wie veränderte Familienstrukturen.
Versorgungslücken (nur begrenzte Stunden Betreuung/Pflege vom Sozialsprengel täglich möglich, fehlende Nachtbereitschaft/Nachtdienste im Sozialsprengel, Einzelbesetzung in der Nacht im Altersheim) wurden vor allem von Professionellen und Angehörigen thematisiert, weniger von den (zukünftigen) Älteren. Hier stellte sich die Frage, ob die generelle Zufriedenheit mit Angeboten von (zukünftigen) Betroffenen, die von Professionellen und pflegenden Angehörigen durchaus kritisch gesehen wurden, auf geringere Ansprüche, Resignation, fehlendes Wissen oder auch Milieuunterschiede zurückzuführen sind oder ob sich Ansprüche mit dem Eintritt der Pflegesituation verändern. Andererseits wurden im Bereich betreubares Wohnen von den Bewohner_innen Kritikpunkte geäußert, die z. T. nicht erwartet worden waren. Hier wird deutlich, dass es wichtig ist, in einem ständigen Prozess des Austauschs über Erwartungen und Wahrnehmungen zu sein.
Alter ist nicht (nur) Pflegebedürftigkeit, es wurde im Rahmen der Studie jedoch deutlich, dass Alter(n) sehr stark mit Pflegebedürftigkeit verknüpft wird.
Zukünftige Angebote sollten auch das Potenzial und die Interessen der „aktiven“ Älteren berücksichtigen. Diese Gruppe sollte bei der Selbstorganisation unterstützt bzw. sollten Möglichkeiten geboten werden, damit sich neue Formen des freiwilligen Engagements entwickeln können. Das Potenzial wäre durchaus vorhanden. Dieser Aspekt hat jedoch auch die Kehrseite, dass über die Betonung der Leistungsfähigkeit und der Unabhängigkeit im Alter, das Tabu der Bedürftigkeit, des Angewiesen-Seins auf Hilfe wiederum verstärkt wird. Ziel sollte sein, eine angst- und schambesetzte Auseinandersetzung mit der eigenen Bedürftigkeit zu ermöglichen, die dann auch das Annehmen von Hilfe erleichtert. Zusätzlich ist zu bedenken, dass ein Mensch, der der Pflege und Unterstützung bedarf, weiterhin soziale und kulturelle Interessen hat bzw. dass Menschen gleichzeitig unterschiedliche Rollen haben können, z. B. pflegende Angehörige sein und in gewissen Bereichen Unterstützung benötigen.
Eine Gemeinde senior_innenfreundlich zu gestalten berührt nicht nur die Altenbetreuung- und pflege im engeren Sinn. Dies zeigt sich an den Vorschlägen, die die Infrastruktur betreffen, wie Mobilität und Barrierefreiheit – dies sind Bereiche, die allen Generationen das Leben in der Gemeinde erleichtern können.
Einen Prozess der partizipativen Sozialplanung zu starten, weckt Erwartungen. Es wäre zu wünschen, dass viele dieser Maßnahmen auch tatsächlich umgesetzt werden können. Dabei ist klar, dass nicht alles in der Zuständigkeit der Gemeinde bzw. des Sozialsprengels liegt, wie z. B. den Pflegeschlüssel in Heimen zu verändern, andererseits haben Gemeinden durchaus gewisse Spielräume. Diese unter weiterer Beteiligung der Bevölkerung zu nutzen, ist die zukünftige Herausforderung. Wünschenswert wäre darüber hinaus die Schaffung gesetzlicher Grundlagen, um diese Art von Sozialplanung auch auf kommunaler Ebene zu verankern.
Als Folge des Projektes wurden einige der vorgeschlagenen Maßnahmen bereits umgesetzt: Es wurde ein Dorftaxi eingerichtet, das älteren Bürger_innen kostengünstige Mobilität zwischen den einzelnen Ortsteilen ermöglicht, die Nutzung der Tagesbetreuung als Entlastung für pflegende Angehörige ist gestiegen, die Vernetzung zwischen einzelnen Akteur_innen wurde verbessert. Die gewünschte Verankerung Sozialer Arbeit auf Gemeindeebene stößt allerdings auf Schwierigkeiten, da Soziale Arbeit als Profession in den entsprechenden Richtlinien zur Abrechnung von Leistungen der ambulanten und aufsuchenden Versorgung noch nicht verankert ist.
Verweise
1 Gesundheits- und Sozialsprengel werden meist verkürzt als „Sozialsprengel“ bezeichnet, obwohl der Schwerpunkt auf Gesundheitsleistungen liegt. Ich folge im weiteren Text dem allgemeinen Sprachgebrauch.
2 Mag.a Kathrin Heis, Julia Hofmarcher BA, Hannah Hönlinger BA Jonathan Kunze BA, Carina Prach BA, Vera Sachers BA, Jana Schupperner BA, Leonhard Schwiersch BA, Carolin Zenkert BA. Jasmin Ceresna BA war in der Anfangsphase des Projekts dabei, schied dann allerdings aus dem Studium aus.
3 Ausführlich dazu im Projektbericht Fleischer et al. 2016.
4 Die Vinzenzgemeinschaft ist eine katholische ehrenamtliche Laienorganisation.
5 Ausführlich unter Fleischer et al. 2016.
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Über die Autorin
FH-Prof.in Dr.in Mag.a DSAin Eva Fleischer, Jg. 1963
Studium der Sozialarbeit, Pädagogik und Politikwissenschaft. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Care/Sorge im Bereich der Sozialen Arbeit, Sozialpolitik, Partizipation, Feministische Theorien/Diversity. |