soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 19 (2018) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/570/1020.pdf
192 Seiten / 28,00 EUR
Die Gemeinwesenarbeit gilt seit den 1980er-Jahren als zentrales Arbeitsprinzip Sozialer Arbeit (vgl. Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980), womit Perspektiven professionellen Handelns stärker auf Stadtteile und deren Bevölkerung bezogen und in ihrer gesellschaftlichen Strukturierung gedacht wurden. Seitdem muss die fachliche Auseinandersetzung zur Gemeinwesenarbeit im deutschsprachigen Diskurs abseits einzelner Standardwerke (vgl. Stövesand/Stoik/Troxler 2013, Fehren 2008, Munsch 2005) als begrenzt eingeschätzt werden. Eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff des Gemeinwesens oder zum Verhältnis von Sozialraumarbeit und Gemeinwesenarbeit (vgl. Kessl/Reutlinger 2013) sind rar.
Die mit dieser Monographie vorliegende theoretische Auseinandersetzung Michael Mays mit der Gemeinwesenarbeit versucht, dieses allgemein diagnostizierte aber kaum bearbeitete Theoriedefizit des deutschsprachigen Fachdiskurses zu füllen. Gleich im Vorwort legt der Verfasser seine zentrale Motivation offen, nämlich das Konzept der „Arbeit am Gemeinwesen“ mittels einer philosophischen, politiktheoretischen und gesellschaftskritischen Argumentation zu fundieren, um vereinfachten territorialen Vorstellungen oder grundsätzlichen Entledigungsversuchen des Konzepts Gemeinwesenarbeit zu begegnen (S. 9-10).
Diesen Weg beschreitet May auf anspruchsvolle Weise, indem er auf den ersten 70 Seiten zunächst den Begriff des Gemeinwesens historisch rekonstruiert und zentrale Positionen von Aristoteles, Hegel, Arendt, Habermas oder Marx darlegt und diskutiert. In seinem Zwischenfazit macht sich der Autor für eine Perspektive der Alltagskritik (S. 68-76) stark, um mit Lefebvre die Brücke zwischen den zuvor diskutierten sozialphilosophischen Positionen und einer stärker materialistischen Perspektive von Gemeinwesen zu schlagen. Dabei stellt er zentrale Kategorien Lefebvres wie Wunsch, Bedürfnis, Aneignung, Entfremdung oder Repräsentationen vor, die er später für seine kritisch-dialektische Fassung von Sozialer Arbeit am Gemeinwesen wieder aufnimmt. In einem zweiten Schritt erörtert May (S. 77-100) wie Gemeinwesen mit einer raumtheoretischen Perspektive gefasst werden kann: Er skizziert relationale und absolute Raumverständnisse, stellt anhand der „Scale-Debatte“ die Produktivität räumlicher Maßstabsebenen dar und diskutiert die Frage der räumlich-zeitlichen Dialektik. Ausgehend vom raumkonstituierenden Gegensatzpaar Öffentlichkeit und Privatheit versucht May in Auseinandersetzung mit Autor*innen der Kritischen Theorie, die Figur der gegenhegemonialen Öffentlichkeit zu reaktualisieren. Dies ist für ihn unverzichtbar, um ein „mehrräumiges“, „mehrzeitliches“, materialistisch-dialektisches Verständnis von Gemeinwesen zu begründen (S. 94).
In der zweiten Hälfte der Publikation rückt May die Soziale Arbeit stärker in den Vordergrund. Er formuliert acht Betrachtungen, die ihm für ein dialogisches Konzept „professioneller Sozialer Arbeit zur Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“ wesentlich sind (S. 101-134). Dabei bleibt der Autor seinem Stil treu und argumentiert in reger Auseinandersetzung mit schnellem Takt Autor*innen wie Kant, Hegel, Bloch, Marx oder Negt und Kluge, um sein Verständnis von Subjektivität, Selbstregulierung, Verwirklichung oder Beziehungs- und Anerkennungsverhältnissen zu entwickeln. Über die Kritik an „naiven Begriffen von Bedürfnissen und Wünschen“ (S. 137) in der Sozialen Arbeit, hier explizit rekurrierend auf Konzepte von Ilse Arlt, Wolf-Rainer Wendt, Werner Obrecht oder Silvia Staub-Bernasconi, folgt May mit Lefebvre und Bloch einem dialektischen Verständnis von Bedürfnissen und Wünschen, das er für eine gesellschaftskritische Begründung von Sozialer Arbeit am Gemeinwesen für unumgänglich hält (S. 137-151).
Im Folgenden möchte ich einige Argumente aus dem Schlusskapitel des Buches stark vereinfachend skizzieren (und der Lesbarkeit wegen auf die zahlreichen Literaturbezüge Mays verzichten), in dem May seine fünf „Ansatzpunkte professioneller Sozialer Arbeit zur Förderung einer Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“ bestimmt.
Erstens macht May deutlich, dass es „alles andere als selbstverständlich ist, dass Menschen, die von bestimmten Diskriminierungen und Unterdrückungszusammenhängen betroffen sind, sich im Sinne Arendts (…) zusammenschließen, um Macht aufzubauen und herrschaftliche Verhältnisse zu verändern (…)“ (S. 153). Im Gemeinwesen trifft professionelle Soziale Arbeit also auf Menschen mit ihren Subjektivitäten, die ihre Aneignungsbestrebungen nicht vollziehen konnten und ihnen ihre Verwirklichungsbedingungen herrschaftlich vorenthalten wurden. Soziale Arbeit kann laut May dann einen Beitrag leisten, wenn sie im „Ortshandeln“ Aneignungsakte der Beteiligten fördert, um stets offene und riskante Bildungsprozesse herauszufordern, die die Menschen bei der allgemeinen Suche nach Veränderung – also auch auf anderen gesellschaftlichen Ebenen − stärkt und beteiligt (S. 153-154). Das Dilemma, dass sich Wünsche, Fähigkeiten und Möglichkeiten der Menschen vor Ort durchkreuzen und sich auch heterogene Bedürfnisinterpretationen der Betroffenen zeigen, bedarf seines Erachtens einer besonderen „Methodik professioneller Moderation“, die sich sowohl aus diskursethischen Regeln ableitet, als auch an den Bedingungen und Möglichkeiten der Beteiligten ausrichtet (S. 155).
Bezugnehmend auf Lefebvre macht sich May zweitens für das methodische „Konzept der strategischen Hypothese“ stark, um das ‚nahe Wirkliche zum „äußerst Möglichen“ zu verlängern. Also ausgehend von den konkreten Problemen der Menschen sollen aus dem vorstellbar Möglichen gemeinsam Lösungen gesucht bzw. Perspektiven und politisches Ausdrucksvermögen entwickelt werden, die die allgemeinen Widersprüche oder fernen Blockierungszusammenhänge bearbeitbar machen (S. 159). Dies ist durchaus anknüpfbar an die in der Gemeinwesenarbeit etablierte und auf Robert Jungk zurückgehende Methode der Zukunftswerkstätte, mit der über utopische Bilder konkrete Verwirklichungsperspektiven entwickelt werden können.
Als dritten Ansatzpunkt favorisiert May anknüpfend an Freire das „Prinzip Kodierung/Dekodierung als dialogische Hervorbringung einer thematischen Orientierung“ (S. 162). Ohne hier im Detail auf das methodische Vorgehen eingehen zu können, geht es May darum, einen Erfahrungsraum zu eröffnen und zu teilen, um Blockierungszusammenhänge von Situationen analytisch zu entdecken. Den Unterschied zwischen Sein und Schein kollektiv zu fassen bzw. Menschen zu unterstützen, eine Öffentlichkeit für ihre ‚Repräsentation in der Gesellschaft‘ zu ermöglichen, um diese den machtvollen ‚gesellschaftlichen Repräsentationen‘ entgegen zu stellen, erscheint May bezugnehmend auf Lefebvre als eine wesentliche normative Perspektive Sozialer Arbeit (S. 163). Methodisch verweist er diesbezüglich auch auf Augusto Boals Ansatz des Forumtheaters, „in dem eine Konfliktsituation zunächst als Modellszene mit einer bisher unbefriedigenden ‚Lösung‘ inszeniert“ wird und dann über den Dekodierungsprozess sowohl das ‚objektiv real Mögliche‘ und die ‚Subjektivität des Gemeinwesens‘ als auch alternative Handlungsperspektiven erschlossen werden können (S. 166).
May hält in seinem vierten Ansatzpunkt am Ziel kategorialer Gemeinwesenarbeit fest, um nicht organisierte Menschen mit „gemeinsamen Problem- und Interessen-Lagen in Interaktion miteinander zu bringen“ (S. 167). Mit Blick auf eine von ihm geforderte intersektionalitätssensible, kategoriale Gemeinwesenarbeit fordert er ein, die jeweiligen Bedingungen des begrenzt Möglichen analytisch zu erforschen und dabei zwischen spezifischen Unterdrückungsmechanismen und Ausbeutungsformen zu differenzieren (S. 171). In der Erforschung von Gemeinwesen ist dabei die Analyse der Bedingungen für May ebenso bedeutsam wie das Erfassen von Aussichten als auch der Möglichkeiten, um „Räume der Verwirklichung“ erschließen zu können (S. 172).
Professionelle Soziale Arbeit am Gemeinwesen ist für May eng mit dem Instrument der „Sozialraumentwicklung“ verbunden, worunter er die ersten vier skizzierten Ansatzpunkte fasst und miteinander in Bezug setzt. Als zweites Instrument nennt er die „Sozialraumorganisation“ auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen, die sich dadurch auszeichnet „dass sie institutionelle Arrangements der Sozialadministration mit einzubinden trachtet, um die von ihnen sozialbürokratisch verwalteten Ressourcen für die Sozialraumentwicklung jener Menschen fruchtbar zu machen“ (S. 176).
Mit May können meines Erachtens abschließend zwei zentrale Zielorientierungen der Gemeinwesenarbeit festgehalten werden. Erstens sollen die Professionellen die Perspektivenentwicklung in demokratischen Aushandlungsprozessen fördern und dabei „Gelegenheiten eröffnen“, dass Menschen ihre (durchaus widersprüchlichen) Bedürfnisse interpretieren und perspektivisch kollektivieren. Zweitens kann Gemeinwesenarbeit dazu beitragen, eine Kritik an einer „übergreifenden Sozialraumorganisation“ zu fördern, wenn Verwirklichungshindernisse wie Blockierungen‚ Entfremdungen oder Enteignungen entdeckt werden. Wenn professionell Sozialarbeitende ‚den Sozialraum‘ kooperativ, demokratisch und nicht ausgrenzend organisieren, und Menschen dabei unterstützen, ihre eigenen Räume der Repräsentation mit ihren „eigenen Lebenserfahrungen und Interessen sich anzueignen“, kann sie laut May zur „Verwirklichung menschlichen Gemeinwesens“ beitragen (S. 177).
Die Lektüre ist aufgrund der zahlreichen theoretischen Bezüge voraussetzungsvoll. Michael Mays komplexes Begründungsgeflecht von „Sozialer Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen“ ist ein Schmelztiegel marxistischer, deliberativer und kritisch-theoretischer Argumente, die im Stakkato aufeinanderfolgen. Dennoch zeigen sich m. E. zwei zentrale theoretische Orientierungslinien, an denen sich Mays Diskussion immer wieder bündelt. Aus einer soziologisch-materialistischen Perspektive sind für ihn Lefebvres Konzepte zu Alltag und Raum von besonderer Relevanz (vgl. z. B. Lefebvre 1977, 1991) und strukturieren seine gesellschaftskritische Argumentationslinie. Für fachliche Reflexionen Sozialer Arbeit bezieht May sich immer wieder auf Michael Winklers (1988) „Theorie der Sozialpädagogik“, die einen zentralen Referenzpunkt für seinen Blick auf professionell-reflexive Praxis am Gemeinwesen bildet. Das sind sicher zwei Perspektiven, die für eine weiterführende Theoretisierung von Praxen der Gemeinwesenarbeit und städtischer Raum[re]produktion (vgl. Dirks et al. 2016) für die fachliche Entwicklung von zentraler Bedeutung sein können.
Marc Diebäcker / marc.diebaecker@fh-campuswien.ac.at
Literatur
Boulet, Jean Jaak / Krauss, Ernst Jürgen / Oelschlägel, Dieter (1980): Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip. Eine Grundlegung. Bielefeld: AJZ-Druck und -Verlag.
Dirks, Sebastian / Kessl, Fabian / Lippelt, Maike / Wienand, Carmen (Hg.) (2016): Urbane Raum(re)produktion – Soziale Arbeit macht Stadt. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Fehren, Oliver (2008): Wer organisiert das Gemeinwesen? Zivilgesellschaftliche Perspektiven Sozialer Arbeit als intermediärer Instanz. Berlin: editition stigma.
Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian (2013): Sozialraumarbeit. In: Stövesand, Sabine / Stoik, Christoph / Troxler Ueli (Hg.): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland – Österreich – Schweiz. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 127-140.
Lefevbre, Henri (1991): The Production of Space. Oxford: Blackwell.
Lefevbre, Henri (1977): Kritik des Alltagslebens. Kronberg/Ts: Athenäum-Verlag.
Munsch, Chantal (2005): Die Effektivitätsfalle. Bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwesenarbeit zwischen Ergebnisorientierung und Lebensbewältigung. Hohengehren: Schneider Verlag.
Stövesand, Sabine / Stoik, Christoph / Troxler Ueli (Hg.) (2013): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland – Österreich – Schweiz. Opladen/Berlin/ Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Winkler, Michael (1988): Eine Theorie der Sozialpädagogik. Konzepte der Humanwissenschaften. Stuttgart: Klett-Cotta.