soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 20 (2018) / Rubrik "Editorial" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/579/1041.pdf
Peter Pantuček-Eisenbacher:
In diesem heißen Sommer wurde Maria Dorothea Simon 100 Jahre alt. Aus diesem Anlass durfte ich sie in ihrem Döblinger Haus besuchen, das von einem herrlich dicht bewachsenen Garten umgeben ist. Der Rollator hilft nicht nur beim Gehen, sondern dient auch als Servierwagerl. Auch Menschen, die nicht gehbehindert sind, sollten sich sowas anschaffen, meint sie. Sehr praktisch. Das erinnert mich an den früh verstorbenen Hans Hovorka, Designer, Soziologe und brillanter Lehrer der Sozialarbeit. Er war einer der Gründer des Instituts für Soziales Design. Was Menschen mit Beeinträchtigungen hilft, erleichtert auch Menschen ohne Beeinträchtigungen das Leben, so war sein Credo.
In den 1970er-Jahren war Maria Dorothea Simon „meine“ Direktorin an der Lehranstalt der Stadt Wien für gehobene Sozialberufe. Eine beeindruckende Persönlichkeit, die andere beeindruckende Persönlichkeiten als Lehrende geholt hatte. Ihr Wunsch, das Sozialarbeitsstudium, damals kaum der „Fürsorgeschule“ entwachsen, zumindest 3-jährig zu machen, wurde erst mehr als ein Jahrzehnt später verwirklicht. Ich profitierte damals von einer später so nicht mehr gegebenen Durchlässigkeit – schließlich hatte ich keine Matura vorzuweisen.
Simon hatte, als sie 1970 die Leitung der Schule übernahm, bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Geboren 1918 als Tochter der Wiener böhmisch-jüdischen Familie Pollatschek, besuchte sie zuerst die Volksschule Börsegasse, dann das Mädchenrealgymnasium in der Lange Gasse. Sie war 15 Jahre alt als 1933 die demokratische Verfassung außer Kraft gesetzt und das austrofaschistische Regime errichtet wurde. Maria Dorothea Pollatschek machte eine Ausbildung als Kindergärtnerin, die sie 1936 abschloss – aber Arbeit konnte sie in Wien nicht finden. Als Staatsbürgerin der Tschechoslowakei konnte sie nach Prag gehen und dort die Masaryk-Schule für Sozial- und Gesundheitsfürsorge besuchen. Im Gegensatz zu Österreich war die Tschechoslowakei ein demokratisches Land. Die Studentin engagierte sich in der Sozialistischen Jugend. Aber die Bedrohung wuchs auch dort. Das unter dem Druck Hitlers zustande gekommene Münchner Abkommen lieferte das Land dem aggressiven nationalsozialistischen Deutschland aus. Dorli Simon (damals Pollatschek) blieb nach einem Verwandtenbesuch in London, ihr Vater folgte. Die Mutter und die Großmutter konnten sich nicht zu einer Flucht entschließen. Beide wurden von den Nazis in einem Konzentrationslager ermordet.
In England setzte Maria Dorothea Simon ihr Sozialarbeitsstudium an der Oxford University fort. Sie arbeitete bei Anna Freud, die ein Heim für kriegsbeschädigte Kinder leitete, meldete sich freiwillig zur britischen Armee, in der sie pädagogisch tätig war. Nebenbei studierte sie an der Londoner Universität Economics and Political Science.
1943 traf sie Josef Simon wieder, den sie als Aktivist der damals schon illegalen Sozialistischen Jugend in Wien kennengelernt hatte. Josef Simon war inzwischen amerikanischer Soldat, er hatte in den letzten Jahren in vielfältiger Weise für den Widerstand gegen das austrofaschistische und später das Naziregime gearbeitet. Bei einer Silvesterparty der Sozialwissenschafterin Marie Jahoda – Mitautorin der epochalen Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ – beschlossen Josef Simon und Maria Dorothea Pollatschek zu heiraten. Aus dieser Ehe sollten schließlich drei Söhne und eine Tochter hervorgehen.
Maria Dorothea Simon kehrte mit ihrem Mann 1947 nach Wien zurück. Hier arbeitete sie zuerst für die amerikanische Besatzungsmacht als Labor Advisor, studierte Psychologie und Anthropologie, machte eine psychoanalytische Ausbildung und wurde 1953 Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Von 1957 bis 1961 war sie Professorin an der Universität in Little Rock, Arkansas, spezialisiert auf die Behandlung von Kindern. In Österreich wollte sie sich nicht mehr parteipolitisch engagieren. Der hiesigen Normalität, dass Posten nicht aufgrund von Leistung, sondern nach Parteibuch vergeben werden, wollte sie sich nicht beugen. Letztlich tat sie es doch und trat dem Bund Sozialistischer Akademiker bei. Am Institut für Höhere Studien bekam sie schließlich eine Forschungsstelle. Sie machte eine Studie zur Lage der Sozialarbeit in Österreich und eine zu den Lebensbedingungen unverheirateter junger Mütter. 1970 übernahm sie die Leitung der Lehranstalt der Stadt Wien für gehobene Sozialberufe.
Aus der damals noch recht farblosen Fürsorgeschule machte sie eine anregende und aufregende Lehranstalt, in der viel diskutiert und ein modernes Verständnis von Sozialarbeit gelehrt wurde – inspiriert durch ein humanistisch orientiertes Case Work. Die AbsolventInnen trugen wesentlich zur Professionalisierung der Sozialarbeit in Österreich bei. Sie hatten ein klientInnenorientiertes Berufsverständnis erworben.
Wie es Maria Dorothea Simon gelungen ist, 100 Jahre alt zu werden? Die Gene und Zufall. Das ist keine große Leistung, sagt sie. Jetzt, wenn ich mit ihr spreche, ist sie weniger daran interessiert, ihre eigenen Botschaften anzubringen. Es interessiert sie, was ich jetzt so mache. Privatuniversität und ausgerechnet Psychotherapie. Sie halte nicht viel von Psychotherapie, sagt sie. Wir tauschen uns aus über Erfahrungen. Zum Beispiel auch über Psychotherapie, die nicht hilft. Über psychisch kranke Verwandte, ihre und meine. Dass einer ihrer Söhne einst die Diagnose Schizophrenie erhalten hat, war Anlass für eine ihrer Großtaten: Nachdem sie mit 65 Jahren als Direktorin in die Pension geschickt wurde, gründete sie die Vereinigung der Angehörigen Psychisch Erkrankter (HPE). Das war zu einer Zeit, als weit verbreitete Lehrmeinung war, dass die Kommunikation der Eltern die Ursache für Schizophrenie sei. In der Folge wurden Angehörige nicht nur als Störfaktoren bei der Therapie – wie damals in der Medizin noch allgemein üblich – gesehen, sondern auch als die eigentlich Verantwortlichen für das Leid der PatientInnen. HPE hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich diese Sicht verändert hat, und dass die Bedingungen für psychisch Kranke und deren Angehörige besser wurden. HPE gibt es immer noch und es ist noch viel zu tun. Simon ist zu Recht stolz darauf, hier einen wichtigen Anfang gemacht zu haben. Mich beeindruckt der Seitenwechsel, den sie vorgenommen hat, und der in meinem Verständnis von Sozialarbeit durchaus naheliegt: Jener von der Seite der Profis zu jener der Betroffenen-Selbstorganisation.
Maria Dorothea Simon ärgert sich, dass in einem Artikel in Die Presse ihr Direktorat an der Lehranstalt für gehobene Sozialberufe mit den Missständen in den Heimen in Verbindung gebracht wird, gegen die sie angekämpft habe. Das sei nicht von der Sozialarbeit zu verantworten gewesen. Es sei allerdings ein Fehler in Österreich gewesen, eine so scharfe Grenze zwischen der Sozialpädagogik und der Sozialarbeit zu ziehen. Sie bedauert, dass in Österreich der erste akademische Abschluss nicht Bachelor of Social Work heißen darf, sondern Bachelor of Arts in Social Sciences. Sozialarbeit sei nicht Sozialwissenschaft, das sei falsch und irreführend. Wie sie auch nicht Pädagogik, nicht Psychotherapie sei.
Ein langjähriges Lieblingsthema von ihr sind die ihrer Meinung nach zweifelhaften Auswahlverfahren für das Sozialarbeitsstudium. Sie plädiert für ein Experiment: Man möge eine Gruppe nach einem der üblichen Testverfahren auswählen, eine Kontrollgruppe nach einer Zufallsauswahl unter allen BewerberInnen. Sie ist überzeugt, dass die Kontrollgruppe keine schlechteren Studienleistungen bringen würde. Außerdem habe sie die Erfahrung gemacht, dass die Studienleistungen nur gering mit dem beruflichen Erfolg korrelieren. Sie hätte ausgezeichnete Studierende gehabt, die sich in der beruflichen Realität kaum zurechtgefunden hätten – und andererseits Studierende, die das Studium nur so gerade geschafft hätten und dann ausgezeichnete SozialarbeiterInnen geworden wären.
Welchen Einfluss hatte Maria Dorothea Simon auf die Entwicklung der Sozialarbeit in Österreich? Herausragend waren ihre Lehrtätigkeit und ihr Stil der Führung der Lehranstalt der Stadt Wien für gehobene Sozialberufe. In diesen Jahren legte sie die Grundlage für eine moderne und professionalisierte Sozialarbeit, für ein berufliches Verständnis, das an internationalen Vorbildern orientiert ist und aus der Kleingeistigkeit eines administrativ geprägten Fürsorgeverständnisses ausbricht. Rationalität und Humanismus sind dabei die Grundpfeiler. Vor allem ihre Lehr- und Leitungstätigkeit hat eine Generation, der ich auch angehöre, geprägt.
Maria Dorothea Simon hat sich den bei weitem größten Teil ihres Lebens mit Sozialarbeit beschäftigt. Eine führende Position in der österreichischen Sozialarbeit hatte sie leider nur eine vergleichsweise kurze Zeit. Ihre Wirkung weist aber weit über die Periode der Leitung der Lehranstalt der Stadt Wien für gehobene Sozialberufe hinaus. Von ihr zu lernen ist weiterhin möglich.
Abbildung 1: Maria Dorothea Simon an ihrem 100. Geburtstag mit der Urenkelin. (Quelle: Archiv M.D. Simon.)
Ausgewählte Publikationen
Faberow, Norman/Simon, Maria (1969): Suicides in Los Angeles and Vienna: An Intercultural Study of Two Cities. In: Public Health Reports. 84/5. S. 389–403.
Simon, Maria (2002): Maria Dorothea Simon. In: Heitkamp, Hermann/Plewa, Alfred (Hg.): Soziale Arbeit in Selbstzeugnissen. Band 2. Freiburg i. Breisgau: Lambertus. S. 225–272.
Simon, Maria (1997): The Relatives of the Mentally Ill’s Perspective on Quality of Life. Chichester/NY: John Wiley.
Simon, Maria (1995): Von Akademie zu Akademie – zur historischen Entwicklung der Sozialarbeiterausbildung am Beispiel der Schule der Stadt Wien. In: Wilfing/Heinz (Hg.): Konturen der Sozialarbeit – Identität und Professionalisierung. Vienna: WUV. S. 15–24.
Simon, Maria/Tajfel, Henri/Johnson, Nicholas (1967): Wie erkennt man einen Österreicher? Eine Untersuchung über Vorurteile bei Wiener Kindern. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 3/1967. S. 511–537.
Über den Autor
Prof. Dr. Peter Pantuček-Eisenbacher
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