soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 19 (2018) / Rubrik "Thema" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/571/1030.pdf


Christoph Stoik:

Auf einer Spurensuche nach einer emanzipatorischen Gemeinwesenarbeit in Wien

ein Thesenpapier


Seit über 25 Jahren beschäftige ich mich u. a. in mehreren Beiträgen mit der Gemeinwesenarbeit (GWA) in Wien. (vgl. Roessler et al. 2000, Stoik 2005 und 2009) Für die Gestaltung der Praxis der GWA durfte ich mich in zahlreichen Entwicklungen einbringen, 2009 bei der Gestaltung des Konzepts von wohnpartner, beim Mission Statement und Glossar für Soziale Arbeit im öffentlichen Raum (2010), bei der Entwicklung von Konzepten und Beratung von Einrichtungen (u. a. Überarbeitung des Fairplay-Team-Konzeptes 2014/15), bei der Unterstützung verschiedener Projekte u. a. der Stadtteilarbeit der Caritas. (vgl. z. B. Caritas Wien Stadtteilarbeit/FH Campus Wien Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit 2015) In meiner Auseinandersetzung mit GWA habe ich immer ein gesellschaftskritisches emanzipatorisches Konzept vertreten.

Während 2005 mein Beitrag in der Fachzeitschrift „Sozialarbeit in Österreich“ noch „Wien als neues junges Zentrum für Gemeinwesenarbeit?“ lautete (vgl. Stoik 2005), hatte der Beitrag 2009 den Titel „Wiener Gemeinwesenarbeit am Scheideweg. Wiener Ausprägungen zwischen Emanzipation und lokaler Steuerung.“ (vgl. Stoik 2009)

Seit meiner letzten Publikation von 2009, die sich grundlegend mit der Lage der GWA in Wien auseinandergesetzt hat, hat sich die Praxis der GWA in Wien immer wieder verändert. Mit diesem Beitrag möchte ich eine Zwischenbilanz vornehmen. Ich will die Frage stellen, wie sich die Gemeinwesenarbeit in Wien aus der Perspektive einer gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Konzeption zeigt. Basierend auf Beobachtung und Betrachtung der Wiener Praxis formuliere ich in der Folge Thesen und Fragen, die zur kritischen Auseinandersetzung anregen sollen.


1. Kontextualisierung: GWA als gesellschaftskritisches und emanzipatorisches Konzept

Unterschieden werden muss zwischen fachlich begründeten Konzepten der Gemeinwesenarbeit und einer Praxis der GWA, die auch durch politische Programmatiken und Vorstellungen beeinflusst wird.

Zu Ersterem: Je nach theoretischen Bezugsrahmen finden sich unterschiedliche Verständnisse von GWA, von eher konsensorientierten bis zu eher gesellschaftskritischen „konfliktorientierten“ Konzepten (vgl. u. a. „Meilensteine der Gemeinwesenarbeit“ in Stövesand/Stoik/Troexler 2013).

Ich folge hier einem gesellschaftskritischen emanzipatorischen Verständnis der Gemeinwesenarbeit in einer Tradition von Boulet, Krauss und Oelschlägel (1980), Stövesand (2007), Kessl/Reutlinger (2007), May (2017) oder Barta (2017). (vgl. auch Stoik 2013) Gemeinwesenarbeit wird in einer marxistischen, aber auch (post-)strukturalistischen Tradition sowohl als analytisches Instrument als auch als normatives Handlungskonzept verstanden. Ausgehend von einer gesellschaftskritischen Perspektive werden die Konflikte und Interessen von Menschen in deren gesellschaftlichen Organisationsformen (territorial, funktional und kategorial) analysiert. Die normative Ausrichtung der Gemeinwesenarbeit richtet sich auf ein emanzipatorisches Gemeinwesen, in dem Menschen sich einerseits ihren Bedürfnissen entsprechend von gesellschaftlichen Beschränkungen befreien und andererseits lernen, kollektiv und solidarisch zu handeln. Dieses normative Verständnis steht in kapitalistischen Gesellschaften in einem Spannungsfeld.

GWA ist neben diesem fachlichen Verständnis auch ein öffentlich finanziertes Programm, das herrschenden Verhältnissen dienen soll. In der Folge wird sich also die Frage stellen, inwiefern eine emanzipatorische und solidarische Praxis angesichts der öffentlichen Finanzierung möglich ist.


2. Entwicklungen der Gemeinwesenarbeit in Wien

In meinem Beitrag „Wiener Gemeinwesenarbeit am Scheideweg. Wiener Ausprägungen zwischen Emanzipation und lokaler Steuerung.“ (vgl. Stoik 2009) habe ich mich mit 4 Feldern der Gemeinwesenarbeit in Wien beschäftigt, mit „Nachbarschaftszentren und Settlementbewegung“, der „sanften Stadterneuerung und Gebietsbetreuungen“, mit „Mediation und Kontrolle im städtischen Wohnhausbereich“ sowie mit „Nachhaltigkeit und Demokratie – Lokale Agenda 21“. Das „Stadtteilzentrum Bassena“ habe ich damals „als Sonderfall“ eingeordnet. Während ich 2009 „die alternde Gesellschaft“, „Migration und Integration“ sowie „Lokale Ökonomie und Ökonomie des Gemeinwesens“ als weitere Felder erwähnte, fand die Offene Kinder- und Jugendarbeit in diesem Beitrag keine wirkliche Beachtung. Ganz anders im Glossar für Soziale Arbeit im öffentlichen Raum (Krsich/Stoik 2012): Mit den drei professionellen Handlungskonzepten „Offen Kinder- und Jugendarbeit“, „Gemeinwesenarbeit“ und „Aufsuchende Soziale Arbeit“ wurden einerseits „Handlungsfelder“ definiert, andererseits aber auch fachliche Konzepte dargestellt, die quer zu den Handlungsfeldern liegen. Gemeinwesenarbeit wurde dem folgend im Glossar sowohl als Handlungsfeld als auch als Konzept beschrieben, das auch in den Feldern der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und der aufsuchenden Sozialen Arbeit zur Anwendung kommt.

Die Entwicklung der Wiener GWA wird in der Folge ausgehend von Projekten bzw. Einrichtungen gezeichnet (siehe dazu die weiterführenden Internetquellen), die sich mit Menschen in einem spezifischen sozialen Gefüge auseinandersetzen, mit bestehenden Communities, Cliquen und Gruppen und mit der Bildung von sozialen Netzwerken. Die Gemeinwesenarbeit setzt dabei Interventionen im sozialen Raum, zwischen Individuen, sozialen Netzwerken und Gruppen sowie der Gesellschaft. GWA agiert in einem politischen Raum zwischen privaten und öffentlichen Räumen. Allen angeführten Projekten und Einrichtungen ist auch gemein, dass ein mehr oder weniger eingeschränkter, aber doch spezifischer physischer Raumbezug besteht. Gemeinwesenarbeit als Handlungskonzept, das sich weniger auf einen physischen Raum bezieht sowie stärker die Aushandlungs- und Kollektivierungsmethoden bei sozialen Prozessen betont, und damit viele andere Organisationen und Einrichtungen ansprechen würde, wird hier nicht genauer betrachtet. Hier gehe hier ich in der Folge von einem engeren physisch-räumlichen Verständnis aus (zur Definition zu GWA vgl. Stövesand/Stoik 2013: 21-25).


2.1 Handlungsfelder Wohnen, Stadtentwicklung und Stadtteilzentren

2.1.1 Stadterneuerung

Als bedeutendes Feld der Wiener Gemeinwesenarbeit – historisch seit den 1970er-Jahren sowie aktuell – zeigt sich die Programmatik der sanften Stadterneuerung und die Gebietsbetreuungen. Ursprünglich waren die Gebietsbetreuungen in definierten Gebieten der sanften Stadterneuerung tätig, in denen bauliche Sanierungen und räumliche Aufwertungen so stattfinden sollen, dass die Verdrängung von ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen zumindest abgebremst wird. Neben der öffentlichen Förderung von Sanierungen im privaten Althausbereich bieten die Gebietsbetreuungen Beratung an, u. a. in Mietrechtsangelegenheiten. So wurde dies auch immer als Instrument gegen Wohnungsspekulationen verstanden. Im Laufe der Zeit haben sich die Tätigkeitsfelder verschoben bzw. erweitert. V. a. die Aufwertung von öffentlichen Räumen unter Einbeziehung der Wohnbevölkerung, aber auch die Auseinandersetzung mit der Integration von Neubaugebieten in bestehende Stadtgebiete („Stadtteilmanagement“) waren wichtige neuere Aufgabenbereiche der Gebietsbetreuungen. Aktuell sind 5 Gebietsbetreuungsteams in ganz Wien beauftragt worden. Der Beauftragungszeitraum beläuft sich auf 3 Jahre mit max. 3 Jahren Verlängerungsoption. Als Auftragnehmer*innen fungieren Architektur-, Planungs- und Kommunikationsbüros, aber auch Wohlfahrtsträger der Sozialen Arbeit. Die Teams sind interdisziplinär besetzt, die Profession der Sozialen Arbeit ist seit der letzten Ausschreibung 2018 auch verpflichtend einzubinden. Das Stadtteilmanagement „Seestadt“ Aspern, zu einem Teil auch über diese Programmatik finanziert, ist damit beauftragt, den Besiedelungsprozess im größten Wiener Stadtentwicklungsgebiet, in dem bis ca. 2030 um die 20.000 Wohnungen errichtet werden sollen, zu begleiten.


2.1.2 Kommunaler Wohnbau

Ebenfalls dem Ressort „Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung“ der Stadt Wien zugeordnet ist wohnpartner, eine Einrichtung mit über 100 Mitarbeiter*innen, die sich mit Konflikten und Gemeinwesenarbeit im Wiener Gemeindebau auseinandersetzt. Mit 220.000 kommunalen Wohnungen ist Wien einer der größten öffentlichen Wohnungseigentümer*innen (ca. ein Viertel der Wohnungen in Wien). Wohnpartner – eine Einrichtung der Wohnservice Wien GmbH – fokussiert ihre Arbeit mit 9 Teams, an 22 Standorten mit 6 Bewohner*innen- bzw. Stadtteilzentren auf das Zusammenleben im Gemeindebau. In den interdisziplinären und diversitären Teams arbeiten Kolleg*innen mit oder ohne einschlägiger Qualifikation zusammen, u. a. Mediator*innen und Sozialarbeiter*innen.


2.1.3 Geförderter sozialer Wohnbau

Der öffentlich geförderte Wohnbau in Wien hat in den letzten Jahren ein neues Feld für die Gemeinwesenarbeit eröffnet. Durch das Kriterium der sog. „sozialen Nachhaltigkeit“ sollen bei der Errichtung und Gestaltung neuer Wohnräume auch die sozialen Prozesse, die Identifikation mit den Wohnhausanalgen und die Integration zwischen neuen und alten Stadtteilen gezielt und professionell begleitet werden. Diese Form der GWA – obwohl meist durch die Wohnbauförderung öffentlich finanziert – muss in gewisser Hinsicht Marktlogiken folgen. Sie wird von Wohnbauträgern beauftragt – meist nur für ein bis drei Jahre und mit eingeschränkten personellen Ressourcen. Diese Praxis der Gemeinwesenarbeit ist in Wohnhausanlagen und Neubaugebieten angesiedelt, in denen meist Menschen leben, die ökonomisch vergleichsweise abgesichert sind (Eigenmittelanteil als Einstig in den gemeinnützigen Wohnbau).


2.1.4 Stadtentwicklung

Seit 1998 sind Lokale-Agenda-21-Teams im Rahmen der Stadtentwicklung tätig. Der Idee einer „nachhaltigen Stadtentwicklung“ folgend (ausgehend von der UN-Umweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992), wird versucht, die Stadt gemeinsam mit der Stadtbevölkerung zu gestalten. Derzeit sind Teams in 9 Bezirken tätig und Stadtteil-Initiativen werden lokal gefördert (Grätzeloase und „Ella“ bis 2016). Die Agenda-Teams in den Bezirken werden für einen begrenzten Zeitraum (ca. 4 Jahre) beauftragt, in vielen Bezirken werden Agendabüros allerdings über längere Zeiträume finanziert. Als Auftragnehmer*innen fungieren meist Architektur-, Planungs- und Kommunikationsbüros.

Als historisches Feld, das sich schwerer in Finanzierungslogiken einordnen lässt, obwohl auch kommunal finanziert, zeigen sich die 10 Nachbarschaftszentren des Wiener Hilfswerks, die sich als Kommunikations-, Gesundheits- und Sozialzentren in Stadtteilen verstehen.


2.2 Offene Kinder und Jugendarbeit und aufsuchende Soziale Arbeit

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist in Wien sehr ausdifferenziert. „Indoor-Angebote“ (Jugendzentren und -treffs) und „Outdoor-Angebote“ (mobile und aufsuchende Jugendarbeit, sowie sog. Parkbetreuungen) werden in insgesamt 50 Vereinen gefördert. Sozialräumliche Orientierung und Gemeinwesenarbeit stellen fachliche Grundlagen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit dar.

Seit 2010 sind zusätzlich „Fair-Play-Teams“ tätig, die die Offene Kinder- und Jugendarbeit parteilich ergänzen, oder auch stärker vermittelnd zwischen den Nutzer*innen der öffentlichen Räume tätig sein sollen. Für zahlreiche Vereine der Kinder- und Jugendarbeit haben sich mit dieser Förderschiene Aufgaben erweitert, was aber auch zu fachlichen Herausforderungen führte (Frage nach der Parteilichkeit). Derzeit sind Fair-Play-Teams in 16 Bezirken in öffentlichen Räumen unterwegs, insbesondere in Parkanlagen (vgl. dazu u. a. Pollak/Stoik 2016).

Im öffentlichen Raum arbeiten außerdem verschiedene aufsuchende Teams der Wohnungslosenhilfe, der Suchthilfe und der Sozialen Arbeit mit Sexarbeiter*innen mit einem parteilichen Streetwork-Ansatz. Seit 2007 sind ergänzend 3 Teams „sam – Sozial, Sicher, Aktiv und Mobil – Soziale Arbeit im öffentlichen Raum“, sowie sogenannte „Help-U-Teams“ der Suchthilfe Wien insbesondere bei größeren Bahnhöfen und U-Bahnstationen unterwegs. Sie sollen zwischen den unterschiedlichen Nutzer*innen in diesen öffentlichen Räumen vermitteln.


2.3 Integration, Diversität und Gesundheitsförderung

Spezielle Programme fördern Gemeinwesenarbeit und Projekte im öffentlichen Räumen bzw. in Bezug auf „Communites“, wie die Magistratsabteilung für Diversitäts- und Integrationspolitik der Stadt Wien (MA 17) sowie Gesundheitsförderungsprogramme im „kommunalen Setting“. Während die Magistratsabteilung 17 selber Projekte durchführt und Projekte von diversen Trägern unterstützt, fördert die Wiener Gesundheitsförderung (WIG) und der Fonds Gesundes Österreich (FGÖ) Projekte von verschiedenen Organisationen auf Bezirks- und Stadtteilebene.


3. Thesen zur Entwicklung der GWA in Wien

3.1 These 1: Gemeinwesenarbeit wird als fachlicher Ansatz und Instrument zu Bewältigung von Herausforderungen der wachsenden Stadt gesehen.

Angesichts der Herausforderungen, in der wachsenden Stadt leistbaren Wohnraum zu schaffen, mit den verbundenen Konsequenzen von Verdichtung sowie mit der Frage der Gestaltung von innovativen Wohnräumen für unterschiedliche Bedürfnisse, wie verschiedene Generationen, aber auch für von Marginalisierung betroffene Menschen, wird das Potenzial und die fachliche Legitimität dieses Feldes sichtbar. (vgl. dazu auch Diebäcker et al. 2018) Gemeinwesenarbeit scheint ein Handlungsansatz zu sein, der sich mit Fragen der Verdichtung und unterschiedlichen Interessen im Wohnumfeld, der Zunahme von Segregation und Gentrifizierungsprozessen sowie mit den unterschiedlichen Ansprüchen an die öffentlichen Räume auseinandersetzen soll. Dies zeigt sich sowohl bei den Einrichtungen und Projekten, die sich mit den öffentlichen Räumen beschäftigen, als auch im kommunalen und geförderten Wohnungsbau. Im sozialen Wohnbau wird die Zukunft zeigen, welche Bedeutung fachliche Ansprüche von Integration benachteiligter Menschen im geförderten Wohnbau, Partizipation, Emanzipation und Schaffung solidarischer Räume – folgend einer Idee der Gemeinnützigkeit angesichts ökonomischer Rahmenbedingungen der Wohnbauträger – einnehmen wird. Die Soziale Arbeit im öffentlichen Raum hingegen wird gefragt sein, ob sie tatsächlich dazu beitragen kann, dass öffentliche Räume für Menschen erhalten bleiben, die besonders auf diese angewiesen sind.


3.2 These 2: Die Ökonomisierung der Soziale Arbeit erhöht den Druck der Legitimierung und schwächt fachliche Positionen.

Die Ökonomisierung, wie sie bereits in der Wiener Erklärung (vgl. u. a. Bakic/Diebäcker/Hammer 2008) kritisch und umfassend betrachtet wurde, zeigt sich auch im Feld der Gemeinwesenarbeit – allerdings auf unterschiedliche Weise. Die Organisationsformen der GWA in Wien sind vielfältig. Sie reichen von Gesellschaften im Eigentum der Stadt über Vereine und große Wohlfahrtsträger bis zu kleinen privatwirtschaftlichen Firmen.

Unter anderem durch die sog. „soziale Nachhaltigkeit“ im geförderten Wohnbau hat sich die Landschaft der Trägerorganisationen erweitert. So hat die Caritas Wien inzwischen einen Bereich „Gemeinwesenarbeit“ mit über 140 Mitarbeiter*innen, in dem auch ein Arbeitsfeld „Stadtteilarbeit“ etabliert wurde, das in verschiedenen Feldern der Wiener GWA tätig ist. Im Bereich „Gemeinwesenarbeit“ der Caritas Wien sind aber auch Kunst- und Kulturprojekte (z. B. die „Brunnenpassage“), Jugendarbeit („youngCaritas“), Projekte des Freiwilligenengagements und der Pfarrcaritas zu finden. Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass „die Gemeinwesenarbeit“ inzwischen auch bei großen Wohlfahrtsträgern stärker angekommen ist.

Im Feld finden sich also staatliche Organisationen, zivilgesellschaftliche Träger und wirtschaftlich orientierte Unternehmen. Auf der einen Seite stehen Projekte, die nur über wenige Jahre gesicherte finanzielle Mittel haben, um danach um ihr Überleben bangen müssen, wie sich das u. a. in der Gesundheitsförderung zeigt. Auf der anderen Seite hat sich inzwischen so etwas wie ein Markt entwickelt, auf dem unterschiedliche Firmen und Organisationen in Konkurrenz zueinander stehen, wie bei den Gebietsbetreuungen, der Lokalen Agenda 21 und der sozialen Nachhaltigkeit im geförderten Wohnbau. Die Firmen und Organisationen müssen sich fortwährend einem Wettbewerb unter relativ geringer ökonomischer Absicherung stellen.

Wieder anders stellt sich die Situation von Organisationen und Einrichtungen dar, die ohne Ausschreibungen oder Wettbewerbe durch öffentliche Mittel finanziert werden, wie wohnpartner, die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die Fairplay-Teams und „sam – Soziale Arbeit im öffentlichen Raum“. Hier finden sich freilich stabilere Rahmenbedingungen für ein professionelles Arbeiten vor. Aufgrund der Rede über die knappen Kassen kommen diese Organisationen aber immer mehr unter Druck, ihre Arbeit zu legitimieren. Dabei scheinen fachliche Qualitäten und Argumentationen angesichts aufwändiger und ressourcenintensiver Dokumentations- und quantitativer Messsysteme in den Hintergrund zu geraten.


3.3 These 3: GWA wurde politisch als Steuerungs- und Herrschaftsinstrument entdeckt und wird stärker als solches genutzt.

Gepaart mit den ökonomischen Entwicklungen und dem Diskurs der Effizienzsteigerung und Wirkungsorientierung nimmt auch der Druck auf Organisationen und Projekte zu, politische Interessen aufzunehmen. Die Potenziale der Gemeinwesenarbeit, wie das der politischen Bildung und die damit verbundene demokratiepolitische Bedeutung gerät angesichts machtpolitischer Interessen in den Hintergrund. Gemeinwesenarbeit wird verstärkt eingesetzt, um Konflikte zu beruhigen und diesen vorzubeugen. Sie soll sich darum bemühen, dass Interessen auf der horizontalen Ebene ausgehandelt werden und auch dort bleiben. Die GWA wird eher als intermediäre Einheit verstanden, quasi als Scharnier zwischen „der Bevölkerung“ und der kommunalen Politik. GWA wird so mehr und mehr zu einem postpolitischen Instrument der Öffentlichkeits- und Befriedungsarbeit. Nicht nur das Potenzial der politischen Bildung rückt in den Hintergrund, sondern auch das der emanzipatorischen Kollektivierung. GWA soll die Individualisierung nur auf horizontaler Ebene hinterfragen, die Kollektivierung, die politische Selbstvertretung und die Bildung politischer Subjekte stehen regelrecht im Widerspruch zur postpolitischen Beherrschung der Massen.

Diese Entwicklungen des politischen Zugriffs sind in allen Feldern der GWA in Wien beobachtbar – im Gemeindebau, in der Stadterneuerung, in der Entwicklung von „sam – Soziale Arbeit im öffentlichen Raum“, in den Fairplay-Teams und in der Offenen Kinder-und Jugendarbeit. Die Einrichtungen sollen beruhigend auf die Konflikte und Räume einwirken und Eskalationen und negativer Öffentlichkeit entgegenwirken. Freilich scheint es Unterschiede in den verschiedenen Politikfeldern und Organisationen zu geben, die mit starken Fachtraditionen, wie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, ebenso zusammenhängen dürften, wie mit Positionen der politischen Auftraggeber*innen in den jeweiligen Politikfeldern und mit dem Grad der Selbstbestimmung der Träger.


3.4 These 4: Die Interdisziplinarität der Gemeinwesenarbeit in Wien birgt sowohl Potenziale als auch Herausforderungen.

So wie sich die Organisationen unterschiedlich zeigen, so sind auch die Professionen vielfältig. Neben Planungsprofessionen und der Sozialen Arbeit kommen die Mitarbeiter*innen auch aus anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie der Soziologie, den Politikwissenschaften oder den Bildungswissenschaften, aber auch den Rechtswissenschaften, der Psychologie etc. Insbesondere wohnpartner und die Offene Kinder- und Jugendarbeit stehen auch Mitarbeiter*innen offen, die über keine einschlägige fachliche Ausbildung verfügen. So stellt sich die GWA in Wien nicht nur als ein Feld der interdisziplinären Potenziale dar, sondern es zeigen sich auch Herausforderungen für die fachlichen Ausrichtungen in den Einrichtungen. Es stellt sich die Frage, welchen gesellschaftsanalytischen und normativen Theorien die Beschäftigten und die jeweiligen Organisationen folgen, wie diese diskutiert und geklärt werden.


3.5 These 5: Der schwache fachliche Diskurs ist eine Gefahr für eine fachlich orientierte Gemeinwesenarbeit.

In Folge des politischen und ökonomischen Drucks findet der fachliche Diskurs zu Gemeinwesenarbeit, wenn überhaupt, relativ kontrolliert innerhalb der Organisationen statt – im Gegensatz zu den 1990er-Jahren, in denen es eine trägerübergreifende fachliche Vernetzung und Auseinandersetzung selbstorganisiert gab („Wiener Vernetzungsfrühstück für Gemeinwesenarbeit“). Aufgrund der öffentlichen Ansprüche und des relativ schwachen fachlichen Diskurses können sich Aufgaben und Aufträge je nach politischen Interessen relativ stark verschieben. Auch weil ein ergebnisoffener emanzipatorischer Zugang gegenüber politisch Verantwortlichen nicht leicht zu argumentieren ist, kann die GWA schnell zum „Spielball“ von Interessen werden. Sie wird dort eingesetzt, wo es politische Interessen gibt. Bei wohnpartner ist beispielsweise aktuell eine Verschiebung hin zu eher serviceorientierter Konfliktbearbeitung zu beobachten.


4. Schluss

Während sich die Gemeinwesenarbeit in Wien in den letzten Jahren – insbesondere bei der Betrachtung von eingesetzten Ressourcen – stark quantitativ entwickelt hat, scheint sie sich fachlich nur eingeschränkt weiter zu entwickeln. Die Entwicklungen sind widersprüchlich: Einerseits sind fachliche Entwicklungen bei der Betrachtung von einzelnen Einrichtungskonzepten erkennbar, andererseits nehmen die politische Instrumentalisierung und die Ökonomisierung zu. Angesichts dieses Wandels ist eine fachlich begründete, emanzipatorische GWA gefährdet, die darauf ausgerichtet ist, Menschen dabei zu unterstützen, im Rahmen eines politischen Bildungsprogramms ihre Interessen zu formulieren, zu organisieren und öffentlich zu vertreten. Die Praxis der Gemeinwesenarbeit in Wien scheint eher systemerhaltend und konsensual ausgeprägt zu sein, wiewohl in einzelnen Feldern, Organisationen und Teams emanzipatorische Ansprüche und Praxen zu finden sein werden. Es stellt sich die Frage, wie diese fachlichen Ansprüche wieder gestärkt werden können. Selbstkritisch betrachtet, tut sich auch die Frage auf, ob es Sinn machen würde, Gemeinwesenarbeit einmal weniger aus der Perspektive der öffentlichen Förderungen und Finanzierungen und mehr aus einer zivilgesellschaftlichen bzw. aktivistischen Perspektive zu denken – ohne aber fachliche Ansprüche an öffentlich finanzierter GWA aufzugeben.


Literatur

Bakic, Josef / Diebäcker, Marc / Hammer, Elisabeth (2008): Ökonomisierung Sozialer Arbeit in Österreich. In: Sozial Extra, 1-2/2008, S. 52-55.

Barta, Sarah (2017): „Gemeinwesen“ – ein Leitbegriff der Sozialen Arbeit? Eine kritische Auseinandersetzung von der staatsphilosophischen bis zur gesellschaftskritischen Perspektive. In: soziales_kapital, 17 (2017), http://soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/507/912 (09.02.2018).

Boulet, Jaak / Krauss, E. Jürgen / Oelschlägel, Dieter (1980): Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip. Eine Grundlegung. Bielefeld: AJZ-Druck und -Verlag.

Caritas Wien Stadtteilarbeit / FH Campus Wien Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit (2015): Quartiersmanagement Gemeinschaftliches Wohnen in der Oase 22. Abschluss- und Evaluierungsbericht. Wien, https://www.caritas-wien.at/hilfe-angebote/zusammenleben/stadtteilarbeit/abgeschlossene-projekte/gemeinschaftliches-wohnen-in-der-oase-22/ (09.02.2018).

Diebäcker, Marc / Glogar, Isabel / Stoik, Christoph / Bengesser, Andreas / Eder, Angelika / Putz, Peter / Simionovici, Ana-Maria / Wellenzohn, Markus / Boldrino, Susanna / Zeiller-Vesely, Petra / Kloser, Katharina (Hg.) (2018): Urban Transformations and Qualities of Life in the Growing City: Book of Abstracts. 1st Ed., 1 Vol., WissensWelten 1. Wien: University of Applied Sciences FH Campus, Academic Institutional Development.

Kessl, Fabian / Reutlinger, Christian (2007): Sozialraum. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag.

Krisch, Richard / Stoik, Christoph (2012): Soziale Arbeit im öffentlichen Raum – Glossar. In: sozialraum.de, 4, 2/2012, http://www.sozialraum.de/soziale-arbeit-im-oeffentlichen-raum-glossar.php (10.12.2012).

May, Michael (2017): Soziale Arbeit als Arbeit am Gemeinwesen. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich.

Pollak, Julia / Stoik, Christoph (2016): FAIR-PLAY-TEAM – Soziale Arbeit gegen die ordnungspolitische Transformation von öffentlichen Räumen in Wien. Eine praxisbezogene kritische Reflexion. In: sozialraum.de, 8, 1/2016, http://3.www.sozialraum.de/fair-play-team.php (12.07.2017).

Roessler, Marianne / Schnee, Renate / Spitzy, Christine / Stoik, Christoph (Hg.) (2000): Gemeinwesenarbeit. Bürgerschaftliches Engagement. Eine Abgrenzung. Wien: ÖGB-Verlag.

Stoik, Christoph (2013): Gemeinwesen und Parteilichkeit. In: Bakic, Josef / Diebäcker, Marc / Hammer, Elisabeth (Hg.): Aktuelle Leitbegriffe der Sozialen Arbeit. Ein kritisches Handbuch. Band 2. Wien: Löcker.

Stoik, Christoph (2009): Wiener Gemeinwesenarbeit am Scheideweg. Wiener Ausprägungen zwischen Emanzipation und lokaler Steuerung. In: Sing, Eva / Heimgartner, Arno (Hg.): Gemeinwesenarbeit in Österreich. Graz: Leykam.

Stoik, Christoph (2005): Wien als neues junges Zentrum für Gemeinwesenarbeit? Eine Annäherung über die Wiener Praxis. In: SiO – Sozialarbeit in Österreich, Nr. 2/05, S. 8-13.

Stövesand, Sabine (2007): Mit Sicherheit Sozialarbeit! Gemeinwesenarbeit als innovativer Ansatz zur Prävention und Reduktion der Gewalt im Geschlechterverhältnis. Münster: LIT-Verlag.

Stövesand, Sabine / Stoik, Christoph (2013): Gemeinwesenarbeit als Konzept Sozialer Arbeit – eine Einleitung. In: Stövesand, Sabine / Stoik, Christoph / Troxler, Ueli (Hg.): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland – Schweiz – Österreich. Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit. Band 4, Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 14-36.

Stövesand, Sabine / Stoik Christoph / Troxler Ueli (Hg.) (2013): Handbuch Gemeinwesenarbeit. Traditionen und Positionen, Konzepte und Methoden. Deutschland – Schweiz – Österreich. Theorie, Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit. Band 4, Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich.


Weiterführende Internetquellen

Caritas Wien Stadtteilarbeit: https://www.caritas-wien.at/hilfe-angebote/zusammenleben/stadtteilarbeit/

Fair-Play-Teams: https://www.wien.gv.at/freizeit/bildungjugend/fair-play/

Fonds Gesundes Österreich: http://fgoe.org/

Gebietsbetreuungen für Stadterneuerung: http://www.gbstern.at/

Lokale Agende 21: https://www.la21wien.at/

Magistratsabteilung für Integration und Diversität der Stadt Wien (MA 17): https://www.wien.gv.at/kontakte/ma17/

Mobile Soziale Arbeit: http://www.suchthilfe.wien/mobile-soziale-arbeit/

Offene Kinder und Jugendarbeit: https://www.wien.gv.at/freizeit/bildungjugend/jugend/

Stadtteilmanagement Seestadt Aspern: https://www.aspern-seestadt.at/lebenswelt/nachbarschaft/stadtteilmanagement

Wiener Gesundheitsförderung: http://www.wig.or.at/

Wiener Hilfswerk: http://www.nachbarschaftszentren.at/

wohnbund:consult: http://www.wohnbund.at/wp/category/projekte/

wohnpartner: https://www.wohnpartner-wien.at/


Über den Autor

Christoph Stoik, MA
christoph.stoik@fh-campuswien.ac.at

Sozialarbeiter, Studium des Community Developments, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am FH Campus Wien im Master-Studiengang „Sozialraumorientierte und Klinische Soziale Arbeit“ und im Bachelor-Studiengang „Soziale Arbeit“.

Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Gemeinwesenarbeit, Sozialraumarbeit und -orientierung, Sozialraumanalyse, Soziale Arbeit im öffentlichen Raum, Soziale Arbeit in der Stadt- und Regionalentwicklung, Partizipation, Beteiligung Benachteiligter, Soziales und Stadtplanung, Theorien und professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit.