soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 20 (2018) / Rubrik "Thema" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/582/1053.pdf


Tom Schmid:

Mehr Bürokratie wagen?

Regierung gegen Selbstverwaltung in der Sozialversicherung


1. Einleitung

Die – ehrenamtliche – Selbstverwaltung durch Vertreter*innen der Dienstgeber*innen (DG) und der Dienstnehmer*innen (DN) ist die Geschäftsführung der gesetzlichen Sozialversicherungen in Österreich. Dadurch wird den rechtskundigen und medizinischen Expertisen der qualifizierten Beschäftigten des jeweiligen Trägers die Praxiserfahrung der Mitglieder der Selbstverwaltung an die Seite gestellt, die aus ihrer beruflichen Wirklichkeit, etwa als Rechtsschutzsekretär einer Gewerkschaft oder als Bezirksstellenleiter*in einer Wirtschaftskammer, die konkreten Auswirkungen der einzelnen Entscheidungen auf die betriebliche und soziale Praxis kennen und einschätzen können. Durch eine komplexe Balance of Power zwischen den Vertreter*innen der DG und der DN wird die Suche nach dem Kompromiss, den beide Seiten mittragen können, zur Grundvoraussetzung jeder Entscheidung in der Sozialversicherung. Daher sind die Entscheidungen stabil, nachhaltig und halten auch den Wechsel politischer Mehrheiten in Bund und Ländern aus, ohne ihre Entscheidungspraxis revidieren zu müssen (siehe etwa Reischl/Schmid 1993, Schmid 2000, 2001, Gründler 2000, Rudda 2000, Schmid 2015). Für DG, DN und Leistungsbezieher*innen bedeutet das einen hohen Grad an Rechtssicherheit.

Bis jetzt. Die neue Bundesregierung plant im Zuge der Sozialversicherungsreform auch die Selbstverwaltung der Sozialversicherung wesentlich zu ändern und aus der Geschäftsführung der Sozialversicherung auf allen Ebenen zu entfernen (nachzulesen etwa in der Koalitionsvereinbarung von ÖVP und FPÖ vom Dezember 2017 oder im Kurier 22.5.2018).


2. Die Selbstverwaltung hat eine lange Tradition

Seit dem 18. Jahrhundert haben besonders exponierte Gruppen von Arbeiter*innen in Selbstorganisation gemeinsame Kassen geschaffen, um einander im Falle von Alter, Unfall oder sonstigen Notlagen abzusichern. Vorreiter waren die Bergleute, die auf Grund der besonders gefährlichen und risikoreichen Arbeit und der frühen Notwendigkeit, in großen Kollektiven zu arbeiten, sich recht früh knappschaftliche Versicherungskassen gegeben haben. Daneben waren es die Drucker und Setzer, die auf Grund ihres Berufes belesen waren und deren Wissensstand ihnen half, gewerkschaftliche Vereinigungen und solidarische Bruderladen zum gegenseitigen Schutz zu gründen (siehe z. B. Talos 1981, Hofmeister 1981). Im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert folgten weitere Berufsgruppen mit der Errichtung solidarischer Unterstützungskassen (siehe z. B. Weidenholzer 1985: 221), aber auch freiwillige Hilfskassen als sogenannte Vereine auf Gegenseitigkeit nach dem Vereinsgesetz von 1867 (Hofmeister 1981: 511).

Inspiriert von den bismarckschen Sozialgesetzen in den 1870er-Jahren, die von ihren Initiatoren als wichtiger Bestandteil der „Sozialistengesetze“ (Verbot der Sozialdemokratie) verstanden wurden (siehe z. B. Zöllner 1981, insbes. 83–96), war auch die kaiserliche Regierung an einer „positiven Bekämpfung“ der organisierten Arbeiter*innen-Bewegung durch „positive Reformen“ (Talos 1981: 49) interessiert. Dies sollte konkret z. B. durch Gewerbeinspektoren und die Organisation der Kassen mit Beteiligung von Unternehmern und Arbeitern erreicht werden. Mit den Sozialgesetzen (Gewerbeordnung von 1859 und 1883 sowie Kranken- und Unfallversicherungsgesetz von 1887/1888) wurden die Voraussetzung für die Befriedung geschaffen. (Talos 1981: 51). Weitere Motive der Sozialgesetzgebung in den 1880ern waren – als Lehre aus der Krise von 1873 – eine Förderung des Gewerbes, verbunden mit einer Zurückdrängung der Industrie. Daher wurde die Sozialversicherungspflicht und damit die Beitragslast nur für Industriebetriebe festgelegt, um Gewebebetrieben einen Kostenvorteil zu schaffen (Talos 1981: 43ff). Außerdem sollte durch den Arbeitsschutz (Kinder- und Jugendbeschäftigungsverbot, Frauennachtarbeitsverbot, Schutzgesetze für Schwangere) der Tauglichkeitsgrad der Rekruten wieder verbessert werden (Talos 1981: 46). Auch die k.u.k. Militärbehörden waren – in Sorge um eine ausreichende Zahl tauglicher Soldaten – eine Triebkraft der Sozialpolitik in den 1870er und 1880er-Jahren.

Die neu gegründeten gesetzlichen Sozialversicherungen waren (wie ihre Vorgängerorganisationen) durch gewählte Vertreter von Dienstgebern und Versicherten selbst verwaltet (NÖGKK o.J.: 19). Die erste gesetzliche Pensionsversicherung wurde 1905 für Angestellte gegründet (Talos 1981: 117) und ebenfalls in Selbstverwaltung organisiert. Im ersten Weltkrieg wurden – für die Dauer des Krieges – die Kompetenzen der Selbstverwaltung eingeschränkt und die der Vorstände bei den Trägern deutlich ausgeweitet. (Wedrac 2014: 120)

Nach der Revolution 1918 wurden (neben der Neuerrichtung der Arbeiterkammern und der Arbeitslosenversicherung, siehe Hautmann/Kropf 1974) auch die Sozialversicherungen neu organisiert. Dabei wurde am bewährten Prinzip der Selbstverwaltung festgehalten. Die in Direktwahlen durch die Versicherten gewählten Versicherungsvertreter*innen setzten sich im Verhältnis 4/5 DN zu 1/5 DG zusammen, der Vorstand wurde nach demselben Verhältnis zusammengesetzt, der Überwachungsausschuss nach dem umgekehrten Verhältnis (1/5 DN, 4/5 DG). Bei der Pensionsversicherung betrug das Zahlenverhältnis 2/3 DN zu 1/3 DG, bei der Unfallversicherung, die versicherungsrechtlich als Haftpflichtversicherung der DG gilt, gab es ein paritätisches Verhältnis (Wedrac 2014: 123ff). Diese Aufteilung zwischen Dienstgebervertreter*innen und Dienstnehmervertreter*innen wurde im Prinzip bis heute beibehalten.

Durch die Urwahlen der Versichertenvertreter*innen ergab sich in der ersten Republik in den Verwaltungskörpern der Sozialversicherung auf Dienstnehmerseite immer ein großer Überhang der Freien Gewerkschaften (Mulley 2014: 67). Die Versichertenvertreter*innen wurden in freier, geheimer und direkter Wahl von den Wähler*innen (getrennt nach DG und DN) gewählt; die Funktionsperiode betrug vier Jahre. Die Tätigkeit wurde ehrenamtlich ausgeübt. Aufsichtsbehörde war das Sozialministerium (Wedrac 2014: 125f).

Nach der Ausschaltung der Arbeiter*innenbewegung im Jahr 1934 (siehe Hautmann/Kropf 1974) wurde auch die Selbstverwaltung in den Sozialversicherungen an die Kandare genommen. Die Urwahl der Versichertenvertreter*innen wurde durch eine Nominierung durch die Interessensvertretungen ersetzt. Instrument dazu war das Gewerbliche Sozialversicherungsgesetz (GSVG) von 1935. Dieses brachte eine erhebliche Konzentration und Vereinfachung der gesamten Sozialversicherung, den Krankenversicherungsträgern wurde die Mitwirkung an der Verwaltung der übrigen Versicherungszweige (zum Beispiel die Einhebung der Beiträge1) übertragen (Hofmeister 1981: 653f). Die Staatsaufsicht wurde erweitert, neben dem Sozialminister erhielten auch die Landeshauptleute Aufsichtsfunktionen in der Sozialversicherung. Dies wurde von der Regierung als neue „Politik der Sachlichkeit“ bezeichnet (Talos 1981: 268ff).

Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen im Jahr 1938 wurde auch das österreichische Sozialversicherungsrecht abgeschafft und schrittweise durch die entsprechenden reichsdeutschen Gesetze, die bereits länger nach dem faschistischen Führerprinzip geordnet waren, ersetzt. Mit 31.12.1938 wurden die alten österreichischen Träger aufgelöst und ihr Eigentum an entsprechende reichsdeutsche Versicherungsträger überführt. Dabei wurde auch die organisatorische Trennung der Krankenversicherung von Arbeiter*innen und Angestellten aufgehoben, für Arbeiter*innen wurde erstmals eine gesetzliche Pensionsversicherung geschaffen (Talos 1981: 292f). Talos beschreibt dies wie folgt:

„Hinsichtlich der Verwaltungsstruktur hatte schon der ‚Ständestaat‘ den Weg zur Einschränkung der Selbstverwaltung beschritten. Der Nationalsozialismus brachte in dieser Frage eine noch radikalere Lösung, indem er die Selbstverwaltung überhaupt beseitigte.“ (Talos 1981: 293)

Die Überführung der Selbstverwaltung von einer direkt gewählten zu einer abgeleiteten Vertretung durch das GSVG 1935 war auch für die spätere Konstituierung einer demokratischen Sozialversicherung nach 1945 richtungsweisend:

„In Hinblick auf die spätere Haltung des SV-ÜG […] richtungsweisend war ferner der durch das GSVG (§ 23) vollzogene Übergang zur ‚abgeleiteten Selbstverwaltung‘ (Bestellung der Versicherungsvertreter durch die Interessensvertretungen statt durch Wahl). Da die Interessensvertretungen ihrerseits zu jener Zeit nicht nach demokratischen Prinzipien zusammengesetzt waren und überdies die Staatsaufsicht (§§ 39ff) entschieden verstärkt wurde, war mit dem GSVG 1935 eine erhebliche Einschränkung der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger verbunden.“ (Hofmeister 1981: 655)2

Dieser 12 Jahre dauernde Zustand der Ausschaltung der Selbstverwaltung trug nach 1945 „zur Entfremdung zwischen Versicherten und Versicherungsträgern bei. Ein Problem, dass trotz Re-Etablierung der Selbstverwaltung nach 1945 fortdauern sollte.“ (Talos 1981: 299)

Nach 1945 bestanden Bestrebungen, das Sozialversicherungsrecht wieder zu austrifizieren, jedoch die leistungsrechtlichen und organisatorischen Verbesserungen (z. B. Pension für Arbeiter*innen, gemeinsame Krankenversicherung für Arbeiter*innen und Angestellte), die durch die Übernahme der reichsdeutschen Gesetze möglich geworden sind, beizubehalten. Eine erste Kodifizierung erfolgte 1947 durch das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz (SV-ÜG) (Talos 1981: 343f, Hofmeister 1981: 664f). Einen ersten Abschluss fand die Neufassung des österreichischen Sozialversicherungsrechtes im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG), das 1955 beschlossen wurde und am 1.1.1956 in Kraft trat. Es regelt die Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung für die meisten Gruppen der unselbständig Beschäftigten sowie organisatorische Belange der gesetzlichen Sozialversicherungen. (Talos 1981: 345ff, Hofmeister 1981: 671ff). In den sechziger Jahren wurden mit dem GSVG (Gewerbetreibende), dem FSVG (Freiberufler), dem BSVG (Bauern) und dem N-VG (Notare) sowie dem Kranken- und Unfallversicherungsrecht für pragmatisierte Beamt*innen (B-KUVG) die meisten anderen Beschäftigtengruppen in die gesetzliche Sozialversicherung einbezogen. Ein letzter Lückenschluss erfolgte 1997, als durch Novellen zum ASVG und zum GSVG auch Werkverträge und Freie Dienstverträge in die Pflichtversicherung einbezogen wurden und auch die Versicherungspflicht beim Zusammenfallen mehrerer geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse bzw. einer geringfügigen mit einer vollversicherungspflichtigen Beschäftigung neu geregelt wurde (Schmid 1999). Damit sind gegenwärtig in Österreich rund 98 Prozent der Bevölkerung als Selbst- oder Mitversicherte von der gesetzlichen Sozialversicherung geschützt. Österreich ist der einzige Staat in der EU, in dem nicht nur unselbständige, sondern auch nahezu alle selbständigen Beschäftigungsverhältnisse der Pflichtversicherung unterliegen und damit in Schutz und Beitragssolidarität einbezogen sind (Schmid 2010).

Bereits im Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz wurden die Weichen für die Stellung der Selbstverwaltung gestellt. Man hat sich hier bewusst dafür entschieden, auf eine neuerliche Einführung von Urwahlen, wie es sie vor 1935 gegeben hat, zu verzichten und sich auf das Delegationsprinzip durch die Interessensvertretungen der DG und DN geeinigt. Später kam die Befürchtung dazu, dass eine geringe Wahlbeteiligung bei Urwahlen die Legitimität der Selbstverwaltung eher gefährden würde als die indirekte Wahl durch anerkannte gesetzliche Interessensvertretungen. Diese Befürchtung rühte auch vom Blick auf die Situation in Deutschland her, wo es Urwahlen mit chronisch niedriger Wahlbeteiligung und daher sogenannte Friedenswahlen (indirekte Wahlen) gab und gibt. Geppert argumentiert z. B. 1993 über die Sinnhaftigkeit des Entsendungsmodells: „Die Rückkoppelung mit der Basis (Versichertengemeinschaft) ist durch die zu diesen Interessensvertretungen alle fünf Jahre gegebenen (Direkt-) Wahlen gegeben.“ (Geppert 1993: 139)

Erstmals wurde die Selbstverwaltung im Jahr 1994 umfassend reformiert. Dabei wurde die Zahl der Versichertenvertreter*innen von etwa 3.000 auf knapp über 1.000 reduziert. Bereits diese Veränderung ist im Nachhinein als Versuch zu verstehen, den Einfluss der organisierten Arbeiter*innenbewegung in der gesetzlichen Sozialversicherung zu schwächen. Bei dieser Reform wurden die Hauptversammlungen personell um zwei Drittel reduziert, es wurden im Gegenzug beim Hauptverband und bei den Versicherungsträgern Beiräte eingerichtet, in denen nicht nur DG und DN, sondern auch Gruppen von Leistungsbezieher*innen (behinderte Menschen, Pensionist*innen) vertreten sind. Allerdings haben die Beiräte nur beratende und keine beschließende Funktion. (Leutner et.al. 1994: 4ff)

Die nächste große Reform der Selbstverwaltung der Sozialversicherung wurde durch die erste schwarz-blaue Regierung nach dem Jahr 2000 umgesetzt, offensichtlich um den Widerstand der Selbstverwaltung gegen die Reformen von schwarz-blau (siehe z. B. Sallmutter 2000) vor allem im Pensionsrecht zu brechen. Mulley kommentiert das 2014 kritisch:

„Der 2001 parteipolitisch motivierte Eingriff in die Struktur der Selbstverwaltung (‚Umfärbelung‘), verbunden mit der Abberufung des damaligen Präsidenten des Hauptverbandes und einer Neubestimmung des Entsendemodus der Versicherungsvertreter*innen bedeutete einen in der Geschichte der Zweiten Republik einzigartigen Eingriff in die Arbeitnehmermitbestimmung.“ (Mulley 2014: 78).

Diese Reform wurde 2001 umgesetzt und betraf vor allem eine Umgestaltung des Hauptverbandes sowie des Entsendemodus der Versicherungsvertreter*innen. Neu geschaffen wurde ein Verwaltungsrat aus 14 stimmberechtigten Mitgliedern, die je zur Hälfte von DG und DN beschickt werden. Aus ihrem Kreis ist ein*e Präsident*in zu wählen, deren*dessen Amtszeit vier Jahr beträgt. Der neue Aufbau des Hauptverbandes unterscheidet sich nunmehr wesentlich vom – nicht veränderten – Aufbau der einzelnen Träger (Rudda 2001: 716ff, Pöltner 2005). Seit dieser Reform wird die*der Präsident*in des Hauptverbandes nicht mehr durch die Dienstnehmer*innenseite gestellt, sondern gehört der Dienstgeber*innen-Kurie an. Außerdem wurde auf Grund der neu zusammengesetzten Gremien eine ÖVP-Mehrheit in den Entscheidungsgremien garantiert, sodass von einer „doppelten Umfärbung“ der Spitze der gesetzlichen Sozialversicherung gesprochen werden kann: Nunmehr ist der Einfluss der DG größer als jener der DN und aus einer deutlichen SPÖ-Mehrheit in den leitenden Gremien der gesetzlichen Sozialversicherung ist mittlerweile eine ÖVP-Mehrheit geworden. Aus der Zeit heraus kann man die Reform von 2001 durchaus als Lex Sallmutter verstehen, weil es der Bundesregierung (auch) darum gegangen ist, den kritischen GPA-Vorsitzenden und Hauptverbandspräsidenten aus der Selbstverwaltung auszugrenzen (siehe Rudda 2001: 716f, Schmid 2015: 91).

Wohl auch als Schlussfolgerung gegenüber verschiedenen Angriffen und Vorstößen gegen die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Sozialversicherung gelang es im Jahr 2008, die „nichtterritoriale Selbstverwaltung“ in der Bundesverfassung zu verankern. In den neu geschaffenen Verfassungsartikeln 120 a–120 c B-VG wurde die Selbstverwaltung nichtterritorialer Träger, also auch der gesetzlichen Sozialversicherung, in der Bundesverfassung verankert. Geregelt werden Zulässigkeitskriterien ihrer Einrichtungen, die Vorgaben für den eigenen und übertragenen Wirkungsbereich, das Erfordernis der Rechtsaufsicht, das autonome Satzungsrecht und die demokratische Legitimation der Selbstverwaltungsorgane, die Finanzierung sowie die Reichweite der privaten Rechtsfähigkeit. (Eberhard 2014: 176f)


3. Selbstverwaltung ist die Geschäftsführung der Sozialversicherung

Die Selbstverwaltung und nicht die bürokratische Struktur der Sozialversicherungsträger führt die Geschäfte der Sozialversicherung – auf allen Entscheidungsebenen. Sie ist im Rahmen der Gesetze weisungsfrei, unterliegt aber der Aufsicht durch das Sozial- und Gesundheitsministerium. Sie ist ehrenamtlich tätig, einigen leitenden Funktionär*innen der Selbstverwaltung gebührt eine (steuerpflichtige) Aufwandsentschädigung. Sie trägt die Letztverantwortung für die Geschicke von rund acht Millionen Selbst- oder Mitversicherten sowie als Dienstgeber für etwa 28.000 Beschäftigte bei den Sozialversicherungsträgern und dem Hauptverband.

Die historische Entwicklung zeigt, so Weissenberg, dass die Selbstverwaltung der Sozialversicherung über die allgemeinen Aufgaben einer Selbstverwaltung hinaus besondere Sonderfunktionen zu erfüllen hat. Diese liegen einerseits in ihrem besonderen Auftrag, die vom Staat eingerichtete und garantierte soziale Sicherheit im sozialstaatlichen Sinn zu verwalten und hierfür demokratische Verwaltungsstrukturen anzuwenden. Andererseits hat sie diese Verwaltung jenen Gruppen im Staat anzuvertrauen, die nicht nur die an der Sozialversicherung beteiligten Personen, sondern auch maßgeblich die Entwicklung der Sozial- und Wirtschaftspolitik als Ganzes und damit auch der Sozialversicherung im Besonderen repräsentieren. Die soziale Selbstverwaltung steht daher nicht, wie es der ursprünglichen liberalistischen Abwehrfunktion der Selbstverwaltung entspricht, im Gegensatz zum Staat, sondern ist Vermittler zwischen seinen Aufgaben und den davon Betroffenen. (Weissenberg 1973: 35)

Die Selbstverwaltung ist ein typisches Element der österreichischen Sozialpartnerschaft. Diesem politischen Regimemodell steht nicht die Mehrheitsentscheidung eingeschrieben, sondern die Lösung im Kompromiss. Wenn eine Lösung im Kompromiss gefunden wird, ist sie – so die Überlegung – für jede der beiden Seiten (unter Umständen gerade noch) tragbar und wirkt daher nachhaltig. Sallmutter weist darauf hin, dass beide Interessensgruppen (DG wie DN) mit der gesetzlichen Sozialversicherung verbunden und in ihren Gremien vertreten sind. Sie führen als Selbstverwaltung gemeinsam die Geschäfte der Sozialversicherung: „Diese wechselseitige Eingebundenheit garantiert, dass weder die Interessensvertretungen der Dienstnehmer noch jene der Dienstgeber Maßnahmen setzen oder mittragen würden, die gegen die Lebensfähigkeit der Sozialversicherung gerichtet sind. Wären nicht beide ‚Sozialpartner‘ in die Geschäftsführung der Sozialversicherung eingebunden, wäre diese kompromissorientierte Politik im Interesse der Versicherten nicht mehr im selben Ausmaß garantiert.“ (Sallmutter 1998a: 40).

Umgekehrt heißt das, wenn die Sozialpartnerschaft erodiert oder gar das Politikregime des Kompromisses durch eines des Mehrheitsbeschlusses abgelöst wird, ist auch die Selbstverwaltung der Sozialversicherung in Gefahr. In einer Mehrheitsdemokratie ist ihre Notwendigkeit nicht mehr so zwingend gegeben wie in einer Kompromissdemokratie (siehe z. B. Schmid 2000) und die Selbstverwaltung müsste sich daher aus sich selbst heraus neu definieren.


3.1 Der Aufbau der Selbstverwaltung in der österreichischen Sozialversicherung (top-down-Blick)

Die Selbstverwaltung bei den Trägern ist nach den gleichen Organisationsprinzipien aufgebaut, bestehend aus einer Generalversammlung als rechtssetzendem Organ. Die Größe hängt vom Träger ab, die Zusammensetzung beträgt bei Krankenversicherungen 4/5 DN und 1/5 DG, bei der Pensionsversicherung 2/3 DN und 1/3 DG; bei der Unfallversicherung besteht Parität zwischen DN und DG.3 Damit sind sowohl die leistungsbegünstigten wie die mitzahlenden Gruppen in der Selbstverwaltung vertreten. Die Generalversammlung wählt aus ihrem Kreis den Vorstand (der im selben Verhältnis wie die Generalversammlung beschickt wird) und die Kontrollversammlung (die mit einem reziproken Verhältnis beschickt wird). Bei wesentlichen außerplanmäßigen Vorhaben ist ein Einvernehmen von Vorstand und Kontrollversammlung notwendig. Bundesweit auftretende Träger verfügen noch über Landesstellenausschüsse, die ebenfalls von der Generalversammlung gewählt werden.

Diese verschränkten Mehrheitsverhältnisse von Organisationen der DG und DN garantieren schon im Organisationsaufbau den Kompromiss als grundlegendes Entscheidungsprinzip. Beschlüsse kommen nur dann rechtskräftig zustande, wenn sie durch einen Kompromiss von Dienstgeber*innen- und Dienstnehmer*innen-Organisationen getragen werden, weil sie sowohl im Vorstand wie in der Kontrollversammlung eine Mehrheit finden müssen. Neben den Verwaltungskörpern wird beim Träger noch ein Beirat gebildet, der kein Verwaltungskörper ist und nur beratende Funktion hat. Er wird von Organisationen der DG und der DN, von Organisationen der Pensionist*innen und dem österreichischen Behindertenrat beschickt. Damit haben auch die nicht (mehr) berufstätigen Leistungsbezieher*innen in der Selbstverwaltung eine (beratende) Stimme. Der Selbstverwaltung ist für die Umsetzung der Aufgaben ein Büro beigestellt, geleitet von einer*m Leitenden Angestellten, die*der die Spitze der Bürokratie des einzelnen Trägers bildet.

Der Hauptverband als Dach der (derzeit 22) Sozialversicherungsträger4 wird von den Selbstverwaltungen der einzelnen Träger beschickt. Rechtsetzendes Organ ist die Trägerkonferenz, die von den Generalversammlungen der Träger beschickt werden und aus dem Kreis der Entsandten einen Vorsitz wählen (derzeit – 2018 – die Obfrau der Wiener Gebietskrankenkasse). Der Verbandsvorstand ist das geschäftsführende Organ des Hauptverbandes und wählt an seiner Spitze eine*n Präsident*in (die Funktionsperiode beträgt vier Jahre). Im Hauptverband sind DG und DN paritätisch vertreten, die*der Präsident*in wird von den Dienstgeber*innenorganisationen gestellt. Auch dem Hauptverband ist ein Beirat beigeordnet, der von den Beiräten der Träger beschickt wird.

Die Sozialversicherung wird von ihrer Selbstverwaltung geführt und agiert weisungsfrei, unterliegt aber der staatlichen Aufsicht und Kontrolle durch das Sozial- und Gesundheitsministerium sowie den Bundesrechnungshof. Die Tätigkeit der Selbstverwaltung ist ehrenamtlich, es werden nur Aufwände ersetzt. Einige Mitglieder der Selbstverwaltung (z. B. Obleute und ihre Stellvertreter*innen) haben Anspruch auf eine Funktionsgebühr. Für die etwa 1.200 Mitglieder der Selbstverwaltung werden 2018 rund 3,6 Millionen Euro budgetiert (Kurier 22.5.2018). Das macht bei etwa 60 Milliarden Euro Jahresausgaben der Sozialversicherung gerade 0,006 Prozent der Gesamtaufwendungen aus. Um diese niedrigen Kosten werden alle Entscheidungen der gesetzlichen Sozialversicherung und ihrer Träger getroffen und verantwortet. Würde die Selbstverwaltung in dieser Entscheidungs- und Verantwortungstätigkeit durch „ortsüblich“ entlohnte Manager*innen ersetzt werden, wäre die Verwaltung der sozialen Sicherheit viel teurer.


3.2 Die Selbstverwaltung als Brücke zwischen Versicherten und Versicherung (bottom-up-Blick)

Bei den einzelnen Sozialversicherungsträgern entscheiden Mitglieder der Selbstverwaltung, unterstützt von Angestellten des Trägers, etwa dem chefärztlichen Dienst, über jeden einzelnen Antrag der Versicherten. Die Selbstverwaltung bildet also das Rückgrat der einzelnen Entscheidungen im Sozialrecht in erster Instanz. So entscheiden in den Leistungsausschüssen der Pensionsversicherung zwei Mitglieder der Selbstverwaltung (je ein*e Vertreter*in der DG und der DN) gemeinsam nach entsprechendem Vorschlag des chefärztlichen Dienstes jeden einzelnen Invaliditätspensions-, Rehabilitations- oder Pflegegeldantrag. Der Vorschlag des chefärztlichen Dienstes dient dieser Entscheidung als Orientierungshilfe, die Selbstverwaltung muss ihm aber nicht folgen. Die Selbstverwaltung bildet daher in jedem Einzelfall die konkrete Brücke zwischen den Gesetzen und der Versicherung auf der einen und den einzelnen Versicherten auf der anderen Seite. Wir (Reischl/Schmid 1993) haben daher bereits 1993 die Selbstverwaltung als die eigentliche Managementreserve der Sozialversicherung bezeichnet:

„In der Mittlerfunktion zwischen Versicherung und Versicherten liegt heute die eigentliche ungenützte ‚Managementreserve‘ der Selbstverwaltung der österreichischen Sozialversicherung. Sie besteht vor allem in einer Brückenfunktion zwischen Versicherten und den Versicherungsträgern. Hemmschwellen der Versicherten können vermindert werden und ihr Verständnis gegenüber den Entscheidungen der Anstalt (auch gegenüber erhaltenen Bescheiden) kann erhöht werden. Bedürfnisse können erfasst und vermittelt werden. Dadurch wird die Versicherung versichertennäher entscheiden, die Akzeptanz der Versicherten gegenüber der Versicherung steigen.“ (Reischl/Schmid 1993: 474).

In der aktuellen Diskussion geht diese wertvolle Brückenfunktion zwischen Versicherten und Versicherung leider unter, die vor allem darin besteht, im jeweiligen Einzelfall den Fachblick der Jurist*innen und Mediziner*innen mit der beruflichen Erfahrungspraxis der Selbstverwaltungsmitglieder zu verbinden und daraus sozial abgestimmte und verstandene Entscheidungen zu machen. Momentan hingegen wird nur die Führungsfunktion der Selbstverwaltung gesehen und thematisiert, und von einer „notwendigen radikalen Reduktion“ der Zahl von 2000 Funktionär*innen gesprochen. Damit wird seitens der Bundesregierung eine Schwächung der Sozialpartnerschaft in der Führung der Sozialversicherung angesprochen. Die wesentliche Brückenfunktion bei der Entscheidung im Einzelfall, die durch solch eine Reduktion faktisch zerstört werden würde, bleibt hier aber außerhalb der Betrachtung. Die Diskussion um die Reduktion der Zahl der Mitglieder der Selbstverwaltung ist nicht neu. Wenn man von einer Reduktion der Mitglieder der Selbstverwaltung ausgeht, meinten wir aber 1993, „die Begründung der konkreten Anzahl der Mitglieder der Hauptversammlung kann nur über deren Aufgabe als Versicherungsvertreter erfolgen.“ (Reischl/Schmid 1993: 473). Dem ist nichts hinzuzufügen.

Aus der Möglichkeit des Trägers, im Rahmen der gesetzlichen Spielräume für den eigenen Träger nach Maßgabe der ökonomischen Möglichkeiten und der Bedürfnisse der Versicherten satzungsmäßige Mehrleistungen zu setzen, entstehen Spannungen. Diese werden umso größer, je größer die Mobilität der Bevölkerung ist. So erleben Personen durch eigene Mobilität unterschiedliche Leistungswirklichkeiten einzelner KV-Träger – die ja ans Territorialprinzip gebunden sind –, sei es, weil sie beruflich zwischen Bundesländern wechseln oder weil sie in einem anderen Bundesland arbeitslos sind (Schicksal von Pendler*innen) und nun neue Leistungsgrenzen erleben, oder auch weil Angehörige des selben Privathaushaltes in unterschiedlichen Bundesländern berufstätig sind. Hier werden die satzungsmäßigen Mehrleistungen schon lange nicht mehr als erwünschter Spielraum der eigenen Sozialversicherung verstanden, sondern als unerklärliche Schikane einer anonym wirkenden Behörde. Hier liegt es in der (in der Vergangenheit leider nicht immer wahrgenommenen) Verantwortung der Selbstverantwortung, das Gesamtinteresse höher zu halten als einzelne Trägeregoismen.

Nachdem schon in der Vergangenheit einige Unterschiede zwischen den KV-Trägern der Unselbständigen angeglichen worden sind, hat die vorhergehende Bundesregierung die London School of Economics (LSE) beauftragt, in einer Studie die Leistungsunterschiede in den Krankenversicherungen zu erheben und Verbesserungsvorschläge zu entwerfen (siehe Mossialos 2017, Czypionka 2017, Pfeil 2017). Als Ergebnis beschloss bereits die damalige Bundesregierung, die Unterschiede zumindest im Bereich der Krankenversicherungen der Unselbständigen auf dem jeweils höchsten Niveau gesetzlich anzugleichen. Mit 1.9.2018 gibt es im Bereich der Krankenversicherungen der Unselbständigen auch im Bereich der „satzungsmäßigen Mehrleistungen“ ein einheitliches Leistungsrecht. Sonderbestimmungen (andere, zum Teil bessere Leistungen, aber auch andere Beitragsregelungen und Selbstbehalte) gibt es weiterhin im Bereich der Krankenversicherungen der Selbständigen (Bauern, Gewerbetreibende), des Öffentlichen Dienstes (inklusive der Krankenfürsorgeanstalten der Gemeinden) und der Versicherungsanstalt der Eisenbahnen und des Bergbaues. Hier sind im Koalitionsabkommen vom Dezember 2017 auch keine Änderungen (weitere Angleichungen) angedacht (Koalitionsabkommen 2017).

In der Sozialen Arbeit ist die Selbstverwaltung der Sozialversicherung weitestgehend unbekannt, vor allem jene Funktionen, die vorhergehend als bottom-up-Funktionen beschrieben werden. Dort, wo Sozialarbeiter*innen in beratender oder unterstützender Funktion von dieser Entscheidungsfindung im Einzelfall (Antrag auf Rehabilitation Invaliditätspension, Pflegegeld, etc.) der Selbstverwaltung in erster Instanz wissen und wo auch persönliche Kontakte mit den handelnden Personen bestehen, kann im Einzelfall um entsprechende Unterstützung gebeten werden. Freilich kann sich auch die Selbstverwaltung nicht über bestehende Gesetze hinwegsetzen, aber sie ist jene Instanz, die bereits vor der Entscheidung in erster Instanz eingreifen kann, wenn Fehler bei der Befundung (z. B. schlampige Untersuchung, Nichtkenntnis von Vorbefunden) vermutet werden – falls sie denn vor ihrer Entscheidung davon erfahren. Je besser dieser Informationsfluss funktioniert, desto mehr falsche (und in der Zweitinstanz aufgehobene) Bescheide können vermieden werden, was den Betroffenen viele Belastungen erspart. Viele Betriebsrät*innen wissen davon und nutzen diese Kontakte, in der Sozialen Arbeit ist dieser Weg (noch?) weitgehend ungenutzt.


4. Selbstverwaltung der Sozialversicherung unter Beschuss

Nicht nur die gesetzliche Sozialversicherung selbst, der im Diskurs immer wieder eine Versicherungspflicht auf dem privaten Versicherungsmarkt gegenüber gestellt wird, auch die Selbstverwaltung der Sozialversicherung ist seit einiger Zeit unter Beschuss. In verstärktem Ausmaß seit den späten 1980er-Jahren, wie im historischen Abriss gezeigt wurde. Da es sich bei der Selbstverwaltung und ihrem Bestreben nach Interessensausgleich und Kompromiss um ein „Kind“ der Sozialpartnerschaft handelt, ist sie insbesondere dann gefährdet, wenn die Sozialpartnerschaft und ihr Interessensausgleich selbst deutlich an Einfluss verlieren. Das war in der Regierungsperiode zwischen 2000 und 2006 der Fall und scheint nunmehr wieder aktuell zu werden. Dabei wird vor allem die Lenkungsfunktion der Selbstverwaltung, die vorhergehend als top-down-Steuerung beschrieben wurde, angegriffen, die bottom-up-Funktionen spielen in diesen Diskursen kaum eine Rolle.

Offensichtlich kommt es immer dann, wenn die Arbeiter*innenbewegung auf Grund krisenhafter wirtschaftlicher Entwicklungen in die Defensive gerät, seitens der Unternehmer*innenseite in der Politik zu jenen Bestrebungen, die Talos bezogen auf die Zwischenkriegszeit als das Wegräumen des „revolutionären Schutts“ bezeichnet hat. Damit bezeichnet er jene sozialpolitischen Gesetze, die dem Kapital nach 1918 abgerungen werden konnten. (Talos 1981: 143ff). Offensichtlich werden in der Reformvorlage vom September 2018 neue Möglichkeiten gesehen, den Sozialstaat umfassend rückbauen zu können. Dies wird im Koalitionsabkommen der aktuellen Regierung auch als Abbau von Gold-Plating bezeichnet, also von Regelungen, die in Österreich besser sind als es EU-Normen verlangen (siehe Koalitionsabkommen 2017). Ziel ist die Verbesserung der Ertragslage der heimischen Betriebe. Dieses Wegräumen des „revolutionären Schutts“ wird insbesondere dort betrieben, wo dies unmittelbar verteilungsrelevant wird und zielt darauf ab, Lohnnebenkosten zu senken.

Wenn die Bundesregierung plant, die Zahl der Sozialversicherungsträger wesentlich zu reduzieren, geht es dabei, so meine These, nicht um wesentliches Senken von Kosten – wenn die Aufgaben gleich bleiben, werden sich die Kosten auch nicht wesentlich reduzieren lassen, wie man auch beim Zusammenlegen der Pensionsversicherungsträger gesehen hat. Es geht bei der Errichtung übergroßer Träger um ein Weniger an Versichertennähe – es werden weniger Entscheidungen dezentral getroffen werden können – und um eine wesentliche Reduktion der Zahl der Mitglieder der Selbstverwaltung (der erwähnte Kurierartikel vom 22.5.2018 spricht davon, die Zahl der Mitglieder von 2000 auf 400 zu vermindern). Das eigentliche Ziel dieser Maßnahme ist nicht ein Mehr an Verteilungsgerechtigkeit, sondern ein Weniger an Selbstvertretung und Mitbestimmung.


5. Versäumnisse und Schwächen

An dem Zustand, der es der Bundespolitik offensichtlich leicht macht, die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung als zu teure und daher verzichtbare Institution zu kommunizieren, sind die Vertreter*innen der Selbstverwaltungen (und damit letztendlich die Sozialpartner*innen) zu einem Teil selbst schuld. Vereinfacht kann gesagt werden, dass sich die Selbstverwaltung bislang zu sehr um die Macht und zu wenig um die Hegemonie, sprich um die Unverzichtbarkeit in der Wahrnehmung der Versicherten und der Beitragszahler*innen, gekümmert hat.

Der geringe Bekanntheitsgrad der Selbstverwaltung und ihrer Aufgaben, insbesondere ihrer bottom-up-Funktionen bei Versicherten und Beitragszahler*innen, begleitet die gesetzliche Sozialversicherung bereits seit Jahrzehnten. Empirisch nachgewiesen wurde dieser etwa bei der Bevölkerungsbefragung zur sozialen Sicherheit im Jahr 1997 im Auftrag des Hauptverbandes. Hier wurde auch der Bekanntheitsgrad der Selbstverwaltung abgefragt: Nur rund ein Viertel der Befragten (26 Prozent) gab an, im Zusammenhang mit der Sozialversicherung schon einmal den Begriff Selbstverwaltung gehört oder gelesen zu haben. Die Selbstverwaltung der Sozialversicherung ist bei allen ausgewiesenen Sozialgruppen nur einer Minderheit geläufig: Selbst bei der oberen Bildungsschicht (Maturant*innen, Akademiker*innen) verbindet nur jede*r dritte diesen Begriff mit der Sozialversicherung, bei der unteren Bildungsschicht gar nur sechs Prozent. Auch innerhalb der Opinion-Leader (Politiker*innen, Journalist*innen) konnte eine Mehrheit (57 Prozent) mit dem Begriff Selbstverwaltung in diesem Zusammenhang nichts anfangen (IFES/Fessel-GK 1998: 39). Heute dürften diese Werte nicht besser, eher schlechter sein.

Dieses Signal wurde Ende der 1990er-Jahre von der Gewerkschaftsführung durchaus ernst genommen und aufgegriffen: „Die Versichertenvertreter müssen in der Öffentlichkeit verstärkt präsent sein. Sie müssen persönlich bekannt sein. Sie müssen erkennbar und offensiv für die Versicherten und ihre Anstalten auftreten können.“ (Sallmutter 1998b: 71). Diese Anforderung wurde aber leider von Basis und Mittelbau der Gewerkschaften nicht aufgegriffen. Es wurde damals etwa diskutiert, jeder*m Versicherten einen Brief mit Dienstadresse und Telefonnummer der nächstgelegenen Versichertenvertreter*innen zuzusenden. Dieses Vorhaben wurde aber von den Gewerkschaftsfunktionär*innen mehrmals verworfen, was damit begründet wurde, dass sich dann niemand mehr für die Funktion der Versichertenvertreter*in zur Verfügung stellen würde.

Das betrifft bereits das zweite große Problem, die oft mangelhafte fachliche Qualifikation der Versichertenvertreter*innen. Stabile, aktuelle und belastbare Qualifikationen im Sozialrecht und in sozialpolitischen Fragen finden sich bei den mit Funktionen betrauten Mitgliedern der Selbstverwaltungen, aber offensichtlich nicht im notwendigen Ausmaß bei den „einfachen“ Mitgliedern der Hauptversammlungen und Beiräte – also bei jenen Mitgliedern der Selbstverwaltung, die berufen sind, die angesprochene Brückenfunktion bottom-up mit Leben zu erfüllen. Das Problem haben wir – wie sich später herausgestellt hat, relativ erfolglos – bereits 1993 angesprochen:

„[V]on Mitgliedern der Selbstverwaltung wird die geringe fachspezifische Aus- und Weiterbildung als Defizit erlebt und die Überfrachtung der Ausschüsse und des Vorstands mit Routinefragen als störend und arbeitshemmend empfunden.“ (Reischl/Schmid 1993: 473).

Die Verbesserung der Ausbildung der Versicherungsvertreter*innen ist also kein neues Anliegen. Bereits Adolf Czettel hat in seiner Funktionsperiode als Präsident des Hauptverbandes (1984–1988) großen Wert auf die qualifizierte Ausbildung von Versicherungsvertreter*innen gelegt. Wenn Czettel länger gelebt hätte, wäre dies möglicherweise wirklich umgesetzt worden.

Schließlich ist auch die geringe Transparenz der Entsendung der Versichertenvertreter*innen kritisch zu bewerten. Die alle fünf Jahre durchgeführten Wahlen zu den gesetzlichen Interessensvertretungen (Arbeiterkammern, Wirtschaftsammern) entscheiden zwar auch über die Zusammensetzung der Selbstverwaltungskörper, denn die Kammerwahlergebnisse werden direkt auf die Entsendungen umgerechnet. Aber die Wahlberechtigten bzw. die Wähler*innen der Kammerwahlen wissen in der Regel nicht, dass sie mit ihrer Wahlentscheidung auch über die Zusammensetzung der Selbstverwaltung der Sozialversicherungen mitentscheiden.

Auch die mangelnde Solidarität zwischen Trägern, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder zu beobachten war, muss als Schwäche der Selbstverwaltung bezeichnet werden. Trotz der koordinierenden Funktion des Hauptverbandes ist es nicht immer gelungen, trägeregoistische oder berufsgruppenegoistische Interessen im Sinne des Gesamtanliegens der österreichischen gesetzlichen Sozialversicherung hintanzuhalten. Auch innerhalb der einzelnen Kurien (DG, DN) wurden trägerübergreifende Koordinierungen oft als Eingriffe in die Autonomie und als Schwächung des jeweils eigenen Trägers verstanden. Dadurch wurden sowohl die unterschiedliche Gebarensentwicklung einzelner Träger als auch die (zum Teil erheblichen) Unterschiede im Beitrags- und Leistungsrecht begünstigt (siehe z. B. Czyoionka 2017, Mossialos 2017).


6. Herausforderungen

Wenn man die Selbstverwaltung in der gesetzlichen Sozialversicherung als demokratisches Potential begreift, das es auch in Zukunft zu erhalten gilt, stellen sich einige Herausforderungen, die aktuell angegangen werden müssten. Dazu ist der Diskurs zu führen, auch wenn er Manchen schmerzhaft scheint. Der Diskurs muss gleichzeitig um zwei Funktionen der Selbstverwaltung geführt werden: einerseits um die beschriebene bottom-up-Funktion der Brücke zwischen Versicherung und Versicherten, die wesentliches ungehobenes Demokratiepotential beinhaltet und andererseits um die klassische top-down-Funktion der Geschäftsführung der gesetzlichen Sozialversicherung auf allen Ebenen.

Eine Verbesserung der bottom-up-Funktion (Brückenfunktion) der Selbstverwaltung könnte durch ein Aufbrechen jenes verhängnisvollen Dreiecks erreicht werden, wie Talos (1981) es beschreibt. Dessen drei Eckpunkte sind (1) die Distanz der Versicherten und ihrer Sozialversicherungsvertreter*innen durch fehlende Wahl der Versicherungsvertreter*innen, (2) die daraus resultierende relative Unbekanntheit der Selbstverwaltung bei den Versicherten und schließlich (3) der fehlende Druck der „einfachen“ Versicherungsvertreter*innen, sich ständig in sozialpolitischen Fragen fortzubilden. (vgl. Talos 1981: 344) Eine aktive Wahl der Versicherungsvertreter*innen durch die Versicherten (möglicherweise ersetzbar durch ihre aktive Einbindung als Versicherungsvertreter*innen in die Wahlen zu Arbeiter- und Wirtschaftskammer) würde jene Personen, die sich für das Amt einer*s Versicherungsvertreter*in der DN bzw. der DG interessieren, zwingen, sich bei den Wahlberechtigten bekannt zu machen und ihnen anzubieten, bei konkreten Fragen im Einzelfall als Ansprechperson zur Verfügung zu stehen. Die dadurch entstehende Erwartungshaltung der Wähler*innen, verbunden mit konkreten Beratungsanfragen, würde automatisch zu einer höheren Bereitschaft zur fachlichen Qualifikation führen.

Eine Absicherung und Stärkung der Selbstverwaltung als Geschäftsführung der gesetzlichen Sozialversicherung (top-down-Funktion) kann durch höhere Bekanntheit und (größere) Erwartungshaltung seitens der Versicherten verbessert werden, macht aber als konsensbildende Regulierungsebene langfristig nur Sinn, wenn das politische Regime der Konsensbildung in der Sozialpartnerschaft beibehalten wird. Sollte sich ein grundsätzlicher Wechsel zu einem Politikregime wechselnder Mehrheitsentscheidungen durchsetzen, wäre auch die Regulierungsfunktion der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung neu zu denken. Das hieße aber nicht, dass sie dadurch überflüssig werden würde.


Verweise
1 Diese Aufgabe der Beitragserhebung für die gesamte Sozialversicherung und die Arbeiterkammerumlage haben die gesetzlichen Krankenkassen heute noch zu erfüllen, weshalb ihr Verwaltungsaufwand, prozentuell gemessen an den Beiträgen, etwas höher ist als bei den anderen Trägern.
2 Das SV-ÜG ist das Sozialversicherungs-Überleitungsgesetz.
3 Die Selbstverwaltung bei den Selbständigen-Versicherungen wird nur aus der Gruppe der Versicherten beschickt.
4 Die 16 Krankenfürsorgeanstalten von Gemeinden (KFA) sind nicht im Hauptverband vertreten.


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Über den Autor

Dr. Tom Schmid
tom.schmid@band.at

Politikwissenschaftler und Organisationsentwickler, Professor für Sozialpolitik an der FH St. Pölten und Geschäftsführer bei DAS BAND – gemeinsam vielfältig in Wien. Seit 1984 Mitglied der Selbstverwaltung der Pensionsversicherungsanstalt (seit 1985 im Beirat). War 10 Jahre Mitarbeiter im politischen Kabinett des damaligen Hauptverbandspräsidenten Hans Sallmutter.