soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 20 (2018) / Rubrik "Thema" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/581/1047.pdf
Erich Fenninger, Judith Ranftler & Dagmar Fenninger-Bucher:
1. Einleitung
Obwohl sich Kinder und Jugendliche in einem Alterssegment befinden, das am häufigsten und stärksten von Armut bedroht ist, wird kaum eine Sichtweise eingenommen, die sich auf sie als Subjekte und ihre je eigenen Bedürfnisse zentriert (vgl. Horvat/Kromer 2012: Klappentext). Armut stellt eine individuelle Lebenslage von Kindern sowie ein sozialstrukturelles Moment sozialer Ungleichheit dar (vgl. Zander 2015: 122). Kinderarmut ist ein dynamisches Phänomen, das in seiner Mehrdimensionalität das Aufwachsen und die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen insgesamt beeinträchtigt. Als Lebenslage stellt sie einen enormen Risikofaktor dar (vgl. Hock/Holz 2000: 4). Österreichweit sind 18% aller unter 19-Jährigen armutsgefährdet, das sind 324.000 Kinder und Jugendliche, die ihre Potenziale nur eingeschränkt entfalten können. Wer sich mit den Folgen von Kinderarmut und den damit verbundenen ausschließenden Faktoren wissenschaftlich und operativ auseinandersetzt, kann nicht neutral bleiben, denn „jede kulturelle Praxis ist durch einen konkreten Akt des Engagements bedingt“ (De Lagasnerie 2018: 14). Neutralität in Zusammenhang mit sozialer Ungerechtigkeit muss als Engagement gegen ein Engagement begriffen werden (vgl. ebd.: 27). Die jahrelange Beschäftigung der Volkshilfe/Fenninger (vgl. dazu beispielsweise Fabris et al. 2013, Fenninger 2017, Volkshilfe Österreich 2018) mit der Thematik sozioökonomischer Benachteiligung von Kindern hat nicht nur die Kritik an ungleichen und damit diskriminierenden Bedingungen zum Inhalt. Das formulierte Ziel und der vorgeschlagene Weg, Idee und Methode sollen vielmehr ein Aufwachsen in Armut künftig nicht mehr zulassen und damit Kindern und Jugendlichen altersadäquate gesellschaftliche Partizipation und Inklusion ermöglichen.
Im folgenden Artikel wird die Vision ausformuliert, Kinderarmut in Österreich durch die Aufhebung des vorgegebenen finanziellen Mangels zu beenden. Was zunächst utopisch erscheint, erweist sich in der konkreten Durchrechnung des Modells als eine realistische Option. Die Grundidee besteht darin, in einem ersten Schritt die Kinder und Jugendlichen, die unmittelbar von Armut betroffen sind, mit einer bedürfnisgerechten Transferleistung auszustatten. Die Höhe richtet sich nach den tatsächlich entstehenden Kosten, ausgehend von den Referenzbudgets der Schuldnerberatung, die aufgewendet werden müssen, um jungen Menschen die Teilhabe an allen relevanten Lebenswelten zu ermöglichen. In einem zweiten Schritt ist die Ergebnisgerechtigkeit durch eine abgestufte Kindergrundsicherung für alle Kinder herzustellen. Das bedeutet die Sicherung von bestmöglicher Entwicklung und Verwirklichung auch für die Kinder und Jugendlichen, die auf Grund ihrer materiellen Ausstattung hinsichtlich ihrer Teilhabemöglichkeiten bereits eingeschränkt, aber noch nicht unmittelbar ausgegrenzt sind. Es handelt sich dabei um ein Modell sozialer Sicherheit, das allen Kindern und Jugendlichen in Österreich die Entwicklung ihrer Potenziale, den Erwerb von Kompetenzen, Bildung und Ausbildung ermöglicht sowie soziale Teilhabe garantiert. Das Stoppen vererbter, intergenerationaler Bildungs-, Wohnungs- und Einkommensarmut mit ihren breit gestreuten Auswirkungen in allen Dimensionen des Lebens bildet die Voraussetzung für ein Aufwachsen in Wohlergehen und damit für ein gutes, gelingendes Leben im Erwachsenenalter. Das Modell der Volkshilfe wurde in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung auf seine Wirksamkeit in der Bekämpfung von Armut und Kinderarmut geprüft, die dafür aufzuwendenden finanziellen Mittel werden im zweistufigen Berechnungsmodell ausgewiesen. Das Konzept ist für Kinder und Jugendliche ausgelegt, die auf Grund geringer Haushaltseinkommen armutsbetroffen oder -gefährdet sind. Für davon ausgenommene Minderjährige bleiben Transferleistungen in der aktuellen Höhe bestehen. Mit dem Projekt „Kindern Teilhabe sichern“ nimmt die Volkshilfe ab Herbst 2018 die Zukunft vorweg und setzt die anzustrebende Kindergrundsicherung beispielhaft um. Ab sofort wird über Spendenmittel für die größtmögliche Anzahl aktuell armutsbetroffener Kinder und Jugendlicher materielle Deprivation Monat für Monat aufgehoben. Die sozialarbeitswissenschaftliche Begleitung, Dokumentation und Beforschung des Modellprojekts wird hierbei valide Daten über Entwicklungsprozesse und Auswirkungen einer kindzentrierten Transferleistung liefern.
2. Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben
Während Armut als Lebenslage im Alltagsbewusstsein durchwegs vorhanden und verankert ist, versteht jede*r etwas anderes darunter (vgl. Butterwegge 2000: 21). Das Fehlen einer allgemein gültigen Definition erschwert die Anerkennung eindeutiger Erscheinungsformen und Auswirkungen, mit denen sich die soziale Gruppe armutsbetroffener Menschen konfrontiert sieht (vgl. Hock/Holz 2000: 19). Armut ist heute kein Phänomen, das nur in sozialen Randgruppen entsteht, sie reicht bis in mittlere Schichten der Gesellschaft hinein und stellt somit für deutlich mehr Menschen als noch vor 30 Jahren ein Risiko dar (vgl. Holz/Richter-Kornweitz 2010: 43). Sie wird in erster Linie als Einkommens- und damit Geldarmut begriffen und additiv erhoben und festgelegt. Darüber sind ausreichend empirische Daten verfügbar, Armut wird fass- und messbar (vgl. Fabris/Faltin/Fenninger et al. 2013: 9). Die Reduktion des Phänomens Armut auf materielle Armut verunmöglicht es allerdings, die damit verbundenen Belastungen und Ausgrenzungsprozesse in all ihren Dimensionen darzustellen und zu begreifen (vgl. ebd.). Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Sie verhindert materielle Unabhängigkeit und damit die Freiheit, über das eigene Leben selbstbestimmt zu entscheiden (vgl. Butterwegge 2000: 22).
Wenn Armut nur in Zahlen gemessen wird, bleibt der Aspekt des subjektiven Erlebens und Erfahrens von Armut unberücksichtigt (vgl. Butterwegge 2012: 11). Nicht armutsgefährdeten Personen fehlt die Innensicht auf ein Leben im Mangel: die permanente Wirkung von Isolation, Angst, Apathie, Resignation, Versagens- und Schuldgefühlen; der tägliche Existenzkampf und die damit verbundenen Anstrengungen; die Erfahrung der Unmöglichkeit einer nachhaltigen Änderung der Lebenslage und das damit einhergehende Gefühl der Ausweglosigkeit. Es fällt schwer, die Auswirkungen von Benachteiligungs- und damit Diskriminierungsprozessen im Subjekt als nichtbetroffene Person zu antizipieren, und das Leben von Menschen zu begreifen, die von sozialer Exklusion bedroht oder bereits betroffen sind (vgl. Fabris/Faltin/Fenninger et al. 2013: 9). „Ohne Berücksichtigung der Innenseite von Armut wird man Armut nur unzureichend verstehen und nicht wirkungsvoll bekämpfen können.“ (Sedmak 2013: 281)
2.1 Aufwachsen unter Bedingungen sozioökonomischer Benachteiligung
Eine Kindheit in Armut ist gleichbedeutend mit fehlenden Partizipations- und Entwicklungsmöglichkeiten. Die damit einhergehende soziale Exklusion stellt ein komplexes Gefüge dynamischer Prozesse dar und sie reduziert bzw. verunmöglicht die Zukunftschancen der davon betroffenen Kinder und Jugendlichen. Diese Prozesse haben nicht nur einen Einfluss auf die Lebensbedingungen gegenwärtig sozioökonomisch benachteiligter Minderjähriger, sondern werden über Generationen weitergegeben und schwächen letztlich die sozioökonomische Stabilität eines Landes (vgl. Fernandez de la Hoz 2009: 153):
„Aus diesem Mechanismus der Vererbung von Armut zeigt sich sehr deutlich der prozessuale Charakter von Ausgrenzungsprozessen. Und gerade weil es sich sehr deutlich um Prozesse handelt, können diese bekämpft werden, wenn ihre Dynamik klar ist.“ (ebd).
Zumeist konkretisieren sich Armutserfahrungen nicht in einer zeitlich begrenzten und damit temporären Lebensphase, sondern manifestieren sich als eine sich wiederholende oder kontinuierliche Problemlage. Dauerhafte Armut und ein diskriminierungsfreies Aufwachsen in Wohlergehen schließen einander aus. Es handelt sich vielmehr um einen sich fortlaufend entwickelnden Deprivationsprozess, der auf Grund seiner Komplexität nicht punktuell erfasst nachgewiesen werden kann (vgl. Holz/Richter-Kornweitz 2010: 43).
Für Kinder bedeutet Armut zunächst einen spürbaren Mangel, der ihr Wohlbefinden negativ beeinflusst. In weiterer Folge birgt sie hohe Risiken für die Entwicklung und Entfaltung der natürlichen Anlagen sowie für die Fähigkeit, Verwirklichungschancen zu ergreifen. Bereits vor der Geburt kann ein deutlicher Zusammenhang zwischen Frühgeburtlichkeit und depriviertem mütterlichen/elterlichen Sozialstatus nachgewiesen werden (vgl. Müller/Neubacher 2015: 67). Die fortgesetzte Einschränkung der biografischen Entwicklungsmöglichkeiten im Aneignen (dürfen) von sozialen, kulturellen und kognitiven Fähigkeiten lässt materiell benachteiligte Kinder und Jugendliche die Festschreibung auf ihre soziale Position und die darauf basierende gesellschaftliche Selektion und Ausgrenzung schmerzhaft spüren (vgl. Zaremba 2015: o.S.). Der Zugang zu verschiedenen Gesellschaftsbereichen, die Ausstattung mit ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital sowie Bildung, gesundheitliche und soziale Entwicklung werden nach wie vor durch die soziale Herkunft determiniert (vgl. Bourdieu 2010: 337 ff). Die Benachteiligungen und konkreten Einschränkungen, denen sich materiell deprivierte Kinder und Jugendliche in diesem Zusammenhang in ihrer gesamten Lebenswelt ausgesetzt sehen, werden unter anderem durch die Langzeitstudien des Arbeiterwohlfahrt-Instituts für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik (AWO-ISS) nachgewiesen, die seit 1997 Armutsfolgen bei Kindern und Jugendlichen beforschen (vgl. dazu beispielsweise Holz et al. 2010 und Holz et al. 2012).
2.2 Armut ist keine Eigenschaft
Menschen verfügen über ein reiches und tiefes Innenleben (vgl. Sedmak 2013: 51). Erinnerungskraft, Fantasie und Hoffnungen, Urteilsvermögen und Überzeugungen, Feinfühligkeit und Emotionalität, die Ausprägung des Willens, Haltungen und Einstellungen sowie das moralische Empfinden (vgl. ebd.: 50) geben Halt und Orientierung und unterstützen in der Gestaltung der je eigenen Lebensführung. Erlebte Armut stellt eine hohe Form von Belastung dar, die zu einem Verlust des inneren Gleichgewichts und zu Beeinträchtigungen in der Identitätsbildung der betroffenen Kinder und Jugendlichen führen kann. Dies insofern, als sich Identität durch einen ausdrücklichen Gemeinschaftsbezug, durch Selbstbewusstsein und das Bewusstsein darüber formt, wofür man sich gerade hält (vgl. ebd.: 57). Kinder, die erfahren müssen sich weniger wert als andere zu fühlen, werden in der Entwicklung ihres Selbstwerts massiv behindert.
Die Anerkennung seiner*ihrer selbst stellt für jedes Subjekt die Voraussetzung dar, einen Selbstbezug herstellen zu können und sich soweit zu bejahen, dass die eigenen Erlebnisse für wert erachtet werden, sie mitzuteilen (vgl. Honneth 2015: 87). Durch die Konstruktion von Armut als negativer, selbst verschuldeter Eigenschaft wird finanziell benachteiligten Menschen die Anerkennung als wertvolle Mitglieder der Gesellschaft verweigert.
Ausgrenzungsmotivierte, sozialpolitische Disziplinierungstendenzen werden durch die Unterstellung, armutsbetroffenen Menschen fehle auf Grund hoher Transferleistungen der Anreiz, arbeiten zu gehen, begründet und sie materialisieren sich in der Kürzung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung. So wird beispielsweise August Wöginger, ÖVP-Klubobmann im Nationalrat, im Standard zitiert: „Wir wollen die Leute aus der sozialen Hängematte holen. Wenn größere Familien mancherorts 3.000 bis 4.000 Euro bekommen, verstehen das die Menschen nicht, die in der Früh aufstehen und arbeiten gehen. Das untergräbt die Arbeitswilligkeit.“ (John 2018: o.S.)
Gerald Johns Recherche allerdings ergab ein ganz anderes Bild; demnach beziehen in ganz Österreich nicht mehr als 100 Familien als Bedarfsgemeinschaften 3.000 Euro Mindestsicherung oder mehr. In der Bundeshauptstadt Wien, in der etwa die Hälfte aller Mindestsicherungsbezieher*innen leben, sind das mit 45 Familien 0,061 Prozent aller Bedarfsgemeinschaften (vgl. ebd.). Die Verleugnung sozioökonomischer Benachteiligung als exkludierende Lebenslage ist ein Effekt neoliberaler Machttechniken, die Entscheidungsfreiheit und Freiwilligkeit suggerieren (vgl. Han 2014: 9) und damit symbolisch und faktisch gesellschaftlichen Ausschluss produzieren. In Wögingers Begründung für die Kürzung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung werden Methoden des Othering bedient. Als Vertreter der postkolonialen Theorie formulierte Edward Said die Erzeugung eines rationalen Wir als hegemoniale Praxis durch die Abgrenzung von im Außen bestehenden, irrationalen Anderen, denen negative Eigenschaften als gegeben und scheinbar unveränderbar zugeschrieben werden (vgl. Hierzer 2017: 163). Indem der sozialen Gruppe der BMS-Bezieher*innen ein gesellschaftlich niedrigerer Wert zugeschrieben wird, werden sie aus dem anerkannten Wir herausgeschält und als Andere markiert. Die Tatsache, dass österreichweit 100 Familien im Verhältnis zu insgesamt 182.000 Bedarfsgemeinschaften eine monatliche Mindestsicherung von 3.000 Euro oder mehr beziehen, ist nicht als relevante Größe zu werten. Durch die manipulative Suggestion von Relevanz wird die geplante Kürzung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung als scheinbar notwendige politische Disziplinierung armutsbetroffener Menschen begründet. Die erwerbstätige Bevölkerung wird durch die Unterstellung, ihre Arbeitswilligkeit würde durch die Höhe der Mindestsicherung untergraben, instrumentalisiert, um deren Kürzung durchzusetzen. In diesem machtvoll vermittelten Diskurs wird armutsbetroffenen Menschen Subjektivität, Autonomie und Handlungsfähigkeit abgesprochen (vgl. Nussbaum 2002: 102).
2.3 Dimensionen kindlicher Lebenslagen
Als Voraussetzung für eine adäquate Erfassung der Auswirkungen sozioökonomischer Benachteiligung auf heranwachsende Kinder und Jugendliche bedarf es der Bezugnahme auf einen kindgerechten Armutsbegriff. Dazu müssen auch die Ermöglichung einer altersentsprechenden Entwicklung und das subjektive Erleben der Minderjährigen einbezogen werden (vgl. Holz et al. 2012: 6). Das Erleben von Armut als Gemütszustand und Befindlichkeit, die Assoziation mit Verzicht, Verlust, Krankheit und Traurigkeit als immaterielle Dimensionen sind dabei zu berücksichtigen (vgl. Zander 2010: 137). Kinderarmut als Lebenslage liegt vielfach außerhalb materieller Benachteiligung und Unterversorgung. Sie bezieht sich sowohl auf die Versorgungslage innerhalb zentraler Lebensbereiche wie Wohnen, Gesundheit, Bildung, Ausbildung und gesellschaftliche Partizipation wie auch auf die impliziten Handlungsspielräume der betroffenen Individuen (vgl. Laubstein/Dittmann/Holz 2010: 76). Unterversorgung als reale Lebenssituation kann zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins führen und wirkt für die damit konfrontierten Kinder und Jugendlichen bestimmend auf die Ausgestaltung ihrer sozialen Rolle und Positionierung (vgl. Horvat/Kromer 2012: 80).
Die tatsächliche Lebenssituation eines Kindes ist Ergebnis eines komplexen und dynamischen Beziehungs- und Bedingungsgefüges multipler Einflussfaktoren. Fragen der Ressourcenverteilung, arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, institutionelle und generell gesellschaftliche Rahmenbedingungen sowie professionelle Unterstützungsangebote beeinflussen materielle und immaterielle Herausforderungen innerhalb der Familiensysteme. Diese Faktoren wirken direkt auf Kinder und Jugendliche in Art und Umfang von materieller Versorgung, Zuwendung, Anregung und Unterstützung. Kinderarmut bedeutet daher mehr als familiäre Einkommensarmut und kann mittels vier kind- und jugendbezogener zentraler Lebenslagedimensionen erfasst werden (vgl. Hock/Holz 2000: 5–6).
Die „materielle Dimension“ bezieht sich auf die Ausstattung hinsichtlich Wohnraum, Nahrung und Bekleidung. Die Wohnverhältnisse geben Raum sowie Rahmen für das tägliche Leben und Lernen und sind daher eine maßgebliche Komponente kindlicher Perspektivenbildung, Lebensführung und Identität mit enormer Bedeutung für die körperliche, gesundheitliche und psychische Entwicklung der Betroffenen (vgl. Lindinger/Hannes/Hanke/Gschiel/Arthold 2009: 53). Die „kulturelle Dimension“ umfasst die kognitive Entwicklung, insbesondere den Zugang zu Bildung und Sprache sowie den Erwerb kultureller Kompetenzen, die die Teilhabe an altersadäquaten Aktivitäten sichern. Nicht genutzte Möglichkeiten der Selbstverwirklichung können im späteren Alter kaum aufgeholt werden. Innerhalb der „sozialen Dimension“ erfährt das Kind/der*die Jugendliche Einbindung und Integration in das soziale Umfeld, entwickelt und erweitert soziale Kompetenzen und knüpft Kontakte und Netzwerke (vgl. Hock/Holz 2000: 7). Die „gesundheitliche Dimension“ schließlich gibt Auskunft über die Gewährleistung physischer und psychischer Gesundheit sowie über armutsbedingte Beeinträchtigungen (vgl. ebd.). Liegen innerhalb dieser vier Dimensionen keine nachweisbaren Einschränkungen, Benachteiligungen und Beeinträchtigungen vor, so kann von einer kindlichen Lebenslage des Wohlergehens ausgegangen werden. Das Vorkommen einiger weniger Einschränkungen impliziert eine benachteiligte Lebenslage, multiple Deprivation hingegen bezeichnet eine kindliche Lebenslage, die in mindestens drei der vier zentralen Lebens- und Entwicklungsbereiche Versorgungsdefizite und Ressourcenmangel aufweist (vgl. Laubstein et al. 2010: 77).
Als zentrale Informationsquelle über Armut und soziale Ausgrenzung gelten die von der Statistik Austria erhobenen Zahlen im Rahmen der European Community Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC). Als Richtwert wird der Einkommensmedian aller Haushalte herangezogen. Die Armutsgefährdungsschwelle wird bei 60 Prozent des Medians angenommen und beträgt für 2017 monatlich 1.238 EUR für einen Einpersonenhaushalt (12 Mal pro Jahr). Für jede weitere erwachsene Person im Haushalt erhöht sich die Schwelle um 618 EUR und für jedes minderjährige Kind unter 14 Jahren um rund 371 EUR. Im Jahr 2017 verfügten 14,4 Prozent der österreichischen Bevölkerung über ein Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle. In verstärkter Weise sind Kinder und Jugendliche davon betroffen: 18 Prozent der unter 19-Jährigen gelten in Österreich als armutsgefährdet, das sind konkret 324.000 junge Menschen (vgl. Statistik Austria 2018: 107). Sie leben im Bewusstsein, dass sie keine Verfügungsmacht über materielle Ressourcen haben und sie wissen um ihre Abhängigkeit von den familiären Ressourcen. Das impliziert, dass sie sich mit der vorgegebenen Lebenslage weitgehend zu arrangieren haben (vgl. Horvat/Kromer 2012: 135f).
Sozioökonomische Benachteiligung bei Kindern und Jugendlichen zu thematisieren bedeutet, sie als eigenständige Subjekte anzuerkennen, ihre Wahrnehmung der Lebenslage ernst zu nehmen und die von ihnen gewählten Deutungen, ihre Bewältigungs- und Handlungsstrategien zu verstehen. Zander unterscheidet zwischen problemvermeidendem Verhalten, beispielsweise Rückzug und das Senken der eigenen Ansprüche, und der Suche nach Problemlösungen, die dazu dienen sollen, die Situation zu verändern (vgl. Zander 2010: 128f). Nicht nur die betroffenen Minderjährigen selbst, sondern auch ihre sozialen Nahbeziehungen versuchen durch ihr Handeln, Änderungen herbeizuführen. Dabei wird zwischen reduktiven, adaptiven und konstruktiven Bewältigungsstrategien unterschieden. Diesbezügliche Anstrengungen können zu subjektiv wahrgenommenen Erleichterungen der aktuellen Lebenssituation beitragen, meist gelingt es jedoch nicht, die Lebenslage an sich nachhaltig zu verändern, da soziale Position und exkludierende Rahmenbedingungen davon unberührt bleiben (vgl. Zander 2010: 131ff).
3. Kinderarmut abschaffen
Politisch, medial und gesamtgesellschaftlich werden real gegebene problematische Bedingungen und Verhältnisse tendenziell nicht als solche erkannt, sondern benachteiligte Menschen als problemverursachende soziale Gruppen dargestellt und bewertet (vgl. Holzkamp 1997: 7). Holzkamps Analyse der sozialökonomischen Entwicklung verweist hingegen darauf, dass die Herausbildung der Produktionsweisen und Produktionsverhältnisse in ihrer Dominanz zum bestimmenden Träger eines gesellschaftlich-historischen Veränderungsprozesses wurden und die individuelle Vergesellschaftung nur dann ausreichend erfasst werden kann, wenn sie als subjektive Realisierung sich verselbstständigender gesamtgesellschaftlicher Erhaltungsstrukturen verstanden wird (vgl. ebd.: 33–34). Strukturelle Gewalt und Diskriminierung, Machtkonstellationen und sozialpolitische Widersprüche werden in die unmittelbare Lebenswelt vermittelt und bilden die Parameter subjektiver Daseinsbewältigung (vgl. ebd.: 34). Sie manifestieren sich oftmals als psychische Symptome des Individuums und werden im Zuge der Individualhilfe behandelbar. Doch nicht die Symptome sind zu bekämpfen, sondern deren Ursachen. Armutsbetroffenheit verlangt nicht nach Therapie, sondern nach ihrer Beendigung.
Die Volkshilfe ist im langjährigen Kampf gegen Kinderarmut unter dem Leitsatz „Benachteiligungen beseitigen, gelingendes Leben ermöglichen“ im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung aktiv, generiert konkrete sozialpolitische Vorschläge zur nachhaltigen Verbesserung der Lebenslagen armutsbetroffener Minderjähriger und ihrer Familiensysteme, gleicht durch finanzielle Mittel materiellen Mangel aus, fördert und führt Initiativen und Projekte für sozioökonomisch benachteiligte Kinder und Jugendliche durch, wie beispielsweise in Kooperation mit der Kinder- und Jugendhilfe Wiener Neustadt das sozialräumliche Teilhabeprojekt Kinderzukunft2 unter der Leitung von Dagmar Fenninger-Bucher, das seit 2014 mit mehreren Preisen für Nachhaltigkeit und soziales Engagement ausgezeichnet wurde. Im Rahmen dieser Schwerpunktsetzungen wird die Verwirklichung von sozialer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit als Ziel formuliert. Der Vollzug von Freiheit setzt zuallererst das Entgegenkommen der Anderen voraus, ist damit an das bestätigende Subjekt gebunden und impliziert eine wechselseitige Anerkennung (vgl. Honneth 2011: 123). Daraus folgend liegen in der gemeinschaftlichen Verantwortung, im sozialen Füreinander die Grundlagen einer Gesellschaft, die in der Lage ist, die Voraussetzungen für ein gelingendes Leben des*der Einzelnen zu schaffen. „Hier ist man nicht einseitig in sich selbst, sondern beschränkt sich gern in Beziehung auf ein Anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung als sich selbst“ (Hegel 2013: 57). Das bedeutet, dass wirkliche Freiheit ohne und gegen die*den Andere*n nicht möglich ist und erst im Zueinander-gewandt-Sein begriffen werden kann. Das erklärt darüber hinaus, warum wirksame Soziale Arbeit nicht paternalistisch und damit von oben herab, sondern nur in gemeinschaftlicher Arbeit mit ihren Adressat*innen funktionieren kann und ein Wir als Ausgangspunkt des Handelns begreift. Die Kritik an Ungleichheit und Benachteiligung, der Einsatz für Gleichheit und Ergebnisgerechtigkeit sind und bleiben damit wesentliche Parameter Sozialer Arbeit und NGO-Aufgabe.
„Menschen, die von den Auswirkungen der gesellschaftlichen Bedingungen weniger betroffen und prekarisiert werden, leben in derselben Gesellschaft, die diese produziert. Deshalb ist der Kampf um soziale Gerechtigkeit nicht nur Anliegen der davon am stärksten Betroffenen, sondern ein Kampf, der uns alle angeht.“ (Fenninger 2017: o. S.)
Soziale Veränderung und Entwicklung, sozialer Zusammenhalt, Empowerment und Befreiung, soziale Gerechtigkeit, gemeinschaftliche Verantwortung, die Anerkennung von Diversität und die Menschenrechte als Wertebezug, Kernaufgaben und Prinzipien Sozialer Arbeit, wie sie 2014 von der International Federation of Social Workers (IFSW) und der International Association of Schools of Social Work (IASSW) in der international anerkannten „Global Definition of the Social Work Profession“ (vgl. IFSW 2014) formuliert wurden, bilden in diesem Zusammenhang auch die Grundlagen der Arbeit der Volkshilfe Österreich. Armut und damit ein Aufwachsen im Mangel wird von Generation zu Generation vererbt. Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten werden in einem Ausmaß eingeschränkt, das davon betroffene Kinder und Jugendliche im Regelfall auch zu den einkommensarmen und ausgegrenzten Erwachsenen von morgen werden lässt. Die Gestaltung der Zukunft muss über die Kritik der bestehenden Verhältnisse hinausgehen und ihre eigene Narration entwickeln. Darauf aufbauend wurde im Frühjahr 2018 im Bundesvorstand der Volkshilfe Österreich die Strategie für das Projekt und Modell „Kindern Teilhabe sichern – Kindern Zukunft sichern“ beschlossen (Entwurf Fenninger), um Benachteiligung und Deprivation für möglichst viele Kinder und Jugendliche zu beenden. Umsetzung und Erfolg des Modellprojekts bilden die Voraussetzung einer realisierbaren Beschlussfassung im Nationalrat zur österreichweiten Einführung einer Teilhabesicherung, die in der Lage ist, Kinderarmut in Österreich als weltweit erstem Land endgültig zu beenden.
3.1 Der materielle Aspekt kindbezogener Teilhabe
Ausgehend von den Referenzbudgets der Schuldnerberatung (vgl. Schuldnerberatung 2018: o. S.) wurde der konkrete Finanzierungsbedarf pro Kind von Manuela Wade (Volkshilfe Österreich, Expertin für Armut und Soziales) berechnet, um altersadäquate Teilhabe in den vier kindbezogenen relevanten Dimensionen des Lebens garantieren zu können. Die ermittelten Beträge dienen als Orientierungshilfe und Grundlage für ein Projekt der Volkshilfe mit dem Arbeitstitel „Kinderteilhabesicherung“ zur Beseitigung vorhandener Ausschlussfaktoren für Kinder und Jugendliche, die unter Bedingungen sozioökonomischer Benachteiligung aufwachsen.
Die Teilberechnungen der Referenzbudgets richten sich nach den vier zentralen Dimensionen der kindlichen Lebenslage, wodurch sich folgende Gliederung ergibt:
Aus den Teilbeträgen, die innerhalb der vier zentralen Dimensionen der kindlichen Lebenssituation aufzuwenden sind, um Benachteiligung auszuschließen und Teilhabe materiell zu sichern, ergibt sich ein maximaler Höchstbetrag von 625 Euro pro Kind und Monat. Die familienpolitischen Leistungen, die in Österreich aktuell erbracht werden, decken einen Teil des hier errechneten Betrages ab. Soll multiple Deprivation auf Grund von materiellen Benachteiligungen unterschiedlichen Ausmaßes im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen künftig beendet bzw. verhindert werden, so sind zuallererst die 324.000 Kinder und Jugendlichen unter 19 Jahren bzw. die 234.600 Minderjährigen, die derzeit auf Grund der Armuts- und Ausgrenzungsgefährdungsschwelle als gefährdet oder bereits betroffen gelten, monatlich mit dem Differenzbetrag auszustatten, der auf die ermittelten 625 Euro fehlt und damit kontinuierliche Benachteiligung und Ausgrenzung begründet.
3.2 Kindern Teilhabe sichern – ein Projekt der Volkshilfe
Unter Vorwegnahme einer auf Ergebnisgerechtigkeit ausgerichteten Zukunft, in der sich die Gesellschaft für die Bedürfnisse und Verwirklichungsmöglichkeiten der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen im Verständnis eines demokratischen Kinderschutzes gemeinschaftlich verantwortlich fühlt und einsetzt, startet die Volkshilfe ab Herbst 2018 ein zeitlich auf mindestens ein Jahr ausgerichtetes Projekt mit dem Arbeitstitel „Kinderteilhabesicherung“. Mit Hilfe von Unterstützer*innen werden die Mittel aufgebracht, um möglichst vielen Kindern und Jugendlichen in Österreich, die unter Bedingungen materieller Deprivation aufwachsen, materielle, kulturelle, soziale und gesundheitliche Teilhabe abseits von mildtätigem, karitativem Paternalismus zusichern. Unter sozialarbeiterischer Begleitung werden, basierend auf Einkommenslagen unter der Armutsgefährdungsschwelle, subjektive Erfahrungen der Positionierung im sozialen Raum, der Ressourcen und Benachteiligungen in den Blick und somit die Perspektiven der betroffenen Kinder und Jugendlichen eingenommen. Damit werden strukturelle Zusammenhänge sichtbar gemacht – Benachteiligung und Mangel können konkretisiert, visualisiert und dargestellt werden. Ausgehend von täglicher und unmittelbarer Alltagsbewältigung und ihren Bedingungen können die betroffenen jungen Menschen ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Visionen der Partizipation entwickeln und die Mittel zur Erhöhung ihrer Selbstwirksamkeit benennen. Indem Kinder und Jugendliche ihre Ziele und Bestrebungen selbst formulieren, indem sie Grenzüberschreitungen vornehmen, um Bedingtheit und Reduktion zu überwinden, können gemeinsam Maßnahmen zur Beendigung von Ausgrenzungserfahrungen entwickelt werden. Diese tragen nicht nur zur Stärkung des Bewusstseins über die eigene Handlungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen bei, sondern führen darüber hinaus zur Generierung nicht alltäglichen Wissens im Forschungsprozess. Unter Anwendung von Theorien kritischer Psychologie als Begleitwissenschaft werden Probleme auf eine Weise reformuliert, dass dadurch ihre realen Ursachen thematisiert und perspektivische Lösungen ermöglicht werden (vgl. Holzkamp 1997: 15).
Die Perspektiven und Vorhaben der Kinder und Jugendlichen werden nicht nur beforscht, sondern auch als richtungsweisend für die weitere Vorgangsweise betrachtet und entsprechend dokumentiert. In einem dafür entwickelten conferencing-Modell, das auf dem in der Kinder- und Jugendhilfe angewendeten „Familienrat“ aufbaut, erfährt das Kind/der*die Jugendliche die Möglichkeit, die zuvor formulierten Absichten und Pläne selbstständig mit den Mitgliedern des Familiensystems zu besprechen und auszuverhandeln. Die Einbegleitung in die „Teilhabekonferenz“ erfolgt durch die*den Sozialarbeiter*in, die Aushandlung der Anliegen erfolgt in der der „family-only“-Phase. Die Ergebnisse werden in einer Erklärung und in einem Vertrag mit der Volkshilfe festgehalten, wodurch Kinder und ihre Familiensysteme ermächtigt und die notwendigen finanziellen Mittel gesichert werden. Die Evaluation der ausformulierten Vorhaben und Pläne wird quartalsweise vorgenommen. Durch die Umsetzung des Projekts im Rahmen eines prozessualen sozialwissenschaftlichen Verfahrens (Entwicklung Fenninger 2018) sollen Informationen über die Begrenzung kindlicher sozialer Räume durch sozioökonomische Benachteiligung, über Defizite und Schädigungen als Folge kontinuierlicher Ausgrenzung und über deren Aufhebung durch gesicherte materielle Unterstützungen sowie anerkennende Prozesse generiert werden.
3.3 Staatlicher Finanzierungsaufwand einer Kindergrundsicherung
Im Auftrag der Volkshilfe Österreich und basierend auf den für kindbezogene Teilhabe notwendigen monatlichen Beträgen je Minderjähriger*m simulierte das Europäische Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung die Einführung einer Kindergrundsicherung in Österreich und kalkulierte den dafür notwendigen staatlichen Finanzierungsaufwand. Als Grundlage gilt die Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als eigenständige Personen, deren soziale Rechte, Teilhabe und Entwicklung in materieller, kultureller, sozialer und gesundheitlicher Hinsicht zu garantieren sind (vgl. Fuchs/Hollan 2018: 3). Nicht zuletzt durch das Hintanhalten steuerlicher Begünstigungen für einkommensstärkere Haushalte würde die Umsetzung des errechneten Modells zu einer gerechteren Verteilung familienbezogener Transferleistungen führen. Die Kindergrundsicherung könnte damit verstärkt zu Transparenz, sozialer Kohäsion und letztlich höherer Akzeptanz des österreichischen Wohlfahrtsregimes beitragen (vgl. Volkshilfe Österreich 2018: o. S.).
Die Einführung einer Kindergrundsicherung für die derzeit 234.640 armutsgefährdeten Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren entsprechend den in 3.1. ausgeführten Referenzbudgets für die einzelnen Dimensionen kindlicher Lebenswelten bedeutet einen jährlichen Finanzierungsaufwand von 1.093 Mio. Euro. Im Vergleich dazu verursacht der für 2019 geplante Familienbonus laut Regierungsvorlage budgetäre Nettomehrkosten von rund 1.200 Mio. Euro pro Jahr (vgl. Österreichische Bundesregierung 2018); laut Simulationsanalyse des Europäischen Zentrums für die Arbeiterkammer Wien (AK Wien) sind es gar 1.500 Mio. Euro. Da der Familienbonus vor allem Personen der mittleren Einkommensdezilen zugute bekommt, beträgt seine armutsvermeidende Wirkung nur 0,6 Prozent bezogen auf die Gesamtbevölkerung (vgl. Fuchs/Hollan 2018: 12). Die Einführung einer Kindergrundsicherung hingegen würde die Armutsgefährdungsrate von Minderjährigen um 9,3 Prozent und der Gesamtbevölkerung um 3,5 Prozent senken (vgl. ebd.: 16). Das bedeutet, dass sich das von der Volkshilfe entwickelte Modell zur Teilhabe und Beendigung von Kinderarmut nicht nur finanzieren lässt, sondern auch nachhaltige Wirksamkeit entfalten kann. Die bereits zitierte Langzeitforschung des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) weist nach, dass rund 50 Prozent der armutsbetroffenen Kinder auch im Erwachsenenalter arm bleiben, da kontinuierliche Beeinträchtigungen auch den Kompetenzerwerb im Bereich der Bildung und Ausbildung einschränken und damit vielfach Erwerbslosigkeit im Erwachsenenalter begründen (vgl. Laubstein et al. 2012: III). Mit der Einführung der Kindergrundsicherung kann es möglich werden, dass ein Großteil der aktuell armutsbetroffenen Kinder und Jugendlichen die intergenerationale Weitergabe materieller Deprivation durchbrechen und es ihnen gelingt, in ihrem Erwachsenenleben nicht Beitragnehmer*innen, sondern Beitragszahler*innen zu werden. Die Kindergrundsicherung stellt also eine volkswirtschaftliche Investition dar, die Sozialausgaben nachhaltig minimiert.
3.4 Struktur der Kindergrundsicherung nach dem Modell der Volkshilfe
Die Anspruchsberechtigung für die einzuführende Kindergrundsicherung gilt für jedes in Österreich lebende Kind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Die Auszahlung erfolgt an die Erziehungsberechtigten, Staffelungen nach Alter oder Anzahl der Kinder fallen weg. Bei Doppelresidenzen ist eine Teilung entsprechend der Betreuungszeiten möglich. Die Höhe der Kindergrundsicherung richtet sich nach den vier Referenzbudgets für die kindlichen Teilhabedimensionen (materiell, sozial, kulturell und gesundheitlich) und beträgt bei Vollauszahlung 625 Euro pro Kind und Monat (vgl. Fuchs/Hollan 2018: 5). Die universelle Komponente mit 200 Euro pro Kind und Monat – dies entspricht dem monatlichen Familienbeihilfengrundbetrag für Kinder ab zehn Jahren mit 141,50 Euro und dem monatlichen Kinderabsetzbetrag mit 58,40 Euro – kommt weiterhin für alle Kinder und Jugendlichen in Österreich zur Auszahlung. Eine zweite, einkommensgeprüfte Komponente in der Höhe von maximal 425 Euro pro Kind und Monat richtet sich nach dem jährlichen steuerpflichtigen elterlichen Einkommen. Bis zu 20.000 Euro jährlichem Einkommen gelangt der Höchstbetrag der einkommensgeprüften Komponente zur Auszahlung, bis zur Obergrenze von 35.000 Euro erfolgt eine lineare Einschleifung, die garantiert, dass es zu keinen scharfen „Kanten“, also zu deutlich weniger Leistungen bei geringfügigem Mehrverdienst kommt. Bei Einkommen über der Obergrenze kommt nur die universelle Komponente von monatlich 200 Euro zum Tragen (vgl. ebd.: 6). Dies gilt ebenso für Kinder, die im Ausland leben und deren Eltern in Österreich arbeiten.
Wird die einkommensgeprüfte Komponente der Kindergrundsicherung unter Beibehaltung der Einschleifregelung nur für aktuell armutsgefährdete Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren ausgezahlt, so betragen die budgetären Kosten jährlich 1.093 Mio. Euro. 179.000 Minderjährige, das sind 76,5 Prozent der insgesamt 235.000 armutsgefährdeten Minderjährigen, erhalten die maximale einkommensgeprüfte Transferleistung in der Höhe von monatlich 425 Euro. Die durchschnittliche monatliche Leistung beträgt 388 Euro (vgl. ebd.: 12). Die Hauptvariante berücksichtigt grundsätzlich alle Minderjährigen, insofern das jährliche steuerpflichtige Einkommen der Eltern den Bedingungen der Einschleifregelung entspricht. Die einkommensgeprüfte Komponente verursacht in diesem Berechnungsmodell Mehrausgaben von gesamt 2.475 Mio. Euro, von der jedoch steuerliche Mehreinnahmen von 458 Mio. Euro durch die Streichung des Kinderfreibetrags und der Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten abzuziehen sind. Zudem sind innerhalb der universellen Komponente und im Vergleich zu den Kosten der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrages budgetäre Einsparungen von rund 96 Mio. Euro zu berücksichtigen. Die Nettokosten der Kindergrundsicherung für alle Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren betragen daher jährlich 1.921 Mio. Euro, sie kommt für 1.536.000 Minderjährige zur Auszahlung. Davon erhalten 309.000 (20,1 Prozent) den maximalen einkommensgeprüften Betrag von monatlich 425 Euro, für 847.000 Minderjährige (55,2 Prozent) kommt die einkommensgeprüfte Transferleistung nicht zum Tragen. Auf alle Minderjährigen unter 18 Jahren gerechnet werden monatlich durchschnittlich 134 Euro im Rahmen der einkommensgeprüften Komponente ausgezahlt (vgl. ebd.: 10). Die Einführung der Kindergrundsicherung senkt den Gini-Koeffizienten von 0,26 auf 0,25 und führt zu einer egalitäreren Einkommensverteilung. Sie senkt die Armutsgefährdungsrate von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren um 9,3 Prozent und die der Gesamtbevölkerung um 3,5 Prozent. Durch die Änderung des äquivalisierten Nettohaushaltseinkommens (gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen) werden dadurch besonders Personen der untersten drei Einkommensdezilen begünstigt (vgl. ebd.: 11).
4. Resümee
Mit der Durchführung des Kinderteilhabe-Modellprojekts und dem Entwurf einer österreichweiten Kindergrundsicherung verfolgt die Volkshilfe das Ziel, für alle Kinder und Jugendlichen in Österreich den Betrag von monatlich 625 Euro sicherzustellen, denn dies ist der Betrag, der zur Verwirklichung von Teilhabe und altersadäquater Entwicklung und Förderung in den kindlichen Lebenswelten und -dimensionen als materielle Basis benötigt wird. Können diese Aufwendungen durch das elterliche Einkommen nicht geleistet werden, so werden sie durch die Transferleistung Kindergrundsicherung aufgestockt. Für armutsgefährdete Kinder und Jugendliche, deren Eltern nicht mehr als 20.000 Euro im Jahr an Einkommen erzielen, wird der volle Betrag der Kindergrundsicherung in der Höhe von 625 Euro pro Monat (200 Euro universelle Komponente, 425 Euro einkommensgeprüfte Komponente) zur Auszahlung gebracht, um vorhandene Benachteiligungen in den Dimensionen materielle Versorgung, Bildung, Soziales sowie Gesundheit auszugleichen. Durch die kindzentrierte Gestaltung werden die Bedürfnisse des einzelnen Kindes/des*der Jugendlichen in den Mittelpunkt gerückt. Auch die betroffenen Eltern sollen unabhängig von der eigenen Einkommenssituation sicher sein, dass ihre Kinder am gesellschaftlichen Leben teilhaben und sich bestmöglich entwickeln können.
Die Volkshilfe als soziale Organisation und NGO sowie als Teil der sozialen Bewegung und engagierten Zivilgesellschaft in Österreich kooperiert mit den gesellschaftlichen Institutionen des Landes und kritisiert diese, wenn der Sozialstaat mit seinem zentralen Versprechen bricht, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Transformation und soziale Veränderung verlangen nach einem Narrativ, das über bloße Kritik hinausgeht. Will Soziale Arbeit wirksam sein, so hat sie über die Orientierung an individuellen Problemlagen hinauszugehen, sozial benachteiligte Gruppen zu ermächtigen, strukturelle Gewalt und Diskriminierung aufzuzeigen, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und den Entwurf einer Gesellschaft zu entwickeln, die in der Lage ist, gemeinschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Sie hat die Gesellschaft als Ganzes in den Fokus zu nehmen und sich für die Verbesserung der sozioökonomischen Bedingungen für benachteiligte Menschen einzusetzen. Die Einführung einer österreichweiten Kindergrundsicherung kann den gesellschaftlichen Missstand Kinderarmut aufheben und für jedes Kind und jede*n Jugendliche*n gesellschaftliche Partizipation, Anerkennung und Selbstverwirklichung sicherstellen. Mit dem Modell- und Forschungsprojekt „Kindern Teilhabe sichern“ nimmt die Volkshilfe diese Zukunft vorweg, unterstützt konkret Kinder und Jugendliche, die unter Bedingungen sozioökonomischer Benachteiligung aufwachsen, generiert valide Daten und Nachweise für das entworfene und berechnete Modell der Kindergrundsicherung und schafft damit die Voraussetzung für dessen landesweite Implementierung. Jedem Kind alle Chancen!
Verweise
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Über die AutorInnen
Direktor Mag. (FH) Erich Fenninger, DSA
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Mag.a (FH) Judith Ranftler, MA
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Dagmar Fenninger-Bucher, MA
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