soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 19 (2018) / Rubrik "Einwürfe / Positionen" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/564/1014.pdf


Anna Riegler & Martin GÖssl:

Forschung darf sich nicht für eine Politik der Diskriminierung instrumentalisieren lassen


Aktuell wird in Öffentlichen Diskursen oft bewusst, aber auch unbewusst die (Re-)Produktion von ausgrenzenden Differenzsetzungen und Stereotypisierungen in Bezug auf Ethnie und Religion vorangetrieben. Dieser stereotypisierende Blick führt zu Diskriminierungserfahrungen der so kategorisierten Anderen, welche mit erhÖhten individuellen Anstrengungen dagegen ankämpfen, um sich Chancen auf einen Anschluss an ein Gemeinwesen zu erarbeiten (vgl. Mikula et al. 2017). Schließlich werden solche Diskurse nicht selten in extreme Standpunkte transformiert und leisten so Vorschub in Richtung Spaltung der Gesellschaft. Wird Wissenschaft in den Dienst solcher Diskurse gestellt, muss eine kritisch reflexive Forschung Standpunkt beziehen1. Im Rahmen der von der Politik in Auftrag gegebenen Forschungsarbeiten sind dann unter anderen folgende Fragen zu stellen, um dieser Reproduktion von Stereotypen entgegenzuwirken:

  1. Ist die Unabhängigkeit der Forschung gewährleistet? Welche Auseinandersetzung zu Standpunktsensibilität geht mit einem Forschungsprojekt einher?
  2. Welche Ziele sind mit einem Forschungsauftrag verbunden bzw. welches Forschungsinteresse leitet die Auftraggeber*innen?
  3. Wie wird eine Stichprobe gebildet? Mit welchen Methoden wird erhoben?
  4. Wie werden Forschungsergebnisse interpretiert und verwertet?
  5. Welcher Rahmen wird gezogen, wenn wissenschaftliche Forschung einer Öffentlichkeit präsentiert wird? Welche medialen Verkürzungen drohen Radikalisierung und Ausschlüsse nach sich zu ziehen?

Diese Fragen sollen hier aus aktuellem Anlass bezüglich der jüngst präsentierten Studie „ReligiÖse und ethische Orientierungen von muslimischen Flüchtlingen in Graz“ (Aslan 2017) nachgegangen werden.


1. Ist die Unabhängigkeit der Forschung gewährleistet? Welche Auseinandersetzung zu Standpunktsensibilität geht mit einem Forschungsprojekt einher?

In der genannten Studie (vgl. Aslan 2017) heißt es in der Einleitung:

„Leider sind die Debatten über die Integration muslimischer Flüchtlinge stark von Vorurteilen und Emotionen geprägt. Mangelnde Sachlichkeit aber macht es nicht nur schwer, ein umfassendes Bild von den ethischen und religiÖsen Vorstellungen der muslimischen Flüchtlinge zu erhalten, sondern verhindert auch konstruktive Überlegungen darüber, wie der soziale Friede gewährleistet werden kann“ (Aslan 2017: 7).

Hier nimmt Forschung den Blick der Politik ein, indem Sachlichkeit suggeriert wird und eine unkritisch übernommene Normalitätsfolie der weißen aufnehmenden Gesellschaft (vgl. Tißberger 2017) auf „Flüchtlinge“ übernommen wird, welchen mit der Verbindung folgender Aussagen in einem Satz – „muslimische Flüchtlinge (…) [und] wie sozialer Friede gewährleistet werden kann“ – implizit zugeschrieben wird, für sozialen Unfrieden (mit) verantwortlich zu sein. Es ist von einer „Integration“, von „gezielten Maßnahmen“ in Richtung einer nicht explizierten Normalität – die mit Österreichischer Gesellschaft betitelt wird – gesprochen. Hier findet eine rassistische2 Markierung von „Flüchtlingen“ aus der dominanten Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft statt. Eine kritisch reflexive Forschung würde diese Aspekte jedoch standpunktsensibel – die Forschenden als Teil der Aufnahmegesellschaft, als Teil dieser dominanten Perspektive – in das Forschungsdesign mit aufnehmen.


2. Welche Ziele sind mit einem Forschungsauftrag verbunden bzw. welches Forschungsinteresse leitet die Auftraggeber*innen?

In der Einleitung dieser Studie (vgl. Aslan 2017) heißt es:

„Die Untersuchung des Verhältnisses von Religion und Migration kann Aufschluss darüber geben, welche Bedeutung der Religion im Verortungsprozess der Migranten zukommt und ihnen gegebenenfalls Wege aufzeigen, die Stellung der Religion in einer weitgehend säkularen Gesellschaft neu zu definieren.“ (Aslan 2017: 7)

Einerseits ist hier nur von männlichen Migranten die Rede, andererseits geht es darum, die muslimische Religion scheinbar mit erwartbaren Forschungsergebnissen in der säkularen Gesellschaft neu zu definieren. Es wird wiederum unhinterfragt davon ausgegangen, dass die Definitionsmacht dann bei den Auftraggebern (hier ist bewusst die männliche Form gewählt) liegt und es kann vermutet werden, dass diese Studie eine Argumentationsgrundlage für die Rechtfertigung dieses Vorhabens sein soll. Es wird wiederum nicht differenziert zwischen Migrant*innen, anerkannten Flüchtlingen, Asylwerber*innen, subsidiär Schutzberechtigten und deren unterschiedlich vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Inklusionschancen, sondern diesmal ist nur von Migranten3 die Rede. Erhoben wurde anscheinend aber eher nur unter Asylwerber*innen4, welche mit dem im Öffentlichen Diskurs negativ konnotierten Begriff „Flüchtlinge“ behaftet werden. Aussagen werden wiederum aber in Bezug auf Migrant*innen getroffen. Der Begriff Migration meint aber transnationale Migration aus beispielsweise wirtschaftlichen oder arbeitsmarktrelevanten Gründen. Es ist daher die kritische Frage zu stellen: Gibt es seitens der Auftraggeber unreflektierte Forschungsinteressen und Vorannahmen? Inwieweit geht es mit der Berufung auf statistische Mittelwerte auch um eine Bestätigung von impliziten Vorannahmen aus der Praxis?


3. Wie wird eine Stichprobe gebildet? Wie wird methodisch gearbeitet?

Die Studie (vgl. Aslan 2017) erweckt den Anschein, aufgrund 288 ausgewerteter FragebÖgen repräsentativ für Flüchtlinge in Graz zu sein. Schon die Unschärfe des Begriffs Flüchtlinge lässt auf eine nicht geklärte Ausgangssituation hinweisen. So ist in der Studie einmal von 288 Flüchtlingen (vgl. Aslan 2017: 12) die Rede, ein andermal wird darauf hingewiesen, dass davon 128 Asylwerber*innen sind, was darauf schließen lässt, jedoch nicht erhoben wurde, ob der Rest der Befragten anerkannte Flüchtlinge sind oder subsidiär Schutzberechtigte (Vgl. Aslan 2017: 21). Schon allein aus diesen diversen Lebensbedingungen heraus, aufgrund rechtlicher Anerkennungsverhältnisse und damit einhergehend sozialer AnschlussmÖglichkeiten lässt sich hier kein repräsentatives Bild von hier pauschal konnotierten Flüchtlingen zeichnen. Der genaue Blick auf die Lebenssituation der Befragten und insbesondere die Art der Unterkunft zeigt, dass der überwiegende Teil – „Nur 2,6 % der Befragten hatten die MÖglichkeit in privaten Unterkünften zu leben.“ (Aslan 2017: 21) – in einem Wohnheim untergebracht ist, was darauf schließen lässt, dass noch weniger der Befragten einen anerkannten Flüchtlingsstatus haben (weil diese sonst aus der Grundversorgung und damit Unterbringung in Wohnheimen herausfallen würden). In Wahrheit wurde also eine Umfrage unter Asylwerber*innen durchgeführt, welche aus rechtlicher Sicht kaum AnschlussmÖglichkeiten an gesellschaftliche und soziale Normalverläufe des täglichen Lebens haben. Die Ergebnisse dieser Studie sind daher in diesem Kontext zu deuten, was jedoch nicht gemacht wurde. Mit dieser Studie wurde aber schon allein aufgrund des Titels suggeriert, es gehe um „Flüchtlinge in Graz“ und nicht um eine ausgewählte Gruppe von Asylwerber*innen und hier vermehrt männliche Asylwerber, die befragt wurden. Unter dem Kapitel „Soziales Umfeld: Kontakte“ heißt es weiter, dass 37,4% der Probanden angeben, täglich am Arbeitsplatz Kontakt mit Österreicher*innen zu haben (vgl. Aslan 2017: 22). Es wird also verwirrend und es muss dann wiederum die Frage gestellt werden: Wurden also doch anerkannte Flüchtlinge befragt? Denn Asylwerber*innen haben keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Diese Unschärfe ließe sich an weiteren Beispielen exemplifizieren.

Ein weiterer Kritikpunkt an der Datenerhebung in dieser Studie (vgl. Aslan 2017) ergibt sich aus Folgendem: Erhoben wurde laut Studie

„mündlich (face-to-face) mittels quantitativ standardisierter Befragung (…). Face-to-face-Interviews in Gruppen ermÖglichen eine kontrollierbare Befragungssituation und schlossen die Einflussnahme weiterer Personen aus. (…) Um den Aufwand mÖglichst gering zu halten, wurden die KandidatInneen [sic!] zunächst unter Beiziehung muttersprachlicher MitarbeiterInnen um freiwillige Teilnahme gebeten, was sich dank der Mithilfe der Quartierleitungen als nicht zu schwierig erweisen sollte. Einen zusätzlichen Anreiz boten die in Aussicht gestellt [sic!] Lebensmittelgutscheine in HÖhe von 10 Euro. Obwohl die FragebÖgen in verschiedenen Sprachen vorlagen, wurden die Personen oder Gruppen zusätzlich über die Inhalte derselben informiert, damit sie sicher sein konnten, dass ihnen daraus keine Nachteile erwachsen würden. Darüber hinaus waren einige inhaltlich ergänzende Informationen notwendig.“ (Aslan 2017: 9)

Allein diese Beschreibung des Umgangs mit der Fragebogenerhebung weist auf diffuse Ängste der Befragten (damit sie sicher sein konnten, dass ihnen keine Nachteile erwachsen würden), auf diffuse Einflussnahmen (dank der Hilfe der Quartiersleitung, einige ergänzende Informationen) und auf fragwürdige Freiwilligkeit (dank der Unterstützung der Quartiersleitungen, mittels Lebensmittelgutscheinen) hin. Strittig wird die Studie auch in Bezug auf nicht dokumentierte muttersprachliche Übersetzungen.


4. Wie werden Forschungsergebnisse interpretiert und verwertet?

Hervorgehoben seien dazu beispielhaft die Aussagen zu den Werten „Bewahrung“ und „Offenheit als Wandel“. In der Studie heißt es:

„Der Vergleich (…) zeigt eine leichte Präferenz der Befragten für Bewahrung. Dabei sticht Sicherheit besonders hervor und ist deutlich stärker ausgeprägt als die Werteorientierung auf Tradition und Konformität. Offenheit für Wandel, also die Antworten zu Hedonismus, Anregung (Stimulation) und Selbstentfaltung hingegen scheinen bei den Flüchtlingen nicht ganz so stark präferiert zu werden. So kann man für die befragten Flüchtlinge resümieren, dass für sie Bewahrung wichtiger ist als Offenheit für Wandel.“ (Aslan 2017: 24)

Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass Tradition einen Mittelwert von 3,99, Konformität einen Mittelwert von 3,93 und Sicherheit einen Mittelwert von 4,15 haben, diese drei Werte zusammen ergeben den Wert Bewahrung. Hedonismus hat einen Mittelwert von 3,86, Anregung einen Mittelwert von 3,86, Selbstentfaltung einen Mittelwert von 3,87 und ergeben zusammen den Wert Offenheit für Wandel. Die Unterschiede in den Mittelwerten sind also so gering, dass daraus kaum signifikante Ergebnisse abgeleitet werden kÖnnen. Dies wird jedoch trotzdem gemacht: Im Kapitel „Zentrale Ergebnisse“ wird daraus der fragwürdige Schluss abgeleitet, dass von den Befragten der Wert Bewahrung und hier besonders Sicherheit über die Wertedimension von Offenheit für Wandel gestellt würde. (vgl. Aslan 2017: 1) An dieser Stelle wäre ein qualitativer Forschungsansatz mit Fragen zum eher hervorstechenden Bedürfnis nach Sicherheit, aber auch zu Tradition, Bewahrung und Offenheit für Wandel sinnvoll, um explizierend aus der Sicht der Betroffenen darstellen zu kÖnnen, was diese damit verbinden, anstatt eine verkürzte Gegenüberstellung der sich im Mittelwert kaum unterscheidenden Werte zu machen. Denn aus der Krisenforschung (vgl. Sonneck 2000) ist bekannt, dass es durch Krisen zu Überforderung, zur Destabilisierung des inneren psychischen Gleichgewichtes kommen kann und der Rückgriff auf bisher bewährte Handlungsmuster nicht mehr ausreicht, um die Krise zu bewältigen. In Situationen der Krise kann es also umgekehrt zur inneren psychischen Stabilisierung beitragen, wenn auf bisher funktionierende Bewältigungsmuster zurückgegriffen werden kann, für viele Menschen ist dies die Rückbesinnung auf Religion und andere bewährte, Sicherheit gebende Handlungsmuster (Krisen betreffen eine Bandbreite von überfordernden Situationen angefangen bei plÖtzlichen Trennungen, Tod, Flucht, Arbeitsplatzverlust, bis hin zu schlichten Veränderungen wie beispielsweise Wohnungswechsel, Schulwechsel etc.). Die Aspekte Sicherheit und tradierte Werte, die Bedeutung der Religion sollte daher eher in diesem Zusammenhang gedeutet werden bzw. qualitative Erhebungsmethoden würden anstatt einer statistischen Erhebung dazu weit aufschlussreichere und aussagekräftigere Ergebnisse liefern kÖnnen, welche auch für treffsicherere Hilfestellungen im Rahmen des anerkennenden (vgl. Honneth 1994) Aufnehmens in eine Gesellschaft genutzt werden kÖnnten.

In Bezug auf Religion kÖnnen weitere „statistisch untermauerte“ und damit als wahr suggerierte Aussagen der Studie (vgl. Aslan 2017) kritisiert werden: In der Zusammenfassung der „Zentralen Ergebnisse“ heißt es: „Die Überlegenheit des Islams anderen Religionen gegenüber ist für 51,6% der Probanden unstrittig.“ (Aslan 2017: 2) Mit der Hervorhebung in fetter Schreibweise wird nur noch auf den Fakt der Überlegenheit des Islams hingewiesen, aber nicht auf die Prozentzahl von 51,6 Prozent. (Vgl. Aslan 2017: 40) Anders interpretiert kÖnnte genauso gut festgestellt werden: Demnach ist für 48,4 Prozent der Befragten der Islam anderen Religionen gegenüber nicht überlegen. Und 57,3 Prozent glauben nicht daran, dass ihre Religion in allen Glaubensfragen Recht habe. (vgl. Aslan 2017: 40) An dieser Stelle ist aber auch die Frage zu stellen, wie sähe eine solche Umfrage bei Vertreter_innen anderer Glaubensrichtungen aus?

Weiter heißt es in der Zusammenfassung „Die Frage, ob sie glaubten, dass die Juden/Jüdinnen zu viel Einfluss auf die Welt hätten, bejahen 46,3% der Befragten.“ (Aslan 2017: 2) Abgesehen davon, dass diese Frage als suggestiv eingeschätzt werden kann, ist auch hier die Frage zu stellen, welche Werte diese Umfrage unter allen anderen in Österreich lebenden Menschen ergeben würde. „44,2 Prozent der Befragten empfinden die jüdische Religion als schädlich für die Welt. Die Aussage, dass sich Juden um niemanden außer sich selbst kümmern, findet bei 54,5% Zustimmung.“ (Aslan 2017: 2) Auch hier ist die Frage der Suggestivität in der Befragung zu stellen bzw. das Ergebnis in Frage zu stellen, indem die Vergleichbarkeit mit anderen BevÖlkerungsgruppen ohne transnationalen Migrationshintergrund fehlt. Es wäre also interessant, diese Frage unter Österreicher*innen zu erheben. Hingegen finden 55,3 Prozent der Befragten die jüdische Religion als nicht schädlich für die Welt? Über diesen Prozentsatz wird in der Studie nicht geredet. Es stellt sich daher die Frage: welche Vorurteile werden mit dieser Frage abgefragt, bei wem werden diese Vorurteile abgefragt. Was suggeriert diese Aussage? Muslime sind judenfeindlich? Welches Interesse steht hinter einer Darstellung eines so verkürzt dargestellten Ergebnisses? Judenfeindlichkeit ist wie jede andere rassistische Haltung abzulehnen. Einstellungen zu Religion[en] müssten in Studien dazu aber auch immer im Kontext der politischen Sozialisation der Betroffenen erhoben werden. Denn wenn eine vermeintliche Wahlfreiheit mit Verfolgung und Haft geahndet wird, beispielsweise von Christen im Iran oder ähnliches, dann müssten die jeweiligen Kontexte, d. h. dieses Deutungswissen der Befragten miterhoben werden, um Anknüpfungspunkte für entsprechende differenzierte Auseinandersetzungen mit diesen Einstellungen erhalten zu kÖnnen, um darauf aufbauend auch Bildungsarbeit über ein beispielsweise „Arbeiten mit der eigenen Biografie“ entwickeln zu kÖnnen. Aussagen über Häufigkeitsverteilungen von antisemitischen Einstellungen liefern für Letzteres kaum Information. Aus der Psychoanalyse stammend wird in diesem Zusammenhang der Begriff des „inneren Rassismus“ (vgl. Davids 2016) interessant: Es werden unbewusst eigene rassistische Tendenzen kaschiert, indem diese auf andere gelenkt und bei diesen bekämpft werden.

Die Reihe von kritisch zu betrachtenden Beispielen ließe sich hier noch weiterführen mit beispielsweise beschriebenen Ansprüchen an eine aus der dominanten Perspektive definierten Begrüßungsform (Hand geben), Fragen zu Vorurteilen gegenüber Homosexualität, Demokratie, Sitten- und Werteverfall in der westlichen Welt. Schade ist, dass auch so wichtige Themen wie Gewalt in der Familie mit dem Islam in dieser Studie (vgl. Aslan 2017) verbunden werden und weitere Vorurteile befeuert werden. Gewalt in der Familie ist in nicht-muslimischen Familien genauso schlimm wie in muslimischen Familien, was nützt eine statistisch untermauerte Abfrage nur unter Muslimen zu deren Einstellungen zu Gewalt. Wichtiger erscheint, Gewalt dort zu bekämpfen, wo sie entsteht, egal ob mit oder ohne Glaubenshintergrund, die Mechanismen sind die gleichen: Macht und Ohnmacht im Zusammenhang mit problematisch wirkenden geschlechtsspezifischen Rollenauffassungen und daraus entstehenden Abhängigkeiten.


5. Welcher Rahmen wird gezogen, wenn wissenschaftliche Forschung einer Öffentlichkeit präsentiert wird? Welche medialen Verkürzungen drohen neue Radikalismen und Ausschlüsse nach sich zu ziehen?

In einem nachhaltigen Verständnis von Wissenschaft sind dies Fragen, die uns Wissenschaftler*innen an Hochschulen im Angesicht der zunehmenden Komplexität einer wahrnehmbaren Natur und eines vielfältigen Menschen beschäftigen müssen. Die von Dr. Ednan Aslan erarbeitete Studie scheint, wie die vorhergehenden Anmerkungen darlegen konnten, ein Beispiel dafür zu sein, wie wichtig diese dialektische Auseinandersetzung mit sich selbst, Kolleg*innen und dem Forschungsthema an sich sein kann.

Die ohne Zweifel bestehende Brisanz des Themas sorgt absehbar für eine mediale Aufmerksamkeit (vgl. Winter-PÖlsler 2018), die in Erwartung dessen eine Verpflichtung der behutsamen – dem wissenschaftlichen Ethos der Bescheidenheit (vgl. Eco 2002) verpflichtete – Vorgehensweise mit sich bringen muss. Zu schnell ist die Linie einer Zuschreibung markant gezeichnet, Polaritäten geschaffen und Realitäten surrealisiert.

„Denken wir an die Kraft dieser Dynamik von Interpellation und Nichtanerkennung, wenn der Name kein Eigenname ist, sondern eine gesellschaftliche Kategorie und damit ein Signifikant, der sich auf verschiedene und widersprüchliche Weisen deuten läßt [sic!]. Der Anruf als >>Frau<< oder >>Jude<< oder >>Schwuler<< oder >>Schwarzer<< oder >>Chicana<< läßt [sic!] sich ja nach Kontext als Bekräftigung oder als Beleidigung hÖren oder auffassen (wobei der Kontext die tatsächliche Geschichtlichkeit und Räumlichkeit des Zeichens ist). Wird dieser Name gerufen, dann wird überwiegend gezÖgert, ob man antworten soll und wie, denn es geht hier darum, ob die durch den Namen performierte zeitweise Totalisierung politisch Kraft verleiht oder aber lähmt, ob der Ausschluß [sic!], ja die Gewalt der durch diesen bestimmten Anruf performierten totalisierenden Identitätsreduktion eine politische Strategie oder aber eine Regression ist, oder ob sie, falls lähmend und regressiv, auf andere Art vielleicht hilfreich ist.“ (Butler 2001: 92)

Die sich daraus ergebenden Effekte dieses exkludierend wirkenden „Anrufs“ als „Flüchtling“, welcher auch mit einer wissenschaftlichen Betitelung geschehen und diese aufgrund des Anscheins der akademischen Professionalität verschärfen kann, führen zu weitreichenden Effekten der Distinktion und Diskriminierung, oder zu „Gewalt“ (Butler 2001: 92) und „Unterwerfung“ (Butler 2001: 100), wie Judith Butler es nennt.

„Verleihen also bestimmte Arten der Anrufung Identität, dann konstituieren die verletzenden Anrufungen durch Verletzung Identität. Das heißt nicht, daß eine solche Identität für alle Zeiten in dieser Verletzung wurzeln muss, solange sie überhaupt Identität bleibt; sehr wohl aber impliziert dies, daß die MÖglichkeiten für neue Bedeutungen das leidenschaftliche Verhaftetsein (sic.) mit der Unterwerfung erschüttern und umgestalten, ohne welches Subjekte nicht gebildet und nicht umgebildet werden kÖnnen“ (Butler 2001: 100).

Dieser Einsatz von wissenschaftlicher Erkenntnis in einem politischen Spielfeld verursacht Effekte, die einen gesellschaftlichen Prozess der exkludierend wirkenden Zuschreibungen bedingen. Die Vereinfachung, die Kategorisierung und die Zuspitzung formen politische Alltagssituationen und nehmen somit unweigerlichen Einfluss auf politischen Entscheidungsträger*innen. Wie bereits Michael Warner (1999) feststellen musste – und dies sollte seither keine Überraschung mehr sein:

“Within the context of the gay and lesbian movement, ‘left’ and ‘right’ are given a rather special usage, in which ‘left’ means pro-sex and right means anti-sex. This, too, is misleading shorthand. The implication tends to be that those who favor sex and especially casual sex, are opposed by those who favor romantic love.“ (Warner 1999: 73)

Ähnlich der Debatte um sexuelle Orientierungen ist das Thema Flucht einem ebenso starken politischen Zugang ausgeliefert, welcher entscheidend ist in der Frage, in welcher Art und Weise mit dem Thema umgegangen wird. Der Glaube, dass eine gesellschaftspolitische Relevanz durch wissenschaftliche Erkenntnisse eine „Objektivierung“ erfahren würde, wäre geradezu infantil. Gedanken formen Aktionen und Aktionen führen zu Reaktionen. Diese Kette darf im Sinne einer verantwortungsvollen Wissenschaftlichkeit niemals außer Acht gelassen werden. Daher sind die Fragen was untersucht und wie es benannt wird, aus welcher Perspektive heraus Fragen gestellt werden, als auch welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden, von grundlegender Relevanz.

Damit muss klargestellt werden, dass jede Themenstellung in der Wissenschaft ihren Platz haben muss und schwierige Diskurse keinesfalls dazu beitragen dürfen, dass ein Thema nicht behandelt wird, ganz im Gegenteil. Doch im Zuge der bereits erwähnten Bescheidenheit, muss der wissenschaftliche Zugang und die weiterfolgenden Schritte mit ernstzunehmender Behutsamkeit geschehen.

„Eine allzu verbreitete These behauptet, der heutige Kapitalismus lebe von der Ausbeutung falscher Bedürfnisse. Das ist bestenfalls eine Halbwahrheit. (…) Die Anziehungskraft des Massenkonsums beruht aber nicht auf dem Oktroi falscher, sondern auf der Verfälschung und Ausbeutung ganz realer und legitimer Bedürfnisse, ohne die der parasitäre Prozeß [sic!] der Reklame hinfällig wäre. (…) Es ist vollkommen klar, daß (sic.) die Bewußtseins-Industrie [sic!] in den bestehenden Gesellschaftsformen keines der Bedürfnisse, von denen sie lebt und die sie deshalb anfachen muß [sic!], befriedigen kann, es sei denn in illusionären Spielformen.“ (Enzensberger 2002: 276)

Auch Studien unterliegen diesem medialen Grundsatz, da weder die Motivation, weswegen eine Studie entsteht (oder in Auftrag gegeben wird), noch die Darstellung der Ergebnisse frei von gesellschaftlichen Ängsten, Zuschreibungen und Motivationen gesehen werden darf.

„Diese Studie versucht, empirisch fundierte Grundlagen für Integrationsmaßnahmen der Stadt Graz zu liefern.“ (Aslan 2017: 4) ReligiÖse und ethische Orientierungen unter AsylwerberInnen, anerkannten Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten zu erheben, wäre dann ein Auftrag für die empirische, qualitative Sozialforschung (und nicht wie hier für eine Fragebogenerhebung mit geschlossenen Fragestellungen und statistischen Aussagen), um Kontexte von Orientierungsmustern beispielsweise über narrative Interviews erheben zu kÖnnen, um sich den ungleichen Lebensverhältnissen Betroffener verstehend nähern zu kÖnnen und daraus Hilfemaßnahmen für ein gelingendes Zusammenleben und unterstützende, treffsichere Hilfestellungen für den anerkennenden Anschluss an die Rechts- und Sozialgemeinschaft anbieten zu kÖnnen. Forschung kÖnnte sich so kritisch gegen eine bewusste bzw. unbewusste Instrumentalisierung für diskriminierend wirkende politische Diskurse positionieren. Dies wäre im Sinne einer Sozialarbeitswissenschaft und einem fundierten Handlungswissen für Sozialarbeiter*innen nicht nur hilfreich, sondern auch erhellend. Entsprechende Studien müssen im Sinne eines konstruktiven Verständnisses für tägliche – menschenwürdige – Aktionsschritte tiefgreifende und weitreichende Betrachtungen der Sachlage aufweisen, denn nur dann kann professionell, nachhaltig und sozial-adäquat agiert und reagiert werden.


Verweise
1 Im Sinn des Ansatzes einer rassismuskritischen Forschung sollte der Fokus nicht auf das Sprechen über Migrant*innen, sondern über gesellschaftliche Verhältnisse, die „Migrationsandere“ konstruieren und markieren, gelegt werden. (vgl. Mecheril et al. 2010, Scharathow/Leiprecht 2011)
2 „Ethnizität“, „ReligionszugehÖrigkeit“ und „Kultur“ sind mÖgliche Platzhalter für das Konstrukt „Rasse“. (vgl. Mecheril/Tißberger 2013: 60)
3 Zur Definition Flüchtling, Migrant*innen kann unter vielen anderen Quellen auf folgende zugegriffen werden: http://www.unis.unvienna.org/unis/de/pressrels/2015/unisinf513.html (05.02.2018).
4 Diese Annahme wird damit begründet, dass die Erhebungen in elf Quartieren für Asylwerber*innen der Caritas und in einer Sprachschule für Flüchtlinge des Vereins „Sicher leben in Graz“ stattgefunden haben, wobei nicht klar wird, ob die erwähnte „Sprachschule für Flüchtlinge“ nur Asylwerber*innen fasst oder auch für anerkannte Flüchtlinge zugänglich ist.


Literatur

Aslan, Ednan (2017): ReligiÖse und ethische Orientierungen von muslimischen Flüchtlingen in Graz. Projektbericht. Universität Wien. http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/5351731/Neue-AslanStudie_Fluechtlinge-in-Graz_Maennlich-jung-und-sehr (31.01.2018).

Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Davids, M. Fakhry (2016): Ethnische Reinheit, Andersartigkeit und Angst. Das Modell des »inneren Rassismus«*. In: Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse, 70 (09/10), S. 779-804.

Enzensberger, Hans Magnus (2002 [1970]): Baukasten zu einer Theorie der Medien. In: Helmes, Günter/ KÖster, Werner (Hg.): Texte zur Medientheorie: Reclam Verlag, S. 254-275.

Eco, Umberto (2002): Wie man eine wissenschaftliche Abschlussarbeit schreibt. 9. Auflage, Heidelberg: UTB für Wissenschaft.

Honneth, Axel (1994): Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft.

Mecheril, Paul / Castro Varela, Maria do Mar / İnci, Dirim / Kalpaka, Annita / Melter, Claus (2010): Migrationspädagogik. Weinheim/Basel: Beltz.

Mecheril, Paul / Tißberger, Martina (2013): Ethnizität und Rassekonstruktion – ein rassismuskritischer Blick auf Differenzkategorien. In: Hauenschild, Katrin / Robak, Steffi / Sievers, Isabel (Hg.): Diversity Education. Zugänge – Perspektiven – Beispiele. Frankfurt am Main: Brandes/Apsel, S. 60-72.

Mikula, Regina / Riegler, Anna / Klinger, Sabine / Moser, Helga (2017): Anerkennung und Migration. Zur Anerkennung und Partizipation von Migrant_innen. Ein Beitrag zur Verflüssigung von stereotypen Argumentationsmustern. Graz: Forschungsbericht der Karl-Franzens-Universität Graz/Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft/Empirische Lernweltforschung/Hochschuldidaktik und der FH JOANNEUM Gesellschaft mbH/August Aichhorn Institut für Soziale Arbeit.

Scharathow, Wiebke / Leiprecht, Rudolf (Hg.) (2011): Rassismuskritik. Band 2. Rassismuskritische Bildungsarbeit. Schwalbach: Wochenschau-Verlag.

Sonneck, Gernot (Hg.) (2000): Krisenintervention und Suizidverhütung. 5. Auflage, Wien: Facultas Verlag.

Tißberger, Martina (2017): Critical Whiteness. Zur Psychologie hegemonialer Selbstreflexion an der Intersektion von Rassismus und Gender. Wiesbaden: Springer VS Verlag.

Warner, Michael (1999): The Trouble with Normal, Sex, Politics and the Ethics of Queer Life. Cambridge: Harvard University Press.

Winter-PÖlsler, Gerald (2018): Flüchtlinge in Graz: Männlich, jung und sehr wertkonservativ. In: Kleine Zeitung vom 11.1.2018, Graz. http://www.kleinezeitung.at/steiermark/graz/5351731/Neue-AslanStudie_Fluechtlinge-in-Graz_Maennlich-jung-und-sehr (31.01.2018).


Über die AutorInnen

Mag.a Dr.in Ass.-Prof.in Anna Riegler
anna.riegler@fh-joanneum.at

Erziehungs- und BildungswissenschaftlerIn (Sozialpädagogik, Weiterbildung, Lebensbegleitende Bildung), Organisationsentwicklerin (im ÖAGG zertifiziert), Supervisorin (im ÖAGG zertifiziert), ordentliches Mitglied im ÖVS, Lehrsupervisorin bei der ARGE Bildungsmanagement Wien, hauptberuflich Lehrende und Forschende an der FH JOANNEUM Graz, am Studiengang Soziale Arbeit Bachelor und Master (Schwerpunkte: Anerkennung und Beziehung in der Sozialen Arbeit, Migration, Rassismuskritik).

www.anna-riegler.at / www.fh-joanneum.at

FH-Prof. Mag. Dr. Martin J. GÖssl
martin.goessl@fh-joanneum.at

Historischer Anthropologe (Diversity-, Gender- und Queer Studies), Mitglied des „Unabhängigen steiermärkischen Monitoringausschuss zur Überwachung der Umsetzung und Einhaltung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, Gründungsmitglied der Task Force „Gender Mainstreaming and Diversity Management“ der Fachhochschulen in Österreich, Network Representative „Woman, Gender & Sexuality Network“ der Social Science History Association SSHA (USA), ist Dozent (FH) am August Aichhorn Institut für Soziale Arbeit (Bachelor und Master) an der FH JOANNEUM. Forschungsschwerpunkte: Geschlecht, Sexualität und Macht, urbane Subkulturen und gesellschaftliche (Un-)Ordnungen.

www.martinjgoessl.jimdo.com / www.fh-joanneum.at