soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 20 (2018) / Rubrik "Thema" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/580/1043.pdf
Barbara Bühler:
1. Was heißt hier „Arm“? Armut und ihre Definition/en
Armut und Reichtum: ein Gegensatzpaar zu dem jede_r Leser_in ihre_seine eigenen Bilder vor Augen hat. Der Begriff Armut verweist auf einen Mangel, etwas ist zu wenig und damit referiert der Begriff gleichzeitig auf eine Norm, die wir als Normalität begreifen und die damit einen Referenzwert darstellt.
Die Sozialstatistik liefert zahlreiche Referenzen, um die Begriffe Armut und Reichtum zu fassen: Die Armutsgefährdungsschwelle, das Durchschnittseinkommen, das Referenzbudget, die Mindeststandards, die einer Person zustehen, die Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung bezieht, und viele mehr. All diese Referenzwerte geben uns Hinweise und dienen als Wegmarker, um die Begriffe Armut und Reichtum zu fassen. Keiner dieser Werte kann jedoch für sich genommen wirklich erklären was Armut oder Reichtum bedeuten, denn sowohl Armut als auch Reichtum sind Begriffe, die in Relation gedacht werden müssen. „Armut ist ein relatives Phänomen“, beschreibt es Roland Verwiebe (2011: 5), oder „Armut setzt sich stets ins Verhältnis“ so Martin Schenk (2017: 63) in Genug gejammert.
Die Armutsgefährdungsschwelle mag eine Zahl, gleichsam eine „Marke“ liefern, die es ermöglicht, Personen, deren Einkommen darunter liegt, als arm zu definieren. Diese Definition wird jedoch dem subjektiven Erleben der betroffenen Person mitunter nicht gerecht. Armut, aber auch Reichtum ist immer eine Bestimmung in Relation: zum eigenen sozialen Umfeld, zum wohlfahrtsstaatlichen Gefüge, zu dem was eine bestimmte Gruppe als sozial akzeptabel interpretiert, …
Auf die Relation des Armutsbegriffs verweist auch Georg Simmel in seinem Beitrag „Der Arme“: „So ist der Arme zwar gewissermaßen außerhalb der Gruppe gestellt, aber dieses Außerhalb ist nur eine besondere Art der Wechselwirkung mit ihr, die ihn in eine Einheit mit dem Ganzen in dessen weitestem Sinne verwebt“ (Simmel 2013: 523). Auch die Armutsgefährdungsschwelle, ein wichtiger Referenzwert, um Armut statistisch zu erfassen, ist ein relationaler Wert. Armutsgefährdet ist diesem Wert entsprechend, wer über weniger als 60 % des Medianeinkommens verfügt.
In Österreich lag die Armutsgefährdungsschwelle laut Statistik Austria für einen Einpersonenhaushalt im Jahr 2016 bei 1.185 Euro (12-mal jährlich).1 (vgl. Statistik Austria 2017). Der Median des monatlichen Nettoeinkommens unselbständig Beschäftigter (Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte zusammen betrachtet) lag 2016 laut Statistik Austria bei 1.974 Euro netto inklusive anteiligem Urlaubs- und Weihnachtsgeld (vgl. Statistik Austria 2017). Das Referenzbudget, welches notwendige, monatliche Haushaltsausgaben erfasst und das jährlich vom Dachverband der staatlich anerkannten Schuldnerberatungen errechnet wird, lag im Jahr 2016 für einen Einpersonenhaushalt bei 1.379 Euro und damit deutlich über der Armutsgefährdungsschwelle von 1.185 Euro im Jahr 2016. Deutlich unter dem im Referenzbudget errechneten Wert und auch deutlich unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt der Ausgleichszulagenrichtsatz, also jener Wert, der umgangssprachlich häufig als Mindestpension bezeichnet wird. Dieser lag im Jahr 2016 für eine alleinstehende Person bei 882,78 Euro (vgl. Pensionsversicherung, Leistungsinformation 2016) und auch der in der Bedarfsorientierten Mindestsicherung als Mindeststandard für eine alleinstehende Person (die entsprechende Mietkosten nachweisen kann) definierte Betrag von 838 Euro (vgl. AMS 2016) lag 2016 unter der Armutsgefährdungsschwelle.
Der Ausgleichszulagenrichtsatz und der Mindeststandard in der Mindestsicherung sind Werte, mit denen Sozialarbeiter_innen, je nachdem in welchem Bereich der Sozialen Arbeit sie tätig sind, häufig im beruflichen Alltag konfrontiert sind. Beides, Werte und Richtsätze, sind für das Leben und die Lebensqualität vieler Klient_innen von entscheidender Bedeutung, entscheidet die Höhe dieses Richtsatzes doch darüber, was leistbar ist und was nicht, ob die Stromrechnung beglichen und die Miete bezahlt werden kann. Beide Werte, der Ausgleichszulagenrichtsatz und auch der Mindeststandard in der Mindestsicherung, orientieren sich jedoch nicht an der Armutsgrenze und auch nicht am Referenzbudget. Referenzwerte wie der Ausgleichszulagenrichtsatz oder der Mindeststandard der Bedarfsorientierten Mindestsicherung werden politisch verhandelt, diskutiert und festgelegt. Die Verhandlung, Diskussion und Festlegung erfolgt im Rahmen eines sozialstaatlichen Gefüges, dessen Überschneidung zur Sozialen Arbeit im Folgenden näher erläutert wird.
2. Soziale Arbeit im Wohlfahrtsstaat
Soziale Arbeit wie Sie heute in Österreich strukturiert, organisiert und gelebt wird, ist unabhängig vom Wohlfahrtsstaat nicht denkbar. Gleichzeitig greift der Wohlfahrtsstaat auf die Leistungen professionell erbrachter Sozialer Arbeit zurück, um bestimmte Personengruppen, die von anderen Formen sozialstaatlicher Sicherung nicht oder nur unzureichend umfasst und versorgt werden, zu erreichen. Bommes und Scherr sprechen in diesem Zusammenhang von Sozialer Arbeit als „Zweitsicherung“, die dann einsetzt, wenn „generalisierte wohlfahrtsstaatliche Absicherungen entweder nicht oder nicht mehr greifen“. (Bommes/Scherr 2012: 184–185) Maja Heiner spricht vom „sozialstaatlich nachrangigen Einsatz Sozialer Arbeit“. (Heiner 2010: 64) Ein anschauliches Beispiel für diese „Zweitsicherung“ bzw. den „sozialstaatlich nachrangigen Einsatz“ Sozialer Arbeit ist das Bemühen von Sozialarbeiter_innen um die finanzielle Grundsicherung jener Personen, die aus Erwerbseinkommen oder sonstigen finanziellen Bezügen nicht genügend finanzielle Mittel erhalten, um ihre existenziellen Bedürfnisse zu decken.
Soziale Arbeit, wie sie in Österreich und anderen in Hinblick auf die Struktur des Wohlfahrts- oder Sozialstaats ähnlichen Staaten überwiegend organisiert ist2, ist demnach in hohem Maße abhängig von der jeweiligen (Sozial-)Gesetzgebung eines Landes und damit vom wohlfahrtsstaatlichen Gefüge (vgl. Ramon/Zavrisek 2009: 1, Scherr 2014: 25, Böhnisch/Schröer 2012: 55). Deutlich wird dies im sozialarbeiterischen Alltag vor allem dann, wenn für bestimmte Personengruppen staatliche Leistungen nicht mehr im Sinne eines Rechtsanspruchs geltend gemacht werden können. Ein Beispiel dafür sind subsidiär Schutzberechtigte, die in Niederösterreich seit 2016 keinen Rechtsanspruch mehr auf Leistungen der Bedarfsorientierten Mindestsicherung haben. Die Möglichkeiten der Unterstützung in Hinblick auf die materielle Existenzsicherung sind damit massiv eingeschränkt.
Die Tatsache, dass Soziale Arbeit nicht von jenen finanziert wird, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, schwächt die Position der Empfänger_innen (Hirschfeld 2009: 70) und auch die Gestaltungsmöglichkeiten der professionell in der Sozialen Arbeit tätigen Personen. Die Leistungen Sozialer Arbeit werden nämlich im österreichischen wohlfahrtsstaatlichen System zu einem großen Anteil von der „öffentlichen Hand beauftragt und daher überwiegend durch Leistungsentgelte und Subventionen von öffentlichen Trägern finanziert“ (Dimmel/Schmid 2013: 61). Jene, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen, sind meist in geringem Ausmaß oder nur indirekt (über die Möglichkeit der Wahl politischer Vertreter_innen) eingebunden.
In der Literatur wird das Auseinanderfallen von Auftraggeber_in und Empfänger_in der Leistungen der Sozialen Arbeit als „Finanzierungsdreieck“ bezeichnet (Mayrhofer/Raab-Steiner 2007: 38). Soziale Arbeit ist, wenn sie staatlich finanziert ist, in Hinblick auf die Definition des Angebots und der Zielgruppe an die Vereinbarung mit dem Fördergeber gebunden: „Welchen Zielgruppen wie viel bzw. wie lange geholfen wird, entscheiden weitgehend der Gesetzgeber und die ausführende staatliche Verwaltung“ (Heiner 2010: 72–73). Die Soziale Arbeit wird dabei – abhängig von Möglichkeiten der Einflussnahme des Trägers – ihre Expertise und fachlichen Kriterien einfließen lassen, möglicherweise durch einen Mix an unterschiedlichen Finanzierungsformen, und so die Abhängigkeit vom Fördergeber unmittelbar oder abgeschwächt erleben. Fakt bleibt jedoch, dass die staatliche Einflussnahme auf Dienstleistungen Sozialer Arbeit aktuell groß ist und in absehbarer Zeit vermutlich auch bleiben wird.
Die Möglichkeiten für Nutzer_innen, ihre Vorstellungen und Wünsche in die Gestaltung von Angeboten der Sozialen Arbeit einzubringen, sind trotz unterschiedlich ausgeprägter Formen der Einbeziehung, beispielsweise durch Kund_innenbefragung etc., schwach (vgl. Mayrhofer/Raab-Steiner 2007: 38). Die Nutzer_innen Sozialer Arbeit haben häufig andere Interessen als jene, die Soziale Arbeit finanzieren und beauftragen. Pointiert ausgedrückt „Hilfe wird nicht zur Befriedigung von Bedürfnissen veranlasst, wie sie Adressaten definieren, sondern mit dem Ziel, zu Anpassungsleistungen an die Bedingungen der modernen Gesellschaft zu befähigen und zu motivieren“ (Bommes/Scherr 2012: 187). Wie diese „Bedingungen der modernen Gesellschaft“ beschaffen sind, das hängt wiederum eng mit dem Verständnis von Wohlfahrt zusammen, das in einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess von Zivilgesellschaft, NGOs, politischen Interessensgruppen, … gemeinsam definiert wird. Konkret bedeutet das:
Die Entscheidungen über Hilfsbedürftigkeit und die Vergabe finanzieller Mittel für bestimmte Gruppen und Angebote werden verhandelt, diskutiert, festgelegt und wirken sich dann unmittelbar auf die Praxis der Sozialen Arbeit aus. Soziale Arbeit ist in diesen Aushandlungsprozessen häufig in einem strukturellen Dilemma zwischen Parteilichkeit für ihr Klientel, den Interessen der jeweiligen (Träger-)Organisation, dem eigenen Professionsverständnis und der Abhängigkeit vom Fördergeber gefangen. Die Voice-Funktion der Sozialen Arbeit, also das Eintreten der Sozialen Arbeit als Stimme für die Anliegen einer bestimmten Gruppe (vgl. Zauner et al. 2006: 45), wird unter diesen Rahmenbedingungen tendenziell geschwächt. Dabei ist die Wahrnehmung der Voice-Funktion, also das Ansetzen „an den Strukturen, die die Problemlagen hervorrufen“ und der Versuch, „mittels Aktivitäten“ gesellschaftlich zu beeinflussen (vgl. Zauner et al. 2006: 45), keine subjektive Entscheidung. Sie ist aus dem Professionsverständnis der Sozialen Arbeit heraus untrennbar mit dem Auftrag Sozialer Arbeit verbunden ist. Soziale Arbeit ist hier gefordert: sich zu positionieren und aus dem fachlichen Verständnis heraus Problemlagen aufzuzeigen und Lösungen zu erarbeiten.
Für die Gründung des NÖ Armutsnetzwerks, einem überorganisationalen Netzwerk aus Organisationen und Personen, war der Wunsch danach, die Voice-Funktion Sozialer Arbeit wahrzunehmen, eine starke Motivation. Für die Autorin des vorliegenden Artikels, als derzeitiger Obfrau und Koordinatorin des NÖ Armutsnetzwerks, ist es dies nach wie vor. Das Ziel des NÖ Armutsnetzwerks ist, „Strukturen, welche zu Armut und sozialer Ausgrenzung führen“ zu analysieren und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten sowie „Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger_innen zu sensibilisieren“ (vgl. NÖ Armutsnetzwerk o.J.). Diese Ziele spiegeln das Verständnis von Sozialer Arbeit der Gründer_innen des NÖ Armutsnetzwerks wieder: Soziale Arbeit kann sich nicht auf eine bloße Dienstleistung zurückziehen, sondern hat aus einem gesellschafts- und berufspolitischen Verständnis heraus die Verantwortung, einen Rahmen für die Vertretung der Interessen ihrer Klient_innen zu schaffen. Interessensvertretung meint hierbei, dass Entscheidungsträger_innen informiert und sensibilisiert werden und Zahlen und Daten zu sozialpolitischen Themen medial aufbereitet und in den medialen und gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden – sei es durch Aktionen im öffentlichen Raum oder Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen.
2.2 „From welfare to workfare?“ – Transformationsprozesse
Nach einer Phase der Expansion Sozialer Arbeit seit den 1960er-Jahren (vgl. Scherr 2014: 265, Kronauer 2010: 86), einer Phase, in der es zu einem Ausbau des Sozialstaats und zu einem Ausbau der Angebote der Sozialen Arbeit kam (vgl. Scherr 2014: 266), können seit einigen Jahrzehnten umfassende Transformationsprozesse wohlfahrtsstaatlicher Systeme beobachtet werden, die Auswirkungen für die Organisationen Sozialer Arbeit, ihren Rahmen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten haben. Einerseits ist ein tendenzieller Rückzug bzw. in manchen Bereichen auch offener Abbau sozialstaatlicher Formen der Absicherung zu beobachten, andererseits werden Elementen der „Aktivierung“ verstärkt: im Aktivierungsregime erfolgt die soziale Absicherung durch die möglichst umfassende Eingliederung der erwerbstätigen Bevölkerung in den Arbeitsmarkt (vgl. Nadai 2009: 27), die Erwerbsarbeit bildet dabei den wesentlichen Dreh- und Angelpunkt.
Elemente der Absicherung abseits der Verwertbarkeit der eigenen Arbeitskraft und Willigkeit werden in einem „Aktivierungsregime“ (Nadai 2009: 26) tendenziell geschwächt bzw. abgebaut. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Debatte über Zumutbarkeitsbestimmungen für Langzeitarbeitslose bzw. die mögliche Abschaffung der Notstandshilfe. Der Abbau von Dekommodifizierung bedeutet, dass der Druck auf Menschen tendenziell erhöht wird, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in Erwerbsarbeit stehen (vgl. Dimmel/Heitzmann/Schenk 2009: 35ff). Programme, die Aus- und Umschulungen fördern, werden tendenziell rückgebaut, der Druck zur Annahme von Erwerbsarbeit auch zu ungünstigen Bedingungen für die Person wird erhöht. Besonders deutlich wird diese Entwicklung anhand von Reformen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik („Hartz Reformen“ in Deutschland, Einführung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Österreich).
Welche Konsequenzen haben diese Transformationsprozesse des wohlfahrtsstaatlichen Regimes (die weit über das sozialstaatliche Gefüge hinaus gesellschaftlich wirksam werden) auf die Soziale Arbeit?
3. Ausblick: Soziale Arbeit als Instanz der Anpassung oder Emanzipation
In der Sozialen Arbeit Tätige sind gefordert mit einer strukturellen Ambivalenz umzugehen: Diese Ambivalenz ergibt sich aus dem Wissen der Sozialen Arbeit über die Wünschen, Interessen und Lebensrealitäten ihrer Klient_innen bei gleichzeitig limitierten Möglichkeiten, diese Interessen und Wünsche in politische Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse einbringen zu können. Dieser strukturelle Konflikt zwischen den Wünschen und Anforderungen der Klientel Sozialer Arbeit und den Anforderungen der Auftrags- und Fördergeber wird in der Fachliteratur als „doppeltes Mandat“ bezeichnet (vgl. Böhnisch/Lösch 1973: 2, Dimmel/Schmid 2013: 95, Stettner 2007: 131). Dieser später viel zitierte Begriff wurde von Böhnisch und Lösch geprägt. Diese umschreiben das „doppelte Mandat“ als „stets gefährdetes Gleichgewicht zwischen den Rechtsansprüchen, Bedürfnissen und Interessen des Klienten einerseits und den jeweils verfolgten sozialen Kontrollinteressen seitens öffentlicher Steuerungsagenturen andererseits“ (Böhnisch/Lösch 1973: 28). Das „Kontrollinteresse seitens öffentlicher Steuerungsagenturen“ ist ein aus Sicht der Autorin innerhalb der Sozialen Arbeit nach wie vor ein tabuisiertes Thema – das allerdings vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Transformationsprozesse umso relevanter ist.
Brisant ist die Frage der Kontrolle und der Kontrollfunktion Sozialer Arbeit vor allem deshalb, weil Soziale Arbeit in bestimmten Feldern (Kinder- und Jugendhilfe, Bewährungshilfe, Erwachsenenschutz, …) das gesellschaftliche Mandat, ja den gesellschaftlichen Auftrag hat, mitunter auch ohne den dezidierten Willen der Betroffenen tätig zu werden (indem z. B. ein Kind in einer akuten Gefährdungssituation fremduntergebracht wird). Problematisch ist dies vor allem deshalb, weil Soziale Arbeit zwar über fachliche Standards und Qualitätskriterien verfügt, diese aber strukturell unzureichend verankert sind, sodass sie als Bezugspunkt (beispielsweise in Verhandlungen über finanzielle Mittel) kaum als Argument geltend gemacht werden können. Udo Seelmayer bringt das Dilemma folgendermaßen auf den Punkt:
„[E]s wird zwar wahrgenommen, dass die gegenwärtige Form sozialpolitischer Programmierung den Ansprüchen Sozialer Arbeit zunehmend entgegen läuft, aber sowohl Disziplin als auch Profession verfügen nur in unzureichender Weise über einen […] verankerten normativen Bezugspunkt, von dem aus dies zu kritisieren wäre.“ (Seelmayer 2008: 193)
Seelmayer fordert als Konsequenz, dass Soziale Arbeit sich damit auseinandersetzen muss, wie sie „eigene normative Maßstäbe“ entwickeln kann „die sie als legitime Bezugspunkte für ihre Praxis heranziehen kann“ (Seelmayer 2008: 194).
Dieser Ansatz bedarf allerdings einer Erweiterung. Das bloße Vorhandensein normativer Maßstäbe innerhalb der Fachcommunity allein ist nicht genug: diese sind für die Soziale Arbeit, beispielsweise im Code of Ethics, durchaus vorhanden, doch außerhalb der Fachcommunity kaum bekannt bzw. verankert. Soziale Arbeit ist gefordert sich in gesellschaftspolitische Diskurse und Prozesse einzubringen und sich für die praktische Anwendung anhand fachlicher Expertise erarbeiteter Richtsätze einzusetzen. Ein praktisches Beispiel dafür: was braucht eine alleinstehende Person in Österreich um ihre Existenz sichern zu können? Die Referenzbudgets wären hier ein praktisches Beispiel für das Setzen eines solchen Richtsatzes, ein nächster Schritt wäre das Einfordern und Einsetzen dafür, dass Referenzbudgets tatsächlich als Referenzwert für gesellschaftspolitische Maßnahmen (wie den Ausgleichszulagenrichtsatz bzw. den Mindeststandard der Bedarfsorientierten Mindestsicherung) herangezogen werden.
Konkret ist es aus Sicht der Autorin Aufgabe der Sozialen Arbeit, sich in den sozialen und gesellschaftlichen Diskurs dahingehend einzubringen, dass Erfahrungswissen und fachliche Expertise der Sozialen Arbeit in die Verhandlungs- und Aushandlungsprozesse zur Konkretisierung von Richtsätzen Eingang finden. Wenn z. B. über Kürzungen der Mindestsicherung medial und politisch diskutiert wird oder Änderungsoptionen angedacht und diskutiert werden, dann ist Soziale Arbeit schon aufgrund ihrer engen Verwobenheit mit dem wohlfahrtsstaatlichen System gefragt sich aktiv, engagiert und professionell in diesen Diskurs einzubringen.
Wer, wenn nicht unsere Profession kann beurteilen, wie sich sozialpolitische Entscheidungen auf die praktische Lebenswelt Betroffener auswirken. Es sind die sozialarbeiterisch Tätigen die in der unmittelbaren Interaktion mit (Armuts-)Betroffenen erleben, ob wohlfahrtsstaatliche Programme die Menschen erreichen und faktische Verbesserungen im Sinne einer Emanzipation in der Lebensrealität bewirken oder ob sie bloß die Anpassung an ein zunehmend repressiver werdendes System unterstützen. Die Einblicke in die Lebensrealität Armutsbetroffener, das Wissen und die Expertise von Tätigen im Bereich der Sozialen Arbeit sind aus Sicht der Autorin als Auftrag zu verstehen: Ein Auftrag, sich aktiv einzubringen und mitzuwirken, damit Soziale Arbeit nicht zu einer „Anpassungsinstanz“ verkommt, sondern sich fachlich fundiert, effektiv und gestaltend in gesellschaftspolitische Diskurse einbringt.
Verweise
1 Im Jahr 2017 wurde die Schwelle bei 1.238 Euro (12-mal jährlich) fixiert. (vgl. Statistik Austria 2018) Um die Vergleichbarkeit der angeführten Werte zu gewährleisten, wurden die Werte aus dem Jahr 2016 herangezogen, da aus 2016 die entsprechenden Zahlen für die Armutsgefährdungsschwelle, der Median des monatlichen Nettoeinkommens unselbstständig Beschäftigter und das Referenzbudget vorliegen.
2 Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung unterscheidet unterschiedliche Typen von Wohlfahrtsstaaten, eine der bekannteste dieser Typologien ist jene von Esping-Anderson (The three worlds of welfare capitalism), in welcher er drei Typen wohlfahrtsstaatlicher Regime unterscheidet: den liberalen, den konservativen (oder korporatistischen) und den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat. Österreich ist klar dem konservativen Typus zuzuordnen, der sich laut Anderson dadurch auszeichnet, dass der Staat (nicht der Markt) sich für die Erbringung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zuständig sieht (vgl. Esping-Anderson 1990: 26–27).
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Über die Autorin
Mag.a (FH) Barbara Bühler, Bakk.a phil.
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