soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 19 (2018) / Rubrik "Thema" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/567/1022.pdf


Christian Reutlinger:

„Eyes Wide Shut“

Community-Work-Traditionen im Spiel mit (Un-)Sichtbarkeiten1


1. Einstieg – Spiel mit Sichtbarkeiten, Unsichtbar werden, sein können, bleiben dürfen

Unsichtbar zu sein ist eine positive Fähigkeit – mit dem Unsichtbar-Status bei WhatsApp oder anderen sozialen Medien können wir uns im Alltag ein wenig Luft im dauernden Präsent- und Online-sein-Müssen unserer Zeit verschaffen. In vielen aktuellen oder wieder aktuellen Fantasie-Epen oder Spielen sorgt die Fähigkeit, sich unsichtbar machen zu können, für die notwendige Spannung und garantiert letztlich das Überleben der Helden. Als eines der drei Heiligtümer des Todes nutzt zum Beispiel Harry Potter seinen unsichtbar machenden Umhang, um dem Allgemeinwohl zu dienen sowie für kleine Regelübertretungen. Der Legende nach verbirgt der Umhang seine Trägerinnen oder Träger sogar selbst vor dem Tod. Ambivalent gestaltet sich das Verschwinden-Können aus der Welt der Sichtbarkeit in „Herr der Ringe“. Der Ring macht unsichtbar und schützt bspw. den Hobbit Frodo Beutlin vor Orks und anderen sich meist im sichtbaren Bereich bewegenden bösen Wesen – gleichzeitig gewinnt der Ring mit jeder Verwendung an Einfluss. Auch die böse Macht in der Gestalt des dunklen Herrschers Sauron ist unsichtbar und durchdringt die gute Welt mit einer zerstörerischen Absicht. Im Detektivspiel „Scotland Yard“ wird der geheimnisvolle Mister X gejagt. Mit Taxi, Bus oder U-Bahn durchqueren alle Spielerinnen und Spieler London. Anhand von Fahrscheinen versuchen die Detektive, den nicht erkennbaren Mister X dingfest zu machen. Doch der trickst die anderen aus, benutzt heimliche Fährten und verwischt alle Spuren.

Wie großartig wäre es, angesichts dieser positiven Aspekte von Unsichtbarkeit, wir könnten uns selbst unsichtbar machen, Grenzen übertreten, in normalerweise verschlossene Welten eintauchen, „Mäuschen Spielen“ und dabei geschützt sein. Hingegen ist ein nicht freiwillig gewolltes Leben in der Unsichtbarkeit, das Nicht-gesehen-Werden, das Nicht-sichtbar-sein-Können, das Verdrängt- und Vergessen-Sein mitunter auch problematisch – deshalb soll in diesem Beitrag das Verhältnis zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit im Zusammenleben genauer ausgelotet werden. Im Fokus stehen die damit zusammenhängenden Herausforderungen für community-orientierte Arbeitsformen und Initiativen.


2. Vergewisserung: Was wird benötigt, um Dinge, Personen, aber auch Phänomene wie Ungleichheiten oder Ungerechtigkeiten sichtbar werden zu lassen?

In der Folge werden vier Elemente von Sicht- bzw. Unsichtbarkeit dargestellt, die auf die im Titel gestellte Frage als Antwort gegeben werden könnten. In einem zweiten Schritt werden diese vier Elemente mit gemeinwesenorientierten Projekten und Initiativen in Verbindung gebracht. Zugleich werden immer wieder historische Bezüge zu heute vielfach vergessenen und damit nicht mehr sichtbaren Ansätzen und Gedanken hergestellt. Durch diese Vorgehensweise soll eruiert werden, nach welchen Spielregeln die Dinge und Phänomene im fachlichen Denken von Gemeinwesenarbeitenden sichtbar werden bzw. sichtbar gemacht werden. Abschließend werden einige Reflexionsangebote für einen professionellen Umgang mit Sicht- und Unsichtbarkeit herausgearbeitet.


2.1 Element 1: Licht (Lichtquelle)

Licht ist, das sagt uns die Physik, der für das menschliche Auge sichtbare Bereich elektromagnetischer Strahlen. Alles was unter- und oberhalb bestimmter Wellenlängen liegt, also sowohl Ultraviolett (unterhalb) wie auch Infrarot (oberhalb), zählen wir gemeinhin nicht dazu. Aus dem Biologieunterricht wissen wir, dass nicht nur der Mensch das Licht der Sonne zum Leben benötigt, sondern nahezu alle Organismen ohne Licht eingehen. Nicht verwunderlich ist deshalb, dass das Gegensatzpaar Licht und Dunkelheit zu den Ursymbolen der Menschheit gehört – und sich fast alle Religionen ihrer Symbolik bedienen, so auch die christliche: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war“ heißt es in der Genesis im Buch Mose 1,1.

Während das Licht mit Wachheit, Sicherheit, Ordnung und „dem Guten“ assoziiert wird, verbinden wir mit Dunkelheit Schlaf, Angst, mitunter auch Chaos oder „das Böse“. Und dennoch ist das eine nicht ohne das andere denkbar. Erst mit Licht wird das Nichts bzw. die Finsternis getrennt in zwei Sphären, in Licht und Schatten. Man sieht immer nur gerade das, was angeleuchtet wird, obwohl das andere trotzdem existiert. So erscheint uns beispielsweise der Mond, der zwar immer ganz vorhanden ist, je nachdem, wie er angeleuchtet wird, als voll, leer oder halb. Das Sprichwort besagt schließlich: „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“. (Kalle 2011: o. S.) Damit verbunden ist die Weisheit, dass dort, wo es viel Positives gibt, auch viel Negatives zu finden ist. Womit ein interessanter Aspekt im Umgang mit Sichtbarkeit angesprochen ist. Es geht um polarisierende Perspektiven auf bestimmte Sachverhalte: schwarz, weiß, hell, dunkel, gut, böse, innen, außen. Will man den gesamten Kontext verstehen, müssen jeweils beide Pole betrachtet werden. Besonders aufschlussreich zum Verstehen des Zusammenspiels ist der Grenzbereich im Übergang von einer zur anderen Sphäre.


2.2 Element 2: Augen (und andere Sinnesorgane) und Sprache, um das Gesehene anschlussfähig zu machen

Damit wir das Licht, aber auch unterschiedliche Perspektiven wahrnehmen können, benötigen wir die entsprechenden Sinnesorgane. Das Auge ist insbesondere bei der Wahrnehmung von elektromagnetischen Wellen zentral. Nachgelagert müssen im Hirn vielfältige Prozesse stattfinden, damit sich ein Bild entwickeln kann und wir die Welt sehen und begreifen. Oft wird dies vergessen – wir sind visuell besonders gut geschulte Menschen bzw. erleben ein visuelles Zeitalter. Nicht nur das Körperliche und damit Sichtbare macht den Sinn des Lebens aus, vielmehr ist es der Geist, welcher die Verbindungen zwischen den Menschen und den Dingen erst knüpft. „Der Geist beseelt die Dinge (…) schafft Bedeutung. Der Körper dagegen ist nur eine Hülle, die der Geist überdauert.“ (Fiedler 2017: o. S.) In der Geschichte vom kleinen Prinzen wird diese philosophische Weisheit dem Fuchs in den Mund gelegt, indem Saint-Exupéry ihn sagen lässt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ (Saint-Exupéry 1994: 57) Jenseits der Moralin stecken in dieser zu unserem Kulturgut gehörenden Weisheit verschiedenste Erkenntnisse im Umgang mit sichtbaren Phänomenen: Die Augen helfen, die Welt zu sehen, jedoch können wir uns auf das Gesehene nicht vollkommen verlassen. Hilfreich für eine umfassendere Orientierung sind andere Zugänge, andere Sinne, jedoch auch die Anstrengung, dass wir das Gesehene anschlussfähig machen für andere Menschen. Kinder lernen dies schon früh in Spielen wie „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Das Schauen, Entdecken, Spielen, Erlernen von Sprache und Kommunizieren werden dadurch trainiert. Wir Erwachsene verlernen dies mitunter wieder – zu bipolar, zu eindeutig sehen und denken wir.

„Eyes wide shut“ zum Ersten: Obwohl wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, kann es sein, dass wir gewisse Details, die spezifischen Nuancen eines Ortes, die Feinheiten eines Kontextes oder die Bedeutung einer Situation gar nicht sehen (können). Dies hat damit zu tun, dass wir diese Details nicht in uns bekannte Zusammenhänge einordnen können und das Wissen sowie die Sensibilität fehlen, was bedeutet, wir sind blind dafür. Der 1999 verstorbene Regisseur Stanley Kubrick prägte in seinem letzten und gleichnamigen Film, der wiederum Schnitzlers Traumnovelle aufgreift, das entsprechende Bild von „weit geschlossenen Augen“ (Kubrick 1999). Trotz dieser sehenden Blindheit können wir lernen, verborgene Dinge zu erkennen, verhüllte Zusammenhänge zu verstehen – durch andere Sichtweisen, Irritationen, Diskurs und Reflexion. Womit wir zum dritten Element kommen.


2.3 Element 3: Illumination – „sich selber erhellen“ (Bewusstseinserweiterung oder Reflexionsfähigkeit) und „andere erhellen wollen“ (Mission)

Plötzlich denken, verstehen oder durchschauen wir etwas, was uns zunächst nicht klar war. „Es geht mir ein Licht auf“, pflegen wir dann zu sagen. Diese Redensart geht übrigens auch zurück auf die Bibel und meint bildlich, dass der menschliche Geist durch das Licht des Glaubens erhellt wurde. Im Neuen Testament (Matthäus 4,16) heißt es: „(…) das Volk, das in der Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und die da saßen am Ort und Schatten des Todes, denen ist ein Licht aufgegangen“.

Erleuchtungsmomente können im Alltag jedoch nicht zwingend zur religiösen Erweckung, sondern auch (nur) zu einem permanenten Streben nach Wahrheit und Erkenntnissen führen. Dieses Bestreben, den Dingen auf den Grund zu gehen, indem man sprichwörtlich „Licht ins Dunkle bringen“ möchte, kann sich in zwei ganz unterschiedlichen Richtungen ausprägen. In einer ersten geht es eher um die Erweiterung des eigenen Bewusstseins. Man möchte eine Sache aufklären, eine undurchsichtige Angelegenheit klären oder schlicht und einfach etwas herausfinden. Ein Bestreben, welches man übergeordnet als „forscherische Haltung“ beschreiben könnte. Die zweite Richtung zielt auf die Erhellung anderer. Durch die Analyse und die Festlegung eines meist als negativ empfundenen Status Quo möchte man diesen verändern, indem man bspw. die Lage von Bedürftigen verbessern will. Im Streben, die dunklen Seiten von gesellschaftlichen Zusammenhängen mit einem aufklärerischen oder anklagenden Anspruch auszuleuchten, steckt eher eine „missionarisch geprägte Haltung“.


2.4 Element 4: Zur (aktiven) (Selbst-)Positionierung im gesellschaftlichen Hell-Dunkel-Spiel

Verbunden mit den beiden möglichen Haltungen des vorangegangenen Elements sind unterschiedliche Selbstverständnisse. Während man sich bei einer forscherischen Haltung auf objektivierbare Positionen zurückziehen kann, geht es bei der aufklärerischen Haltung darum, dem Gesamtgefüge – auch dem eigenen Standpunkt – eine eindeutige Ausrichtung zu geben. Im Unterschied zum Element 1, welches die Welt in Hell und Dunkel teilte, geht es bei Element 4 darum, sich (selbst) in diese Teilung mitzudenken. Wie normativ und grundlegend darüber entschieden wird, ob jemand auf der guten oder schlechten Seite steht, zeigt uns das Beispiel der Starwars-Saga. Auf der dunklen Seite der Macht stehen Wesen, die skrupellos und zerstörerisch sind. Hingegen umfasst die helle Seite der Macht das Gute in der Galaxie. Um ihn vor den Kräften der dunklen Seite zu bewahren lehrt Jedi-Meister Yoda seinem Schüler Luke Skywalker: „Erleuchtete Wesen sind wir, nicht diese rohe Materie.“ (Lucas 2004) Auch wenn in unserem Alltag in der Regel nicht das Überleben des Universums auf dem Spiel steht, gilt trotzdem: Unser Handeln ist nicht neutral, sondern wir positionieren uns und werden zur dunklen oder hellen Seite gezählt. Indem wir mitmachen, uns auflehnen, politisch aktiv werden, treiben lassen, unter- oder abtauchen reproduzieren wir das, was mächtig ist, gesellschaftlich dominant und im Licht stehend oder eben an den Rand gedrängt und dunkel.

Wie positionieren sich nun gemeinwesenorientierte Projekte und Initiativen zur Sicht- und Unsichtbarkeit? Dies wird im nächsten Punkt anhand der vier skizzierten Elemente rekonstruiert. Die empirische Basis besteht insbesondere aus den Kongressakten der „National Conference on Social Welfare“. Dieser Kongress fand zwischen 1874 und 1982 alle zwei Jahre in den USA statt und änderte im Laufe seiner Geschichte wiederholt den Namen. (Vgl. Köngeter/Reutlinger 2014: 455 und i.E. 2018)


3. Positionierung von Community-Work-Traditionen in der (Un-)Sichtbarkeit

3.1 Element 1: Licht (Lichtquelle)

Sichtbar ist, was im Licht liegt. Die von den Autoren der kritischen Stadtforschung angefochtene „unternehmerische Stadt“ (vgl. Schipper 2006) bringt auf den Punkt, was in der Aktualität leuchtet und worauf der Mainstreamblick unserer Zeit gerichtet ist: Städte versuchen „mit immer ausgefeilteren Instrumenten global agierendes Kapital, einkommensstarke Haushalte und Konsumenten im interkommunalen Wettbewerb anzuziehen.“ (Schipper 2013: 21) Geleitet von einem ökonomisch-neoliberalen Denken werden dabei „tendenziell sämtliche Politikbereiche dem übergreifenden Ziel der standortpolitischen Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet.“ (ebd.) Markt- und Wettbewerbsmechanismen werden auf die interne Steuerung städtischer Prozesse übertragen und die Organisation der Verwaltung entsprechend umgebaut. Betriebswirtschaftliche Steuerungsmodelle, die künstliche Schaffung von Wettbewerbsverhältnissen, Public-Private-Partnerships und Privatisierungen sind die entsprechenden Stichworte. Demokratische Strukturen bleiben zwar erhalten, Politikerinnen und Politiker beugen sich aber übergeordneten Sachzwängen. Argumentiert wird in der Regel mit den beiden schillernden Begriffen Globalisierung und Wettbewerbsfähigkeit. Als Konsequenz wird die Stadt nicht nach den (widersprüchlichen) Wünschen der Bewohnenden, sondern „im Sinne eines objektiven Allgemeininteressens“ (ebd.) gestaltet. Materialisiert und damit sichtbar wird die Mächtigkeit der unternehmerischen Stadt in der Gestaltung und Bebauung von öffentlichen Plätzen und ganzen Gebieten der Stadt: Spekulative Bürobauten, attraktiver Wohnraum, Groß- bzw. Prestigeprojekte für Events und Festivals, große Konsum- und Freizeiteinrichtungen etc. Diese Bauten gehören zu den Modulen, die in jeder Gemeinde an den besten Lagen, zentrumsnah und verkehrstechnisch gut erschlossen entstehen – ohne dass sich die Gemeinden die kritische Frage stellen, ob es überhaupt so viele gut gestellte Personen gibt, die in der jeweiligen Gemeinde wohnen und arbeiten wollen.

Die kritische Stadtforschung warnt, dass mit dem immer Hellerwerden der unternehmerischen Stadt auch die Bruchlinie zum Schatten und damit die Schatten selbst ausgeprägter werden: Spaltungen in der Gesellschaft verstärken sich, soziale und räumliche Ausschließungsprozesse nehmen zu. Sinnbild solcher als sozialräumliche Segregation bezeichneten Prozesse ist die Herausbildung von Quartieren, die von der prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung „abgehängt“ sind und sich „sozusagen ‚im Schatten’ der unternehmerischen Stadt“ (May 2016: 41) befinden. Basierend auf den Analysen von Wanderungs-, Konzentrations- und Entmischungsprozessen eingewanderter Bevölkerungsgruppen in nordamerikanischen Großstädten wie Chicago im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert oder in englischen Industriezentren wie Manchester, Leeds oder Liverpool Mitte des 19. Jahrhunderts verortet die Stadtsoziologie diese Viertel auch heute „am Rande“ einer Stadt und damit außerhalb der Sichtbarkeit der besser gestellten Bevölkerung. Wie elend sich ein Überleben im Schatten, in solchen von der Unterschicht bewohnten Vierteln darstellte, kann man beispielsweise im klassischen Werk „Die Lage der arbeitenden Klassen in England“ von Friedrich Engels (*1820; †1895) aus dem Jahre 1845 nachlesen:

„Jede große Stadt hat ein oder mehrere ‚schlechte Viertel’, in denen sich die arbeitende Klasse zusammendrängt. Oft freilich wohnt die Armut in versteckten Gäßchen dicht neben den Palästen der Reichen; aber im allgemeinen hat man ihr ein apartes Gebiet angewiesen, wo sie, aus den Augen der glücklicheren Klassen verbannt [Hervorgeh. Ch.R.], sich mit sich selbst durchschlagen mag, so gut es geht: (…) Haufen von Schmutz und Asche liegen überall umher, und die vor die Tür geschütteten schmutzigen Flüssigkeiten sammeln sich in stinkenden Pfützen. Hier wohnen die Ärmsten der Armen, die am schlechtesten bezahlten Arbeiter mit Dieben, Gaunern und Opfern der Prostitution bunt durcheinander (…).“ (Engels 1962: 260)


3.2 Element 2: Augen (und andere Sinnesorgane) und eine Sprache, um das Gesehene anschlussfähig zu machen

„Kinder werden im eiligen Bau unserer großen Metropolitanstädte vergessen. Wenn die Dinge dann für Kinder gefährlich werden, planen wir schnell einen Spielplatz hier und dort und versuchen, künstliche Bedingungen zu schaffen, die früher die natürliche Umgebung des jungen Menschen waren.“ (McDowell 1926: 379)2

Die amerikanische Sozialreformerin und prominente Figur der Chicagoer Settlement-Bewegung Mary Eliza McDowell (*1854; †1936) analysiert in ihrem Beitrag für die „National Conference on Social Welfare“ von 1926 am Beispiel von Kindern kritisch, wie viele sozialarbeiterische Ansätze auf sichtbare Probleme städtischer Entwicklung reagieren: Mit der Schaffung eines räumlich und sozial separierten Ortes, welcher naturnah und damit vermeintlich kindgerecht gestaltet ist. Mehr Matsch für Kinder! Diese Logik gilt auch heute. (vgl. Reutlinger 2017: 56) Auf für Kinder negativ wirkende Siedlungsentwicklungen wird mit der Schaffung von naturnahen Spielplätzen, auf denen es einen Sandhügel und fließendes Wasser gibt, reagiert. Damit scheint die Vorstellung zu überdauern, dass ein sichtbares Problem (kein Platz für Kinder in den Städten) mit einer sichtbaren Lösung (Schaffung von Kinderorten) behoben werden kann.

Der schlaue Fuchs aus der Geschichte vom kleinen Prinzen lehrt uns, dem Gesehenen zu misstrauen. Deshalb scheinen hinter jedem Sichtbaren noch verdeckte Aspekte zu liegen, die wir zu erkennen versuchen sollten. Mary Eliza McDowell unterstreicht für das Spielplatz-Dilemma, dass der naturnahe Ort nicht genügt, sondern vielmehr die an einem Ort stattfindenden Kontakte und Beziehungen zu anderen Personen entscheidend seien. Am Beispiel der Settlements – resp. Gemeindezentren – zeigt sie auf, dass dort nachbarschaftliche Beziehungen gelebt wurden. Dadurch kamen Kinder in Kontakt mit anderen Bewohnenden der Viertel, lernten aufeinander aufzupassen und Sorge zu tragen – kurz ist für sie die mit den Augen nicht sichtbare „integrierende Kraft“ an den Orten des Settlements von Bedeutung. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, dass viele community-orientierte Ansätze schon früh eine Sensibilität entwickelten, sozialräumliche Zusammenhänge aus dem komplexen Spiel von Sicht- und Unsichtbarkeit aufzuschließen. Damit ist die einfache Vorstellung zu hinterfragen, dass die meisten sozialen Probleme sich räumlich in benachteiligten Vierteln konzentrieren, resp. zu differenzieren. Robert Ezra Park (*1864; †1944), der Gründungsvater der sogenannten Chicagoer Schule der Soziologie, sprach von einer „unsichtbaren Mauer einer fremden Sprache“ (Park 1984: 113), hinter welcher bestimmte Gruppen, wie nicht gebildete Frauen, Migrantinnen und Migranten, Kinder aber auch Boys’ Gangs „lokal segregiert und eingemauert werden“ (ebd.)3. Diese unsichtbare Mauer wirkt ebenso stark auf die Ausgrenzung bestimmter Gruppen wie sichtbare physische Mauern. Nach Jahrzehnten von Entgrenzungs- und Öffnungsprozessen einer ort- und grenzenlos scheinenden Globalisierung kommen wir gerade wieder in ein Zeitalter des physischen Mauerbaus zwischen Ländern, innerhalb von Städten, innerhalb von Gemeinwesen. Die NZZ (Neue Zürcher Zeitung) am Sonntag meint hierzu: „Derzeit werden so viele Grenzzäune und Grenzmauern gebaut wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Sie sollen Staaten vor illegalen Migranten und Terroristen schützen. Manchmal sind die Mauern sogar unsichtbar.“ (Mijuk 2017: o. S.)

Gleichzeitig werden wir in vielen Lebensbereichen immer transparenter, was dazu führt, dass das Physische nicht mehr eine solche Dominanz aufweist. Stichworte hierfür sind der gläserne Mensch, Überwachungsskandale (NSA) sowie eine ausgeklügelte „Maschinerie der Sichtbarmachung“ (Reutlinger 2003: 89), bspw. durch Reality-Fernseh-Formate. Durch das Ineinandergreifen von sichtbaren und unsichtbaren Mauern sind wir heute gezwungen, in jedem Kontext und bei jeder Fragestellung genau zu analysieren, was die sichtbar und unsichtbar machenden Faktoren sind, die ausgrenzend wirken. Gleichzeitig sind wir gezwungen, darüber nachzudenken, was unter diesen Umständen, unter denen Innen und Außen nicht mehr so eindeutig sind, Gemeinwesen bedeutet. Aufbauend auf Vorstellungen vom alten Griechenland ist ein Gemeinwesen ohne sichtbare Mauer, traditionell die Stadtmauer, nicht denkbar. „Weil die Mauer dasjenige ist, was das Gemeinwesen sichtbar – es rings umschliessend – zusammenhält.“ (Held 1980: 138) Fällt die Stadtmauer, ist der innere Zusammenhalt des Gemeinwesens (d. h. der Nomos) bedroht – so die Überlegungen des deutschen Philosophen Klaus Held. Dies führt zu folgendem Gedanken: Gerade erstarken Vorstellungen von Gemeinwesen, die auf physische und damit sichtbare Mauern setzen, in den USA, Europa, der Schweiz. Der innere Zusammenhalt soll durch diese Abschottung gestärkt werden. Klanglos scheinen angesichts des derzeitigen Polterns Diskussionen, die die verdeckten Ausgrenzungsmechanismen problematisieren. Wichtig wären heute alternative Formen, ein integratives Gemeinwesen zu denken, welches ohne physische Mauern auskommt.


3.3 Element 3: Illumination – erhellt werden (Bewusstseinswerteiterung oder Reflexionsfähigkeit) und andere erhellen wollen (Mission)

Im Jahre 1918 deklarierte der US-amerikanische Soziologe und 14. Präsident der amerikanischen Soziologischen Gesellschaft Charles Abram Ellwood (*1873; †1946) im Rahmen der „National Conference on Social Welfare“ den Übertritt von der „metaphysischen“ zur „wissenschaftlichen Stufe der Sozialarbeit“, wie er den Professionalisierungsschritt nannte:

„Natürlich haben wir das metaphysische Stadium der Sozialarbeit noch nicht ganz hinter uns gelassen. Es gibt noch Sozialarbeiter, die glauben, dass ihre Arbeit auf Grund ihrer willkürlichen Meinungen, ohne Rücksicht auf die Wissenschaft ausgeführt werden kann. Es gibt andere Sozialarbeiter mit ein wenig mehr wissenschaftlichem Geist, die dennoch darauf bestehen, alles von ihrer Praxis aus zu betrachten. Es gibt noch andere, die, wenn auch nicht öffentlich, dann aber privat sagen, dass sie die Sozialarbeit bloß als ‚palliativ’ betrachten, und obwohl sie von ihr leben, richten sich ihre wahren Hoffnungen auf ‚die nächste Soziale Revolution’.“ (Ellwood 1918: 686f)4

Was Illumination im erwähnten Spannungsfeld zwischen Bewusstseinserweiterung und Reflexionsfähigkeit, d. h. „erhellt werden“, und Mission, d. h. „andere erhellen wollen“, für die einzelnen von Ellwood skizzierten Positionen bedeutet, kann man sich leicht ausmalen.

Ein Blick auf community-orientierte Ansätze dieser Zeit, wie sie innerhalb des National Community Center Association (NCCA) vertreten wurden, verdeutlicht deren wissenschaftliche Fundierung. Der Sekretär der NCCA LeRoy E. Bowman begründet hierzu 1918 die notwendige Basis für „community work“:

„Es ist notwendig, die tatsächlichen Bedürfnisse der Gemeinschaft herauszufinden, und egal wie gut die Anführer in der Bewegung das Viertel kennen, ist es trotzdem gut, eine sorgfältige wissenschaftliche Umfrage durchzuführen. Eine solche ergibt Tatsachen und bringt bloße Meinungen zum schweigen; sie bietet Gelegenheit, auf die große Bandbreite an Interessen und Hobbys der verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen einzugehen; sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gemeinschaft, jedoch nicht so sehr im Geist der Offenlegung von Traditionen, die bleiben sollen, sondern um Krankheiten zu diagnostizieren, die behandelt und geheilt werden sollen. Sie ermöglicht die Chance, Bekanntheit für die Nachbarschaft zu erlangen, mit Tatsachen als Grundlage.“ (Bowman 1918: 466)5

Erst auf der Basis wissenschaftlich erhobener Bedürfnisse der Bevölkerung wurde die Richtung der Entwicklung eines Gemeinwesens bestimmt und nicht durch das, was „Anführer der Bewegung“ oder Community Worker vorgaben (Residents of Hull-House 1895). Prominent sind die Analysen, welche Jane Addams (*1860; †1935) und ihre Kolleginnen im Hull House in Chicago durchführten und unter den „Hull House maps and papers“ veröffentlichten. Wissenschaft fand für sie nicht im Elfenbeinturm statt. Vielmehr sollten die Untersuchungen, die die Hull-House-Mitarbeitenden anstellten, „soziale Missstände und ihre Ursachen aufdecken und zu ihrer Beseitigung beitragen.“ (Eberhart 2009: 175)

„Die Bewohner des Hull-House bieten diese Karten und Papiere der Öffentlichkeit an, nicht als erschöpfende Abhandlungen, sondern als aufgezeichnete Beobachtungen, die möglicherweise von Wert sein können, weil sie unmittelbar sind und das Ergebnis der langen Bekanntschaft. Alle Autorinnen und Autoren residieren aktuell im Hull-House, einige von ihnen seit fünf Jahren; ihre Energien sind jedoch nicht hauptsächlich auf die soziologische Erforschung, sondern auf die konstruktive Arbeit gerichtet.“ (Adams 1895: vii)6


3.4 Element 4: (Aktive) (Selbst-)Positionierung im gesellschaftlichen Hell-Dunkel-Spiel

Mit der Feststellung, „(…) die im Dunkeln sieht man nicht“ (Schönig 2012: 73), situiert Werner Schönig von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfahlen in Köln sowohl von Armut betroffene Menschen in Deutschland, wie auch mit ihnen verknüpfte gemeinwesenarbeiterische Projekte im „Schatten der gesellschaftlichen Wahrnehmung“ (ebd.). Aus diesem doppelten Schattendasein gilt es auszubrechen, in die Sichtbarkeit zu treten – sowohl die übergangenen Gruppen und Personen wie auch die übergangene Gemeinwesenarbeit sollen ins Licht geführt werden. Auf dieser Basis wird heute eine mögliche fachliche Positionierung formuliert, wie dies bspw. Ronald Lutz von der Fachhochschule in Erfurt tut: Gemeinwesenarbeit trat einmal an, „Menschen zu unterstützen, deren Leben sich im Schatten und an den Rändern der Stadt ereignete, um die etablierten Routinen des Himmels durcheinander zu bringen.“ (Lutz 2011: 155) In diesem Geiste gilt für heute, die Gemeinwesenarbeit „radikal und kritisch neu zu fassen als politische Gemeinwesenarbeit, die irritiert.“ (ebd.)


4. „Eyes wide shut“ – einige Reflexionsangebote zum Schluss

Was für ein Anspruch! Die „Routinen des Himmels“ durcheinanderbringen zu wollen, indem bspw. die Bahn der Sonne beeinflusst wird und damit das, was sichtbar und was unsichtbar wird. Darüber hinaus als Profession ins Licht treten und gleichzeitig die „im Schatten“-Stehenden ins Licht führen. Angesichts der eklatanten negativen sozialen Folgen einer auf neoliberale Prinzipien ausgerichteten Stadtentwicklung – dies wurde unter Element 1 mit der Figur der unternehmerischen Stadt skizziert – wäre ein alternatives Entwicklungsszenario wie von den beiden Autoren Schönig und Lutz vorgeschlagen, durchaus anzustreben. Dann würde die Frage lauten, wie sich eine Gemeinwesenarbeit definieren lässt, die in der Lage ist, Gesellschaft gerechter zu gestalten. Eine politische Gemeinwesenarbeit, die auf der guten Seite steht, auf Ausgrenzungsmechanismen abbauend agiert und in der Konsequenz den Kapitalismus und seine Logiken überwinden kann. Dieses Unterfangen ist jedoch dermaßen groß, dass der Anspruch des vorliegenden Beitrags viel geringer ist, indem er lediglich mit einigen Reflexionsangeboten abgeschlossen werden soll. Diese lassen sich als Plädoyer für einen bewussteren Umgang mit der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zusammenfassen. Sie bauen auf der Figur einer sogenannt räumlich reflexiven Haltung auf. (vgl. Kessl/Reutlinger 2010) Die räumlich reflexive Haltung beinhaltet die beiden Kernelemente Kontextualisierung und Positionierung. Abschließend werden diese auf die drei Gestaltungsversprechen, die in der von Schönig und Lutz formulierten politischen Gemeinwesenarbeit stecken, angewendet.


4.1 Erstes Gestaltungsversprechen: Irritation der Himmelsroutine durch politische Einmischung

Das skizzierte komplexe Zusammenspiel von sicht- und unsichtbaren, physischen und volatilen Grenzen und Mauern erschwert heute eine klare Positionierung im Hell-Dunkel-Spiel unserer Gesellschaft. Tendenziell steht jede Person in jedem Lebensbereich vor der Aufgabe, sich positionieren zu müssen. Gleichzeitig wird die Basis hierzu ausgehöhlt. Gut-Böse-, Innen-Außen-, Hell-Dunkel-Positionen verschwimmen, ihre Grenzen werden porös – seit Neustem gilt dies nicht nur für die Positionierung gegenüber Fakten, sondern sogar für die Fakten selbst (Stichwort: alternative Fakten). Deshalb gilt es, in jedem Kontext genau auszuloten, wo die sichtbaren, aber auch unsichtbaren Aspekte liegen – eine wissenschaftliche Fundierung ist dabei sicherlich ebenso hilfreich wie klare fachlich fundierte Orientierungspunkte. Der Blick dorthin, wo Community-Arbeitende herkommen, gibt wichtige Anhaltspunkte. Im Sinne eines Plädoyers bedeutet dies: Lösen wir vergessenes Wissen aus seinen verdeckten Zusammenhängen und lassen wir uns inspirieren von den Gedanken der Pionierinnen und Pioniere von Community-Ansätzen!


4.2 Zweites Gestaltungsversprechen: Als Profession ins Licht treten

Integrative Perspektiven, partizipative Prozesse und die Möglichkeit, mitzureden am Tisch der Mächtigen, gehören heute beinahe schon zur Selbstverständlichkeit in vielen Bereichen von Stadtentwicklung. Hinter dieser Umsetzung liegt eine Forderung, die schon relativ alt ist, wenn man bspw. Texte von Saul Alinsky (*1909; †1972) heranzieht:

„Was ich versuchen wollte, war, die Organizing-Techniken, (…), in den schlimmsten Gettos und Slums anzuwenden, um den am stärksten unterdrückten und ausgenutzten Wesen im ganzen Land die Kontrolle über ihre eigenen Stadtteile und ihr eigenes Schicksal zurückzugeben. (…) – Community Organizing für die Macht des Stadtteils und für radikale Ziele.“ (Alinsky/Norden 2007: 25)

Dieses „Community Organizing“ stellte sich Alinsky folgendermaßen vor:

„Doch in jenen Ansätzen, in denen der Charakter und die Rolle der Gemeinschaft verstanden werden, wo die Organisation in der Lage ist, effektiv am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen, wo sie die natürlichen Führer der Gemeinschaft identifiziert hat, deren wichtige Rolle erkannt hat und mit ihnen arbeitet, wo sie erkannt hat, dass Community Organization ein Organisieren der und mit den Menschen in der Gemeinde ist, anstatt durch aufgesetzte Programme einer externen Agentur, (…).“ (Alinsky 1938: 722)7

Während sich Alinsky in den 1930er-Jahren zu den Angehörigen der Schattenseite zählte und mit radikalen Methoden gegen die Machthabenden kämpfte, werden Gemeinwesenarbeitende heute gehört und mit in Stadtentwicklungsprozesse einbezogen. Dies kann man einerseits als Sieg eines langen Kampfes interpretieren. Andererseits muss man sich kritisch fragen, ob man damit nicht selbst Teil gewisser Regierungsweisen und damit Teil des Lichts, d. h. der machtvollen Positionen, wird. Mit dieser Ambivalenz müssen wir umgehen, unbequeme und kritische Fragen aushalten, uns irritieren lassen. Eine Möglichkeit ist die reflexive Auseinandersetzung nicht nur mit uns, sondern auch mit anderen. Vielfach werden in Partizipationsprojekten eher die Ansprüche auf Befriedigung bestimmter Bedürfnisse durch den Staat zu sehr genau definierten Themen- oder Problembereichen eingefordert. An den übergeordneten Regulierungen wird dabei ebenso wenig gerüttelt wie dem Anliegen nachgekommen, den Menschen die Kontrolle über ihre Stadtteile und ihr eigenes Leben zurück zu geben. Misstrauen wir deshalb dem bereits Sichtbaren! Misstrauen wir aber auch uns selber, wenn wir die Möglichkeit haben, in die Sichtbarkeit zu treten!


4.3 Drittes Gestaltungsversprechen: Im Schatten Stehende ins Licht führen

Gemeinwesenarbeitende stehen als Professionelle mit einem Bein im Schatten, zeigen Solidarität mit den Betroffenen, können jedoch jederzeit in die Sichtbarkeit treten. Dieses Wandeln zwischen Sphären sollten nicht nur Professionelle, sondern auch die Klientinnen und Klienten beherrschen. Hierzu müsste es ein Recht zur Sichtbarkeit geben. Die kurz angesprochene Tendenz zur Transparenz, die unkontrollierbare Maschinerie der Sichtbarkeit, führt heute jedoch schnell dazu, dass die von Andy Warhol einst prophezeiten „15 minutes of fame“ schnell zu einem lebenslangen Brandmal werden können. Beispielsweise kann ein Post oder ein veröffentlichter Auftritt in den sozialen Medien, welcher im jugendlichen Leichtsinn entstanden ist, bleibende Folgen haben. Vor diesem Hintergrund müsste es auch ein Recht geben, die Grenzen zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit auszuloten und austesten zu dürfen ohne langfristige Nebenwirkungen. Schließlich sollte es auch ein Recht auf Unsichtbarkeit geben, welches in der Gemeinwesenarbeit Tätige achten und respektieren sollten. Die schleichende Selbstverständlichkeit, zwecks Leistungsnachweis Dossiers über beratene Klientinnen und Klienten anzulegen, gilt es beispielsweise abzulehnen, wenn damit das zentrale Element der „Kontrolle über das eigene Leben“ bedroht wird.

Unsichtbar sein zu können ist schließlich eine positive Fähigkeit und kann vorteilhaft sein, was nicht nur Mister X, Harry Potter und Frodo bestätigen würden, sondern auch verschiedenste reale Menschen in ihrem Alltag oder Berufsleben.


Verweise
1 Beim vorliegenden Text handelt es sich um die überarbeitete Fassung des Hauptreferates „Eyes wide shut“, welches am 21. März 2017 im Rahmen der 5. Ostschweizer Sozialraumtagung 2017 gehalten wurde und die Herausforderung, Unsichtbares sichtbar zu machen, thematisierte. „An der Ostschweizer Sozialraumtagung / Fachtagung der Netzwerke GWA wurden in St. Gallen Orte, Dinge und Organisationen beleuchtet, die sonst eher im Hintergrund wirken (im Bild die ‚IG Brache Lachen’). Damit eine Stadt lebt, braucht es Reibung, Platz für Geheimnisse sowie sichtbare und unsichtbare Räume. Rund 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmer besuchten diese vermeintlichen Nebenschauplätze.“ (Fachhochschule St. Gallen 2017).
2 Eigene Übersetzung aus dem Original: „Children are forgotten in the hasty building of our great metropolitan centers. Then, when things get to be dangerous to children, we rush around and plan a playground here and there and try to bring about artificially conditions which were formerly the young person’s natural environment.“
3 Eigene Übersetzung aus dem Original: „(…) who are locally segregated and immured within the invisible walls of an alien language are bound to have some sort of interest in their neighbors.“
4 Eigene Übersetzung aus dem Original: „Of course, we have not yet gotten completely rid of the metaphysical stage in social work. There are still social workers who believe that their work may be safely carried on upon the basis of their arbitrary opinions without reference to science. There are other social workers with a little more of the scientific spirit who, nevertheless, insist upon viewing everything from the particular corner in which they are working. There are still others who, while they may not say it publicly, do not hesitate to say privately that they regard social work as a mere ‚palliative’, and while they get their living from it, their real hopes are pinned to ‚the coming social revolution’.“
5 Eigene Übersetzung aus dem Original: „lt is necessary to find out what are the actual needs of the community, and no matter how well the prominent ones in the movement may know the district, it is well to have a careful scientific survey made. I t gives facts and silences mere opinion; it gives opportunity in its broad scope to appeal to the interests or hobbies of various groups and individuals; it turns attention to the community needs not so much in the spirit of revealing traditions that must remain, as of diagnosing ailments that are to be treated-and cured. I t gives a chance to get publicity for the neighbourhood with facts as a basis.“
6 Eigene Übersetzung aus dem Original: „The residents of Hull-House offer these maps and papers to the public, not as exhaustive treatises, but as recorded observations which may possibly be of value, because they are immediate, and the result of long acquaintance. All the writers have been in actual residence in Hull-House, some of them for five years; their energies, however, have-been chiefly directed, not towards sociological investigation, but to constructive work.“
7 Eigene Übersetzung aus dem Original: „However, in those approaches where the character and role of the community are understood, where the organization has been able to participate effectively in the life of the community, where it has identified the natural leaders of the community, recognized their important roles and worked with them, where it has recognized that community organization is organization of and by the people in the community rather than the superimposed programs of an outside agency, (…).“


Literatur

Adams, Jane (1895): Prefatory Note. In: Residents of Hull-House (Hg.): Hull-House maps and papers. A presentation of nationalities and wages in a congested district of Chicago, together with comments and essays on problems growing out of the social conditions. New York/Boston: Crowell.

Alinsky, Saul (1938): The Basis in the Social Sciences for the Social Treatment of the Adult Offender. Official proceedings of the annual meeting 1938. In: National Conference on Social Welfare (Hg.): The social welfare forum. Official proceedings of the annual meeting: 1938. New York, S. 714-724, https://quod.lib.umich.edu/n/ncosw/ACH8650.1938.001/739?rgn=full+text;view=image;q1=Saul+D.+Alinsky (10.02.2017).

Alinsky, Saul / Norden, Eric (2007): Rebell trifft „Playboy“. Saul Alinsky im Gespräch mit Eric Norden. In: Penta, Leo (Hg.): Community Organizing. Menschen verändern ihre Stadt. Hamburg: Körber-Stiftung, S. 19-39.

Bowman, LeRoy E. (1918): The Neighborhood Association. In: National Conference on Social Welfare (Hg.): The social welfare forum. Official proceedings of the annual meeting: 1918. New York, S. 465-473, http://quod.lib.umich.edu/n/ncosw/ach8650.1918.001/480?page=root;rgn=full+text;size=100;view=image;q1=community+work (07.02.2017).

Eberhart, Cathy (2009): Jane Addams (1860 - 1935). Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Reformpolitik. Bremen: Europäischer Hochschulverlag.

Ellwood, Charles A. (1918): Social Facts and Scientific Social Work. In: National Conference on Social Welfare (Hg.): The social welfare forum. Official proceedings of the annual meeting: 1918. New York, S. 686-693, http://quod.lib.umich.edu/n/ncosw/ach8650.1918.001/701?page=root;rgn=full+text;size=100;view=image;q1=community+work (08.02.2017).

Engels, Friedrich (1962 [1845]): Die Lage der arbeitenden Klasse in England. In: Zentralkomitee der SED (Hg.): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz, S. 225-506.

Fachhochschule St. Gallen (2017): Sozialraumtagung 2017: Die unsichtbare Seite von St. Gallen beleuchtet. https://www.fhsg.ch/fhs.nsf/de/story?OpenDocument&story=sozialraumtagung-2017& (21.12.2017).

Fiedler, Andreas (2017): Der Geist – Was dem Leben Sinn verleiht. https://www.derkleineprinz-online.de/interpretation/der-kleine-prinz-interpretation-die-themen (03.01.2018).

Held, Klaus (1980): Heraklit, Parmenides und der Anfang Von Philosophie und Wissenschaft: Eine Phänomenologische Besinnung. Berlin: Walter de Gruyter.

Kalle, Matthias (2011): „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“. Sprichwörter im Praxistext. In: Die Zeit online vom 17.11.2011, http://www.zeit.de/2011/47/Sprichwort-Licht-Schatten (03.01.2018).

Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian (Hg.) (2010): Sozialraum. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Köngeter, Stefan / Reutlinger, Christian (Hg.) (2018): Studienbuch Geschichte der Gemeinwesenarbeit. Wiesbaden: Springer VS [im Erscheinen].

Köngeter, Stefan / Reutlinger, Christian (2014): Community Connections – Die Vielstimmigkeit der transatlantischen Community-Orientierung zwischen 1890 und 1940. In: Neue Praxis, Jg. 44, 5/2014, S. 455-477.

Kubrick, Stanley (1999): Eyes Wide Shut. Warner Home Video [Film].

Lucas, George (2004): Star Wars V – Das Imperium schlägt zurück. Twentieth Century Fox Home Entertainment Germany [Film].

Lutz, Ronald (2011): Das Mandat der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

May, Michael (2016): Kritische quartiersbezogene Arbeitsansätze Sozialer Arbeit im Schatten der unternehmerischen Stadt. In: Oehler, Patrick / Thomas, Nicola / Drilling, Matthias (Hg.): Soziale Arbeit in der unternehmerischen Stadt. Kontexte, Programmatiken, Ausblicke. Wiesbaden: Springer VS.

McDowell, Mary E. (1926): The Relations of Community Work to Family Life. In: National Conference on Social Welfare (Hg.): The social welfare forum. Official proceedings of the annual meeting: 1926. New York, S. 379-383, http://quod.lib.umich.edu/n/ncosw/ACH8650.1926.001/392?rgn=full+text;view=image;q1=community+work (08.02.2017).

Mijuk, Gordana (2017): Die Welt mauert sich ein. In: NZZ am Sonntag vom 07.02.2017, https://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/mauerbau-keinen-schritt-weiter-ld.143704 (03.01.2018).

Park, Robert E. (1984 [1925]): Community Organization and Juvenile Delinquency. In: Park, Robert E. / Burgess, E. W. (Hg.): The City. Suggestions for Investigation of Human Behavior in the Urban Environment. Chicago: University of Chicago Press, S. 99-113.

Residents of Hull-House (Hg.) (1895): Hull-House maps and papers. A presentation of nationalities and wages in a congested district of Chicago, together with comments and essays on problems growing out of the social conditions. New York/Boston: Crowell.

Reutlinger, Christian (2017): Machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt? Ein sozialgeographisches Lesebuch. Zürich: Seismo.

Reutlinger, Christian (2003): Jugend, Stadt und Raum. Sozialgeographische Grundlagen einer Sozialpädagogik des Jugendalters. Opladen: Leske + Budrich.

Saint-Exupéry, Antoine de (1994): Der kleine Prinz. Düsseldorf: Rauch.

Schipper, Sebastian (2013): Von der unternehmerischen Stadt zum Recht auf Stadt. In: Emanzipation, H. 2, S. 21-34.

Schipper, Sebastian (2006): Privatisierung öffentlicher Räume als Folge von interkommunalem Wettbewerb. In: Attac Österreich / Kritische Geographie Österreich (Hg.): Zwischen Konkurrenz und Kooperation: Analysen und Alternativen zum Standortwettbewerb. Wien: Mandelbaum, S. 104-112.

Schönig, Werner (2012): Die Entwicklung der Armut in Deutschland. In: Blandow, Rolf / Knabe, Judith / Ottersbach, Markus (Hg.): Die Zukunft der Gemeinwesenarbeit. Von der Revolte zur Steuerung und zurück? Wiesbaden: Springer VS, S. 73-88.


Über den Autor

Prof. Dr. phil. habil., dipl. Geogr. Christian Reutlinger, 1971
christian.reutlinger@fhsg.ch

Sozialgeograph und Erziehungswissenschaftler, Privatdozent an der TU Dresden (Fakultät für Erziehungswissenschaft). Er leitet die Forschungsabteilung des Instituts für Soziale Arbeit (IFSA) an der FHS St.Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Auch ist er dort Leiter des Kompetenzzentrums Soziale Räume. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Social Development, Transnationale Soziale Arbeit, Sozialgeographie der Kinder und Jugendlichen, Europäische Jugendforschung, Sozialpädagogische Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit.