soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 19 (2018) / Rubrik "Thema" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/565/1018.pdf
Manuela Hofer:
Spätestens seit den Übergriffen insbesondere auf Frauen*1 in der Silvesternacht 2015/16 in Köln ist das Thema sexueller Gewalt in den deutschsprachigen Medien sehr präsent. Wurde zuvor kaum von Vergewaltigungen berichtet, so wird aktuell zumindest über jene Übergriffe im öffentlichen Raum informiert, bei denen es sich um Täter mit Migrations- oder Fluchtgeschichte handelt. Die daraus entstandene Wahrnehmung, dass die Zahl sexueller Übergriffe gestiegen wäre, führt zu Verunsicherung und einem Ruf nach härteren Strafen für Sexualdelikte. Wenig bis gar nicht geht es bei diesen Diskussionen um die betroffenen Frauen*. Weder die Frauen* selbst noch Expert*innen von Opferschutzeinrichtungen konnten sich zu dieser Thematik erfolgreich Gehör verschaffen und so einen Beitrag zum Diskurs leisten, vielmehr wurde das Problem auf eine „fremde Kultur“ ausgelagert. Dies ist eingebettet in eine breite Debatte über die Sexualität und Gefährlichkeit von Männern mit Fluchtgeschichte und bringt eine ganze Bandbreite an rassistischen Ressentiments mit sich. (Siehe dazu etwa Dietze 2016)
Eine weitere Perspektive auf sexuelle Gewalt gegen Frauen* brachte im letzten Jahr das Öffentlichmachen von sexuellen Übergriffen in der Filmbranche mit sich. Unter dem Hashtag #metoo verbreiteten daraufhin (v. a.) Frauen* weltweit – v.a. in Sozialen Medien – ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, in Sportvereinen u. Ä., und wiesen damit auf die Alltäglichkeit von Gewalterfahrungen hin. Die Geschichten erzählen davon, dass Frauen* und ihre Erfahrungen nicht ernst genommen oder verharmlost wurden oder sie für ihr Schweigen sogar unter Druck gesetzt oder bezahlt wurden. Verbunden sind die Geschichten durch die empfundene Machtlosigkeit der Betroffenen. Viele Berichte machen deutlich, dass die Situationen vor der #metoo-Bewegung als „normal“ wahrgenommen wurden. (siehe dazu: https://twitter.com/hashtag/metoo) Daraus entstand eine wichtige Debatte um die Ausnutzung von Machtverhältnissen und den Schutz, den insbesondere Personen des öffentlichen Interesses durch eine Kultur der Gewalt genießen, die gemeinhin als rape culture bekannt ist. Dazu gehört etwa die Tatsache, dass, wie im Eurobarometer der Europäischen Kommission 2016 erhoben, Gewalt gegen Frauen* zwar mehrheitlich abgelehnt wird, jeweils ein Viertel der Befragten aber denkt, dass Frauen* Vergewaltigungen oftmals erfinden sowie dass sie Gewalt gegen sich oftmals provozieren. Deutlich mehr als ein Viertel der Österreicher*innen ist zudem der Meinung, dass Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung gerechtfertigt sein kann, was insbesondere an „Fehlverhalten“ von Frauen* im Sinne einer Alkoholisierung, aufreizender Kleidung oder zu geringer Gegenwehr festgemacht wird. (vgl. EU 2016: 31ff) Dies führt in den Diskussionen zu Täter-Opfer-Umkehrungen, Misstrauen gegenüber den Erlebnissen der Betroffenen und in letzter Konsequenz oft zum Verschweigen von Taten.
Bei #metoo geht es vor allem um Gewalt zwischen einander bekannten Personen. Bei der erstgenannten Debatte sind die Täter den Frauen* zumeist unbekannt. Die meisten Taten sexueller Gewalt erleben Frauen* an einer anderen Stelle, nämlich im unmittelbaren Nahbereich, v. a. durch Partner und Verwandte. (vgl. Kapella et al. 2011) Dieser Betroffenengruppe bieten etwa die österreichischen Frauenhäuser professionelle Hilfe und Unterstützung. Vergewaltigte Frauen* können sich an die Frauenhotlines oder verschiedene Beratungsstellen wenden, in Wien beispielsweise die Beratungsstelle TAMAR. Die Gleichstellungsanwaltschaft berät Personen, die von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen sind. Betroffenenschutzeinrichtungen folgen einem feministischen Verständnis, dass die Häufigkeit der Übergriffe gegen Frauen* dadurch möglich wird, dass Frauen* gesellschaftlich nicht gleichberechtigt wahrgenommen werden und sexualisierter Objektivierung ausgesetzt sind. Das spiegelt sich u. a. in alltäglicher Belästigung und den oben genannten Ansichten wider.
Eine wesentliche Form dieser alltäglichen Belästigung, nämlich die Belästigung im öffentlichen Raum, auch als Street Harassment bekannt, wird nachfolgend behandelt. Sie ist den genannten Übergriffen, so meine Argumentation, vorangestellt, ermöglicht sie möglicherweise in diesem Ausmaß erst. Die Auseinandersetzung damit ist für eine Sensibilisierung in Bezug auf Gewalt daher unerlässlich. Aus sozialarbeiterischer Sicht wird Street Harassment damit zu einem Querschnittsthema für verschiedene Angebote über spezielle Betroffenenschutzeinrichtungen hinaus.
Da die Belästigung im öffentlichen Raum stattfindet, geht es bei diesem Thema auch um vergeschlechtlichte Raumkonstruktionen und die Frage nach der Nutzung öffentlicher Räume. Daher nähere ich mich dem Thema im Folgenden nicht nur aus einer feministischen, sondern auch mit einer sozialräumlichen Perspektive. Am Schluss versuche ich eine Antwort auf die Frage zu geben, wie die Situation für Frauen* verbessert werden kann – und wie nicht. Und welchen Beitrag insbesondere Soziale Arbeit dazu leisten kann.
1. Was ist Street Harassment?
Street Harassment ist ein Phänomen, dass beinahe jede Frau* kennt, ohne dafür unbedingt einen Namen zu haben. Es ist eine alltägliche Erfahrung insbesondere von Frauen*, aber auch von anderen Nutzer*innen des öffentlichen Raums. Dies beinhaltet zumindest Personen, die von der konstruierten weißen, heterosexuellen, männlichen „Normalität“ abweichen, wie etwa als migrantisch wahrgenommene, Geschlechterrollen nicht entsprechende, der Leistungsaufforderung nicht nachkommende Menschen wie Obdachlose, Bettler*innen, körperlich oder psychisch Beeinträchtige und Drogenkonsument*innen. Trotz dieser Alltäglichkeit ist ein wissenschaftlicher Diskurs darüber im deutschsprachigen Raum sehr begrenzt vorhanden. Dies könnte erklären, warum auch in der deutschsprachigen Auseinandersetzung zumeist der englische Begriff verwendet wird. Wird sie übersetzt, so wird weithin von Belästigung im öffentlichen Raum gesprochen. Diese Form der Belästigung subsummiert grundsätzlich ein breites Spektrum von Vorkommnissen, denen Frauen* im urbanen Raum weltweit unter Umständen täglich ausgesetzt sind. Micaela di Leonardo lieferte 1981 eine der ersten Definitionen von Street Harassment. Sie beschrieb es als Situation, in der Frauen* von einem oder mehreren unbekannten Männern im öffentlichen Raum angesprochen werden und ihre Aufmerksamkeit auf eine Weise eingefordert wird, die für diese unangenehm oder unerwünscht ist, und bei der eine Sprache benutzt wird, die implizit oder explizit sexuell ist. (vgl. Bowman 1993: 524)
Die Aktivistinnen von StopStreetHarassment, namentlich ihre Gründerin Holly Kearl, weiten diese Definition 2015 auf ein erweitertes Verständnis von Geschlechtlichkeit aus und beziehen auch sexuelles Begehren mit ein. Sie weisen zudem darauf hin, dass von Street Harassment nicht nur Frauen* betroffen sein können, und definieren es als eine Belästigungsform, bei der unerwünschte Kommentare, Gesten und Aktionen einer fremden Person im öffentlichen Raum aufgezwungen werden. Geschlechtsbasiertes Street Harassment erfolgt aufgrund des tatsächlichen oder wahrgenommenen Geschlechts oder der sexuellen Orientierung einer Person. Es beinhaltet unerwünschtes Pfeifen, anzügliches Grinsen, sexistische, homophobe oder transphobe Beleidigungen oder auch beharrliches Fragen etwa nach dem Namen oder der Telefonnummer trotz Ablehnung der angesprochenen Person. Es beginnt bei sexuellen Kommentaren oder Forderungen, beinhaltet aber auch das Verfolgen, Entblößen und öffentliche Masturbieren und reicht bis zu Begrapschen, sexuellem Übergriff und Vergewaltigung. (vgl. StopStreetHarassment o. J.)
Holly Kearl weist darauf hin, dass das Problem insbesondere von geschlechterbasiertem Street Harassment in privaten wie öffentlichen Diskussionen ist, dass es zumeist als Witz, Kompliment oder schlimmstenfalls kleine Unannehmlichkeit heruntergespielt und damit nicht ernst genommen wird. Sie betont daher, dass die Worte und Aktionen von den Frauen* ungewünscht sind und damit in ihren physischen und emotionalen Raum auf eine respektlose, unangenehme, beängstigende und/oder beleidigende Art eindringen. (vgl. Kearl 2010: 5ff)
Persson Perry Baumgartinger ergänzt diese Definition durch die Betonung der strukturellen Machtverhältnisse, die diese Ereignisse überhaupt erst ermöglichen:
„Street Harassment kann aufgrund gesellschaftlich gefestigter, geschichtlich begründeter und strukturell verankerter Ungleichheiten stattfinden, da eine Beleidigung, Diskriminierung o.ä. nur aus einer gesellschaftlich und strukturell bereits anerkannten Machtposition heraus ihre Kraft hat.“ (Baumgartinger 2008: 118)
Diese Definitionen zusammen weisen auf die wesentlichen Elemente von Street Harassment hin: Eine Gruppe wird in Abgrenzung zur Eigengruppe konstruiert. Sie befindet sich in einem abgesicherten Machtverhältnis, dass die einen in die Position bringt, ihr Verhalten einer anderen Person oder Gruppe aufzuzwingen. Sie tut dies mit einer Vielzahl an respektlosen und beleidigenden Handlungen, die einen unangenehmen bis bedrohlichen Effekt auf die Betroffenen haben. Dies wirft die Frage auf, welcher gesellschaftliche Konsens darüber vorhanden ist, was als respektlos, unangebracht und bedrohlich angesehen wird und wer aus der eigenen Machtposition heraus überhaupt (mit-)bestimmen kann, was als solches benannt oder empfunden wird. Im Laufe des Textes gehe ich diesen Fragen nach.
2. Häufigkeit und Steigerungsformen von Street Harassment
Entgegen der Vermutung, dass über Street Harassment so wenig gesprochen wird, weil es sich um ein Randphänomen handelt, kommen verschiedenste Studien in den letzten Jahren zum Ergebnis, dass Street Harassment der großen Mehrheit von Frauen* in verschiedenen Steigerungsformen bekannt ist, da sie selbst zumindest einmalig, eher aber regelmäßig davon betroffen sind/waren. Die bisher größte Cross-Culture-Studie hierzu wurde von der Cornell University zusammen mit der NGO Hollaback! 2014/15 durchgeführt (vgl. Livingston/Grillo/Paluch 2015), in der durch einen Onlinefragebogen die Erfahrungen von 16.600 Frauen in 42 Städten weltweit erhoben und analysiert wurden. Dabei wurde nach dem Alter der ersten Erfahrung mit Street Harassment gefragt, nach der Art der Belästigung, wie sich das Verhalten danach geändert hat und welche emotionalen Effekte die Belästigung hatte. Österreich war nicht Teil der Studie, die Ergebnisse gleichen sich im weltweiten Vergleich aber so sehr, dass auch Rückschlüsse auf Österreich gezogen werden können. Die Ergebnisse für Deutschland ergaben etwa, dass 66% der befragten Frauen* im Vorjahr mindestens einmal begrapscht wurden. 7 von 10 wurden von einem Mann* in einer Weise verfolgt, die sie verunsichert haben. Zum Alter der ersten Erfahrung mit Street Harassment gaben im europäischen Durchschnitt 81,5% der Frauen* an, vor ihrem 17. Lebensjahr in der Öffentlichkeit sexuell belästigt worden zu sein, 13% bereits vor ihrem 10. Lebensjahr. Frauen* lernen damit früh, dass sie im öffentlichen Raum jederzeit durch Fremde objektiviert werden können und mit Belästigungen rechnen müssen.
Der Großteil der Frauen* wählten in Folge der Belästigung andere Wege als zuvor. Dies macht sichtbar, dass Belästigungen tatsächliche Auswirkungen auf die Nutzung des öffentlichen Raums durch Frauen* haben. Für Wien wurde in einer SORA-Erhebung 2008 festgestellt, dass 61% der befragten Wienerinnen Wege meiden, die sie als gefährlich wahrnehmen, und Umwege in Kauf nehmen, um angstbesetzten Räumen zu entgehen. (vgl. Zandonella/Zeglovits 2008)
Die in 23 Ländern durchgeführte Online-Studie von Holly Kearl für StopStreetHarassment aus dem Jahr 2008, mit einem Sample von 996 Frauen* wesentlich kleiner als die Cornell-Studie, unterscheidet in Bezug auf die Formen von Belästigung zwischen verbalen und nonverbalen Akten sowie körperlichen Übergriffen. Bis auf drei Frauen* gaben alle Befragten an, zumindest einmal eine Art von Street Harassment erlebt zu haben. Die Zahlen der einzelnen Erlebnisse bestätigen die Zahlen der Cornell Studie. Kearl hat zudem analysiert, dass verschiedene Faktoren die Wahrscheinlichkeit erhöhen, von Street Harassment betroffen zu sein. Dies sind insbesondere Frauen*, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, die sich allein in der Öffentlichkeit aufhalten, jung sind und in Städten sowie in Gegenden leben, in der die Geschlechtergleichheit wenig ausgeprägt ist. Frauen* of Color erleben zudem öfter Belästigungen als Weiße Frauen*. Kearl vergleicht ihre Ergebnisse mit einer Vielzahl weiterer, auch lokaler Studien, die alle zu ähnlichen Ergebnissen kommen. (vgl. Kearl 2010: 11ff)
Auch die Studie von Kearl zeigt auf, dass Frauen* bereits sehr früh lernen, dass Street Harassment eine mitunter alltägliche Erfahrung für Frauen* ist, und dass sie Strategien brauchen, um sich im öffentlichen Raum sicher zu fühlen. Jedoch fühlen sich Frauen nicht von allen Formen von Belästigung bedroht, so Kearl. Die allermeisten sind aber zumindest genervt davon, viele berichten von negativen psychischen Folgen. Ein paar wenige nehmen Komplimente positiv wahr, lehnen aber alle anderen Formen von Street Harassment ab. Wesentlich ist, dass es an den Frauen* liegt, in den Situationen einschätzen zu müssen, ob es bei einem unerwünschten Kompliment bleibt oder die Situation eskalieren könnte. Das führt zumeist dazu, dass Frauen* bei Belästigungen grundsätzlich versuchen, „richtig“, d. h. zumeist deeskalierend, zu agieren, etwa in dem sie Kommentare ignorieren, belächeln oder den Ort des Geschehens möglichst schnell verlassen. (vgl. Kearl 2010: 96ff) Die Prävalenzstudie des ÖIF fragt nicht explizit nach Belästigungserfahrungen im öffentlichen Raum, kommt aber jedenfalls zum Ergebnis, dass nahezu sämtliche Situationen sexueller Belästigung von der Hälfte der betroffenen Frauen* (und auch Männer*) als bedrohlich erlebt werden. Auch eher „weiche“ Formen wie Nachpfeifen oder Angestarrt werden haben bei jeder dritten Frau* diesen Effekt. Diese Angst ist nicht unbegründet, gibt doch jede zehnte betroffene Frau* an, dass eine erlebte sexuelle Belästigung zu körperlichen Übergriffen und ungewollten sexuellen Handlungen geführt hat. (vgl. Kapella et al. 2011: 96ff)
Der Aktivist Erik Kondo (o. J.) hat ein Analyse-Modell entwickelt, das die Steigerungsformen von Street Harassment und damit die intendierten Möglichkeiten einer Eskalation gut verdeutlicht. Er unterscheidet unter objektivierenden, degradierenden und übergriffigen Verhaltensformen. Konkret weist Kondo der Kategorie „Objektivierung“ in steigernder Reihenfolge u. a. anzüglich Starren, Pfeifen, Hupen, Kommentieren, Anmachen und Verfolgen zu, mit dem Hinweis, dass diese Handlungen jeweils gegen den Willen der Zielperson gesetzt werden. Zur Kategorie der Degradierung wird öffentliches Beschämen, Erniedrigen, Entblößen, Selbstbefriedigen, Begrapschen und Bedrohen in der Öffentlichkeit gezählt. Die Kategorie des Übergriffs beinhaltet schließlich den Tatbestand des Stalkings, der Bedrängnis und der Vergewaltigung (siehe Abbildung 1). Hier wird deutlich, dass das Wissen über die Möglichkeit der Eskalation dazu führt, dass bereits scheinbar harmlose Komplimente das Wohlbefinden der Betroffenen wesentlich negativ beeinflussen kann. Holly Kearl schreibt dazu:
„Street Harassment and the underlying fear of it escalating into something worse makes most women feel unwelcome and unsafe in public at least sometimes, especially when they are alone.“ (Kearl 2010: 4)
Abbildung 1: The Slippery Slope of Street Harassment (Kondo o. J.)
3. Der öffentliche Raum als moralischer, gewaltvoller und angstbesetzter Raum
Räume, insbesondere städtische, sind ein Ausdruck sozialen Lebens, der durch soziale Ordnungen reguliert wird. Menschen eignen sich durch verschiedene Erfahrungen ein Wissen darüber an, wer sich normalerweise wie in gewissen Räumen verhält, d. h. sie verhalten sich anhand ungeschriebener Gesetze und allgemeiner Vorstellung davon, was als gesellschaftlich anerkannt gilt.
„Zusammen mit Aspekten, wie z.B. Alter und ethnischer Herkunft, ist es der geschlechtliche Körper, der präsent und auffällig ist, der bei der Wahrnehmung und dem Denken von Räumen mitläuft, der das Raumgefühl maßgeblich beeinflusst und den Umgang mit Räumen bestimmt“ (Feltz 2002: 51f).
Durch diskursive Strategien und soziale Praktiken werden diese Ordnungen entlang von Machverhältnissen immer wieder neu ausgehandelt, eben auch und insbesondere entlang von Geschlechterverhältnissen. (vgl. Ernst 2008: 87). Diese Ordnungen bestimmen nicht nur, wer einen Raum wie nutzt, sondern auch, wer von Räumen grundsätzlich ausgeschlossen wird. Wer Zugang zu Räumen hat, wird weniger durch Verbote geregelt als durch Ausgrenzungsmechanismen im Sinne einer symbolischen Gewalt (vgl. Koch 2013: 10).
Symbolische Gewalt beschreibt Mechanismen, die ohne direkten Zwang und Gewalt stattfinden, aber dennoch ihre Wirkung erzielen, da eine bestimmte Art und Weise des Verhaltens als selbstverständlich gilt, um das Eintreten tatsächlicher Gewalt zu verhindern. Die Übergänge zu physischer Gewalt sind fließend (vgl. Bourdieu 2005: 64). Die von Kearl genannten Reaktionen von Frauen* auf Street Harassment deuten genau auf diese Mechanismen hin: Frauen* wird vermittelt, dass sie sich qua ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht in ständiger Gefahr befinden, Opfer von Gewalt zu werden. Männer* hingegen erleben das Eindringen in den persönlichen Raum von Frauen* durch das Ansprechen, Bewerten und Belästigen auch gegen ihren Willen als selbstverständliches Recht ihres Mannseins. In gegenseitiger Abgrenzung wird so das Verhalten sowohl von Männern* als auch von Frauen* im öffentlichen Raum bestimmt.
3.1 Raumgeschichte
Diese unterschiedliche Nutzung des öffentlichen Raums entlang des Geschlechts und ihre Regulierung hat in Europa eine lange Tradition. Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Legitimation der Raumnutzung als Thema von Anstand und Sittlichkeit geführt. In einer gesellschaftlichen Konzeption, die Frauen* grundsätzlich die Sphäre des Privaten und Männern* alles Öffentliche als Handlungsraum zuwies, wurde das Private als heiler Rückzugsort konstruiert. (vgl. Ernst 2008: 75ff). Bürgerliche Frauen* hatten die Aufgabe, sich um die Schaffung eines sauberen Heims zu kümmern und so ein Gegenmodell zu den Gefahren und dem Schmutz der Stadt zu bieten. Frauen*, die ihre Aufgabe im Privaten erfüllten, galten als ehrenwert und gut, während Frauen* im öffentlichen Raum als schmutzig und unkontrollierbar betrachtet wurden. Hielten sie sich doch einmal im öffentlichen Raum auf, war sehr klar geregelt, wie sie sich angemessen zu verhalten hatten.
Für Frauen* aus der Arbeiter*innenklasse waren bürgerliche Konventionen weniger bedeutend, sie waren durch ihre Arbeit aber auch gezwungen, sich im öffentlichen Raum zu bewegen und aufzuhalten. Auch die beengten Lebensverhältnisse verlagerten das Familienleben stärker nach draußen, und so bewegten sich Arbeiter*innen häufig selbstverständlicher im öffentlichen Raum, eigneten sich diesen durchaus auch lustvoll an. Gleichzeitig wurde aber auch für Arbeiterinnen der öffentliche Raum als Gefahrenraum definiert, und ihre Raumaneignung wurde als Zeichen sittlichen Verfalls definiert. (vgl. Koch 2013: 28ff)
Die Stadt war bürgerlichen Männern* vorbehalten und insbesondere Frauen*, die sich nachts in der Stadt aufhielten, standen unter Generalverdacht, als Sexarbeiterinnen tätig zu sein. (vgl. Ernst 2008: 79) Neben Gesundheitskontrollen hatte dies oft zur Folge, sexueller Belästigung ausgesetzt zu sein. Dieses Verständnis von der Nutzung des öffentlichen Raums wurde unter Anpassung der Mechanismen weitgehend beibehalten, denn auch wenn Frauen* verschiedenste Strategien fanden, den Raum für sich zu nutzen, war eine sittlich vertretbare Nutzung lange Zeit nur unter Begleitung von Männern* oder Familienangehörigen möglich.
3.2 Gewalt- und Angsträume
Erst in den 1970er-Jahren begannen Frauen* im Zuge der Zweiten Frauenbewegung, sich autonomer in der Stadt zu bewegen und auch ein Recht darauf einzufordern, sich jederzeit überall aufzuhalten und den öffentlichen Raum unbegleitet nutzen zu können. Frauen* machten auf ihre alltäglichen Erfahrungen mit Männergewalt aufmerksam und forderten eine gesellschaftliche Wahrnehmung ihrer Verdrängung aus dem öffentlichen Raum, konkret durch die Belästigung von Männern*. Je nach Radikalisierungsgrad forderten Feministinnen kostenlose Taxis für Frauen* bis hin zu einem nächtlichen Ausgehverbot für Männer*. Unter dem Motto „Wir erobern uns die Nacht zurück“ wurde das Recht von Frauen* auf den öffentlichen Raumbetont, wobei in der Diskussion auch eine Verknüpfung mit strukturellen Bedingungen hergestellt wurde, etwa dass Frauen* u. a. in Film, Fernsehen und Werbung ein Objektstatus zugewiesen wurde und sie nicht über ausreichend Selbstbestimmung in Bezug auf ihren Körper, ihre Sexualität und ihre Unversehrtheit verfügten. Außerdem wurde eine Auseinandersetzung mit dem männlichen Sexualitätskonzept angestoßen, das die männliche Sexualität grundsätzlich als aggressiv und ungebändigt beschreibt. Gleichzeitig machten Frauen* Selbstverteidigungskurse, schafften Schutz- und Freiräume nur für Frauen* und es entstand eine feministische Raumplanung, die Frauen* durch das Einrichten von Frauenparkplätzen, stärkerer Straßenbeleuchtung oder auch dem Schneiden von Hecken mehr Sicherheit vermitteln wollte. (vgl. Becker 2008: 57ff)
Aus der Forderung der Frauenbewegung, sich mit dem öffentlichen Raum als Gewaltraum auseinanderzusetzen, wurde allerdings zunehmend eine Diskussion über weibliche Angsträume. Im Zentrum stand bald nicht mehr das Verhalten von Männern* gegenüber Frauen* im öffentlichen Raum und auch nicht die reale Angst von Frauen* vor Gewalt und Belästigung, vielmehr wurde die Diskussion hin zu einer unbestimmten, fremden Gefahr von außen verlagert. Der „gefährliche Unbekannte“ wurde dabei diskursiv scharf vom „beschützenden Freund“ getrennt (vgl. Auerhammer 2015: 110) und so der Diskurs von einem grundsätzlichen Problem patriarchaler Strukturen hin zu einem Problem einzelner, fremder Männer* umgelagert.
Ruth Becker zeigt in ihrer Analyse der Angstraumdebatte auf, dass das Verschieben der Angst auf das Fremde ein wesentlicher Bestandteil des Angstraumkonzepts ist, in dem rassistische und kolonialistische Vorstellungen vom fremden, unzivilisierten Mann bedient werden, der die Spielregeln „unserer zivilisierten Gesellschaft“ nicht einhält und Männer dazu aufruft, die „eigenen Frauen“ vor dem „bösen Fremden“ zu beschützen. (vgl. Becker 2002: 81) Dementsprechend unterscheiden auch die Lösungsideen zwischen dem Unbekannten, der hinter der Hecke lauert, und dem männlichen Helfer z. B. in Form von Polizisten und Taxifahrern. Neben den darin enthaltenen rassistischen Auslagerungen des Problems wird in dieser Lösungsstrategie ignoriert, dass soziale Kontrolle nur dann wirksam sein kann, wenn der Normverstoß auch tatsächlich geächtet ist, was sich in der Realität nicht bestätigt, da Street Harassment verharmlost, ignoriert oder entschuldigt wird. Dazu trägt auch die Verwendung des Begriffs des Angstraums bei, da dabei die Angst und nicht die Gewalt im Fokus steht. Dadurch wird verdeckt, dass der öffentliche Raum für Frauen* tatsächlich einen Gewaltraum darstellt, in dem sie ständiger Belästigung und Kontrolle ausgesetzt sind. Bedient wird dabei das weibliche Stereotyp als schwach, abhängig, ängstlich und wehrlos. Die Angst ist also an ein Geschlecht gebunden und mit dem öffentlichen Raum verknüpft, suggeriert also, dass die große Gefahr für Frauen* im öffentlichen Raum per se lauert und ignoriert die Tatsache, dass das Risiko, Gewalt zu erleben, für Frauen* im privaten Nahbereich deutlich höher ist. (vgl. Becker 2008: 63)
Damit einher geht die Konstruktion der Kontrollierbarkeit öffentlicher Angsträume. Tipps für die Sicherheit von Frauen* umfassen dementsprechend, dass sie dunkle Straßen meiden sollen, ein Taxi nehmen und nicht erkennen lassen, dass sie allein leben. (vgl. Becker 2008: 61) Wenn sie diese Hinweise oder auch Regeln befolgen und ihr Verhalten anpassen, so wird suggeriert, können sie sich schützen bzw. beschützt werden. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass sie bei „falschem Verhalten“ selbst oder mit-schuld sind. So wird erneut das Verhalten von Frauen* zum Problem gemacht und nicht die ungleichen Geschlechterverhältnisse, die strukturelle Gewalt und das konkrete Verhalten von Männern* im öffentlichen Raum. Diese Sicherheitskonzepte öffnen den öffentlichen Raum nicht für Frauen*, sondern schreiben ihnen ein Verhalten vor, das sich nicht allzu sehr von den Regeln des 19. Jahrhunderts unterscheidet.
4. Alternative Konzepte zur weiblichen Raumnahme
Ein Teil der Angstraumdebatte ist die Idee, dass Einsehbarkeit und Kontrolle das Problem Street Harassment lösen könnten. Eine Raumplanung, die auf Kontrolle sozialen Verhaltens und der Nutzung des öffentlichen Raums durch Polizei und Securities, aber bisweilen auch Soziale Arbeit, ausgerichtet ist, verfestigt aber heteronormative, rassistische Konzepte. Außerdem werden marginalisierte Gruppen durch scheinbar Frauen* schützende Regulierungen ebenfalls aus dem öffentlichen Raum verdrängt bzw. ihr Verhalten reguliert. (vgl. Becker 2002: 83) Wichtig erscheint daher, dass andere Lösungen entwickelt werden.
Elisabeth Wilson hat bereits 1993 herausgearbeitet, dass die Anonymität der Großstadt die autonome Entwicklung von Frauen fördert, die Stadt ist also für Frauen* weit mehr als nur gefährlich und beängstigend. In ihrer vielzitierten Studie hat Elke Schön (1999) außerdem die Feststellung gemacht, dass Mädchen zwar sehr wohl von Burschen durch deren Raumnahme und Verhalten von öffentlichen Plätzen verdrängt werden, sie damit den öffentlichen Raum aber nicht unbedingt verlassen, sondern Plätze finden, in denen sie ungestört sein können: konkret genannt wird von den befragten Mädchen ein von Hecken und Bäumen verborgener Pavillon, der sie sowohl von den Belästigungen der Burschen, als auch von den kontrollierenden Augen ihrer Eltern und Nachbarn schützt, und der es ihnen erlaubt, eine eigene Öffentlichkeit zu entwickeln. Verborgenheit, mangelnde Einsehbarkeit und Abgeschiedenheit können also gerade die wesentlichen Argumente für die Wahl eines Ortes sein. Das Beispiel zeigt außerdem, dass sich die Kontrolle des öffentlichen Raums schnell gegen die Mädchen selbst richten kann.
Becker stellt dazu fest, dass Frauen* sich Räume nicht unbedingt durch das Durchsetzen gegen Männer* erobern müssen, sondern sich auch eigene Räume schaffen. Die Vorstellung, dass Mädchen gerade die Räume der Burschen brauchen und dass Räume, die Mädchen nur für sich nutzen, als nicht öffentlich betrachtet werden, reproduziert die Idee, dass Öffentlichkeit das ist, wo Männer* sich aufhalten. Frauen* werden damit diskursiv erneut in die Privatheit gedrängt. (vgl. Becker 2002: 85)
Nina Feltz (2002) stellt zudem die Ansicht in Frage, dass ein expansives Raumhandeln als normal und erstrebenswert gilt, dass also so viel Raum wie möglich für Mädchen wünschenswert ist. Raumaneignung bedeutet in Bezug auf die Nutzung und Gestaltung v. a. handlungs- und entscheidungsfähig zu sein, was auch die Möglichkeit der Vermeidung eines Raums beinhaltet. Die Abwesenheit von Frauen* von bestimmten Räumen ist also ein Resultat von Entscheidungsprozessen, sie lediglich als Bewegungsdefizit zu interpretieren ist nach Feltz verkürzt und bringt die Gefahr mit sich, damit selbstgewählte Bewegungsräume von Frauen* zu übersehen. Auch übersehen werden dabei die vielfältigen Strategien, die Frauen* entwickeln, um sich neue Bewegungsräume und auch Freiräume zu schaffen. (vgl. Feltz 2002: 51ff)
5. Hin zu einem belästigungsfreien Raum
Aktuell wird rund um die #metoo-Debatte viel Wert darauf gelegt, eine Unterscheidung zwischen einem tatsächlichen Gewaltakt und einer Belästigung zu machen. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen. Allerdings ist es notwendig, das System offen zu legen, das Frauen* der ständigen Gefahr aussetzt, belästigt zu werden und ihnen dabei die Aufgabe zuweist, erkennen zu müssen, ob es bei einer Belästigung bleibt oder weitere, schwerwiegendere Taten folgen. Darin enthalten ist auch die Scham vieler Frauen* nicht erahnt zu haben, wo eine anfangs harmlose Kontaktaufnahme enden würde. So ist die Frage der möglichen Eskalation Teil jeder Diskussion um Belästigung. Und so müssen auch scheinbar harmlose, dafür aber umso alltäglichere Belästigungserfahrungen sichtbar gemacht und ernst genommen werden. Denn gerade die Alltäglichkeit der Belästigung ist ein Angriff auf die Wahrnehmung und das Wohlbefinden von Frauen*, und es ist notwendig zu erkennen, dass der jeweiligen, mitunter heftigen Reaktion über ein scheinbar harmloses Kompliment eine ganze Geschichte von Objektivierungen, Gefahrensituationen und Risikoeinschätzungen vorausgeht.
So ist ein unerwünschtes Kompliment Teil eines Systems, das dazu führt, dass Übergriffe gegen Frauen* im bestehenden Ausmaß möglich sind. Gerade die Verharmlosung der „kleinen“ Belästigungen als alltägliche Erfahrung führt dazu, dass dieses System der Gewalt zu einer Frage der Stadtplanung, des Verhaltens von Frauen* und der scheinbaren Unkontrollierbarkeit männlicher Sexualität gemacht wird. Übrig bleibt die Disziplinierung des weiblichen Körpers in einem gesellschaftlichen Klima, das Street Harassment sprichwörtlich als Kavaliersdelikt wahrnimmt und das Unbehagen von Frauen* nicht anerkennt bzw. auf einzelne Männergruppen verlagert.
Street Harassment als soziale Praxis betrifft damit alle Frauen*. Diese kollektive Erfahrung führt aber nicht nur zur Kontrolle von Frauen*, sondern auch zu einer Disziplinierung von Männern* im Sinne einer hegemonialen Männlichkeit, die von Männern* erwartet, Frauen* gegenüber offensiv aufzutreten. Street Harassment ist damit ein Teil der sozialen Konstruktion der Geschlechter und ihres unterschiedlichen Umgangs mit dem öffentlichen Raum als Teil einer intersektionalen Normierung der Nutzer*innen dieses Raums. (vgl. Prykhodko 2008: 40ff) Soziale Arbeit als eine Profession, die den Wandel hin zu einer gerechteren, gleichberechtigteren Gesellschaft und das Wohlbefinden ihrer Adressat*innen zum Ziel hat, ist daher gefordert, diese Mechanismen des Ausschlusses und des gegenseitigen Ausspielens verschiedener Gruppen zu erkennen und dem entgegenzuwirken. Insbesondere Soziale Arbeit mit Kindern und Jugendlichen muss sich der Bedeutung von Street Harassment für die Sozialisation von Männern* und Frauen* bewusst sein. Belästigungserfahrungen von Mädchen* können so aktiv thematisiert werden, um ihnen die Reflexion des Erlebten und Unterstützung in der Entwicklung von Strategien der Gegenwehr zu ermöglichen. Zudem können sie durch einen Einbezug von Belästigungserfahrungen und ihrer Bedeutung für die Raumaneignung in der Entwicklung von Strategien zum Erobern öffentlicher Räume besser gefördert werden. Aber auch Burschen* brauchen bei der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentitäten Angebote jenseits einer hegemonialen Männlichkeit, die ihnen die Reflexion des eigenen Verhaltens gegenüber Mädchen* und Frauen*, gerade auch im öffentlichen Raum, und damit die Entwicklung wertschätzender, gewaltfreier Umgangsweisen und Beziehungsformen ermöglicht. Damit leistet Soziale Arbeit einen Beitrag gegen die Normalisierung dieses Systems.
Eine Veränderung der Gewaltkultur erfolgt, so wurde gezeigt, nicht durch die Kontrolle öffentlicher Räume und das Verdrängen marginalisierter Gruppen, sondern v. a. durch einen gesellschaftlichen Diskurs, der Frauen* eine eigenständige Raumaneignung ermöglicht und ihr Recht darauf unterstützt und einfordert. Für Betroffene ist wichtig, dass die Erlebnisse sichtbar gemacht und geteilt werden. Die Nutzung visueller Räume durch Frauen* zum Teilen von Erfahrungen der Alltäglichkeit von Belästigung und Gewalt ist eine Form der Raumaneignung und ein wichtiges Instrument im Anstoßen von Debatten und auch dem Formen von Allianzen. Dies erfolgt schon jetzt durch Betroffene selbst. Was #metoo für die Belästigung am Arbeitsplatz ist, sind Aktionen wie #aufschrei in Deutschland und #yesallwomen im englischsprachigen Raum für die Sichtbarmachung von alltäglicher Belästigung. Soziale Arbeit kann hier einen Beitrag leisten, diese Erfahrungen auch auszuwerten und die Erkenntnisse in die Arbeit aufzunehmen. Soziale Arbeit kann das Teilen und Öffentlich-Machen von Erfahrungen unterstützen und auch Personen zugänglich machen, die an diesem Diskurs bisher nicht beteiligt waren. Das Netzwerk spezialisierter Opferschutzeinrichtungen könnte erweitert werden durch soziale Einrichtungen etwa im öffentlichen Raum und so Strategien einer weitreichenden Thematisierung verschiedener Belästigungsformen entwickeln.
In den USA planen Organisationen wie Hollaback! und StopStreetHarassment nicht nur Aktionen zur Sichtbarmachung und Aufklärung, sondern führen auch Studien durch, die Zahlen für den Diskurs liefern. Im deutschsprachigen Raum ist beides unterrepräsentiert. Während Einrichtungen für Betroffene von Gewalt im Nahbereich durch Begleitforschung wichtige Erkenntnisse liefern, ist in Bezug auf Street Harassment eine Aufgabe für die Sozialarbeitswissenschaft noch unbesetzt.
Die genannten Organisationen liefern zudem konkrete Lösungsansätze für die individuelle Gegenwehr von Betroffenen und Möglichkeiten des Einschreitens für unbeteiligte Dritte. Dies sollte zum Standardangebot etwa in der Jugend- und Gemeinwesenarbeit und in Workshops zur Zivilcourage gehören. Denn symbolische Gewalt ist nur durch ihre Duldung möglich. Soziale Arbeit kann vor Ort einen Beitrag leisten, der Duldung zu widersprechen. Dafür ist es notwendig, Street Harassment zu erkennen und einschätzen zu können, und durch das eigene Agieren Möglichkeiten eines positiven, für die Betroffenen unterstützenden Umgangs zu zeigen. Eine Intervention hat dabei zum Ziel, dass sich die Zielperson besser fühlt und Strategien und Methoden entwickeln kann, um direkt ihre Ablehnung zu äußern. Belästiger werden in ihrem Verhalten entmutigt, wenn ihnen klar rückgemeldet wird, dass das Verhalten inakzeptabel ist und nicht toleriert wird. Unbeteiligte Dritte können motiviert werden einzugreifen und Strategien und Methoden zur Intervention lernen. Hierbei kann auf bereits ausgearbeitete Konzepte der genannten US-amerikanischen Organisationen zurückgegriffen werden.
Ein wirkliches Beenden dieses Systems bedeutet also, dass die Zielperson Möglichkeiten hat, sich zu wehren und sich an andere um Hilfe zu wenden. Darüber hinaus können unbeteiligte Dritte lernen, Situationen einzuschätzen und einzugreifen. Vor allem wird das Verhalten von Belästigern als inakzeptabel sichtbar gemacht und nicht toleriert. Dafür braucht es auch eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung, ein Ernstnehmen der Thematik und Lösungen über kontrollierende Stadtplanung hinweg. Am Ende bleibt, dass auch soziale Kontrolle nur dann wirksam ist, wenn der Normverstoß tatsächlich geächtet wird, und dafür muss die strukturelle Gewalt beendet werden, der Frauen* und andere marginalisierte Gruppen im öffentlichen Raum ausgesetzt sind. Wesentlich ist dabei, ein Augenmerk auf intersektionale Überschneidungen zu legen und die Komplexität von Machtverhältnissen aufzudecken, um nicht auf einfache Lösungen zurückzugreifen, wie dies im rassistischen Auslagern der Täter auf „Fremde“ oder in der Verdrängung von marginalisierten, zum Teil auf den öffentlichen Raum angewiesenen, Personen und Gruppen sichtbar wird.
Verweise
1 Der Text fügt den Bezeichnungen „Frauen“ und „Männer“ einen Genderstern (*) an, um die soziale Konstruktion von Geschlecht sichtbar zu machen. Nicht angefügt sind die Sternchen an darüber hinaus gehenden weiblichen oder männlichen Bezeichnungen, um auch den praktischen Umgang mit Geschlechtlichkeit sichtbar zu machen.
Literatur
Auernhammer, Anita (2015): Potentiale von virtuellen Räumen für Betroffene von Street Harassment. Masterarbeit, FH Campus Wien.
Baumgartinger, Persson Perry (2008): Street Harassment, trans*queer und Multiphobie. In: Feministisches Kollektiv (Hg.): Street Harassment. Machtprozesse und Raumproduktionen. Wien: Mandelbaum, S. 104-121.
Becker, Ruth (2008): Angsträume und Frauenräume. In: Feministisches Kollektiv (Hg.): Street Harassment. Machtprozesse und Raumproduktionen. Wien: Mandelbaum, S. 56-74.
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Über die Autorin
Mag.a Manuela Hofer BA
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