soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 20 (2018) / Rubrik "Thema" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/600/1079.pdf


Alexander Brunner:

Erziehung, Armut und Soziale Arbeit

Eine Kritik


1. Einleitung

„Dies vorausgesetzt muss ich gern gestehen, dass ich keine andere Tugend kenne, welche in unseren Tagen gepredigt und auf alle Weise befördert zu werden verdient, als – Sparsamkeit, Fleiß, Indüstrie und ein wohlgeordneter Erwerbstrieb. Irre ich hierin aber nicht, so ist die Beförderung dieser Tugend eine von den Puncten, wo der Moralist und der Staatsmann auf ihren sonst verschiedenen Wegen zusammentreffen, und wo der eine dem anderen die Hand bieten muß, um gemeinschaftlich einem allgemeinen – Bankerotte der Menschheit vorzubauen.“ (Campe 1786: 4–5)

Ausgangspunkt der folgenden Kritik ist eine persönliche Beobachtung im Rahmen einer Exkursion mit Studierenden der FH Campus Wien des Bachelors Soziale Arbeit in eine Einrichtung der Wiener Wohnungslosenhilfe. Im Laufe der Diskussionen mit den Mitarbeiter*innen vor Ort kam unter anderem das Thema des „Sparens“ als einer Notwendigkeit der Bewohner*innen auf, um auch nach der institutionellen Unterbringen eine Wohnung finanzieren zu können, zur Sprache. Dabei ging es einerseits um die Notwendigkeit des „Ansparens“, trotz zumeist kaum vorhandenen Einkommens, andererseits auch um das Scheitern der dazu aufgeforderten wohnungslosen Menschen. Die kritische Frage, die sich mir selbst im Anschluss an diese Diskussion stellte war: Was tut Soziale Arbeit hier eigentlich?

Offensichtlich hat die Soziale Arbeit es in diesem Fall mit Adressat*innen zu tun, die wohnungslos und von akuter Armut betroffen sind und zumeist in Abhängigkeit von sehr niedrigen sozialen Transferleistungen bzw. Sozialversicherungsleistungen ihr Leben bewältigen müssen. Abgesehen davon müssen sie nun zusätzlich, im Rahmen der ihnen gewährten Hilfe, dazu angehalten werden, zu sparen, Haushaltspläne zu erstellen etc. Praktiker*innen der Sozialen Arbeit werden vielleicht an dieser Stelle bereits einwenden: „Ja, aber, die Klient*innen brauchen das Geld ja, um überhaupt eine Wohnung zu erhalten und sich dann eine eigene Wohnung leisten zu können“. Das mag für die Praxis unter den derzeitigen Bedingungen zutreffen, entbindet aber Soziale Arbeit nicht der Aufgabe, eine solche Praxis und ihre Rahmenbedingungen zu reflektieren und auch zu kritisieren. Diesem Anliegen sind die folgenden Seiten in einer manchmal breiteren gesellschaftspolitischen und theoretischen und manchmal detaillierteren und mehr praxisbezogeneren Analyse gewidmet.


2. Neue Etappen auf dem Weg des neoliberalen Umbaus des österreichischen Wohlfahrtsstaates

„Da geht es um eine neue soziale Gerechtigkeit: Es braucht eine größere Differenz zwischen der Höhe des Verdienstes und der Sozialleistung. Wenn größere Familien aus der Mindestsicherung mancherorts 3.000 bis 4.000 Euro bekommen, verstehen das die Menschen nicht, die in der Früh aufstehen und arbeiten gehen. Das untergräbt die Arbeitswilligkeit: Es kann keine Dauerunterstützung für jene geben, die sich helfen könnten, aber nicht wollen.“ (ÖVP Klubsprecher August Wöginger im Standardinterview vom 09.07.2018)1

Das zitierte Statement des Klubsprechers der ÖVP, August Wöginger, zeigt, dass die neoliberale Agenda – von Bill Clintons welfare to workfare, dem sogenannten Dritten Weg der welfare to work Programme der sozialdemokratischen Regierung Tony Blair´s sowie der ebenfalls sozialdemokratisch/grün verantworteten Hartz IV Programmatik des „Förderns und Forderns“ im Rahmen einer „Aktivierungspolitik“ – in einer neuen und verschärften Form Österreich erreicht hat. Dabei ist die Diskussion über Arbeitslosengeld- oder Sozialhilfebezieher*innen und deren „moralischen Zustand“ durchaus nicht neu für Österreich. Wir verdanken der zweiten derzeit in Österreich regierenden Partei und ihren Vertreter*innen schon seit den 1980er Jahren entsprechende Beiträge, die durch einschlägig dafür bekannte Medien unterstützt und verbreitet werden. Deutlich zeigt dies z.B. eine Aussage der ehemaligen FPÖ Nationalratsabgeordneten Helene Partik-Pable bei einer Nationalratssitzung aus dem Jahr 1987:

„In diesem Zusammenhang muß ich auch dem Kollegen Srb widersprechen, der gemeint hat, es wäre die Schmarotzerdebatte überhaupt überflüssig, man könnte die Schmarotzer vernachlässigen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf eine Äußerung des Herrn Sozialministers, der erst vor kurzem zugegeben hat, daß ungefähr 3 oder 4 Prozent der Bezieher von Arbeitslosengeld Schmarotzer sind, daß ungefähr 300 Millionen Schilling dafür aufgewendet werden, da Sozialleistungen mißbräuchlich in Anspruch genommen worden sind. Da besteht natürlich schon eine sehr große Veranlassung, Herr Kollege Srb, dieses Thema nicht ganz einfach unter den Teppich zu kehren, sondern die Debatte über die Sozialschmarotzer sehr wohl aufzunehmen.“ (Parlamentsdirektion 1987).

Neu ist auch nicht die Programmatik der Verschärfung der Regelungen für Bezieher*innen von Arbeitslosengeld und Notstandhilfe. Hier wurden bereits in den 1990er Jahren unter rot-schwarzen Regierungen entsprechende Maßnahmen gesetzt. Unter anderem wurden Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Leistungsbezieher*innen verschärft und verstärkt exekutiert sowie Zumutbarkeitsbestimmungen und der Berufsschutz nach und nach verändert und aufgeweicht. (vgl. Atzmüller 2009: 163)

Trotzdem muss man wohl davon ausgehen, dass die neoliberale Programmatik von Aktivierung, Eigenverantwortung und vor allem Flexibilisierung – wie der eben beschlossenen Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes in Richtung Zwölfstundentag – in Österreich ein neues Niveau erreicht hat. Die Pläne der Regierung in Bezug auf die Mindestsicherung „neu“ oder die aktuelle Diskussion über mehr Kontrolle bei Krankenständen weisen darauf hin, dass auch kontrollierende und punitive Strategien zu den sozialpolitischen Steuerungsinstrumenten zählen bzw. zählen werden (vgl. Egyed/Oswald 2018). Damit ordnet sich Österreich weiter in den Mainstream neoliberaler Programmierungen der Gesellschaft ein und damit auch deren „neosozialen“ Formatierungen, als „neuartigen Formen der Subjektivierung des Sozialen“ (Dörre/Lessenich/Rosa 2017: 130). Soziale Arbeit und vor allem ihre Zielgruppen sind von diesen gesellschaftspolitischen und sozialpolitischen Weichenstellungen betroffen. Als Disziplin muss die Soziale Arbeit sich auch in Österreich fragen, wie sie theoretisch und politisch dazu Stellung bezieht. Als Profession, die überwiegend vom Staat finanziert wird und ein Teil des staatlichen Handelns ist, muss sie sich außerdem noch weitere Fragen stellen. Diese beziehen sich einerseits darauf, wo sie bereits aktuell als Profession bewusst oder ohne es zu reflektieren aktiv an dieser Neugestaltung des Sozialen mitwirkt. Andererseits, wo mögliche Widerstände und auch Handlungsspielräume im Sinne eines fachlichen Handelns im Interesse der jeweiligen Adressat*innen liegen oder liegen könnten.

Dass „Erziehung zur Armut“ (vgl. Kessl/Reutlinger/Ziegler 2007), also die Anpassung der von Armut betroffenen Menschen an ihre missliche Lage, für eine im vorliegenden Beitrag vertretene kritisch-reflexive Soziale Arbeit keine Option ist, ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint – dies zeigt der kritische Blick auf manche österreichische Praxis oder auf theoretische Auseinandersetzungen zum „Aktivierenden Sozialstaat“ im bundesdeutschen Diskurs. Daher wird zunächst auf den theoretisch-fachlichen Diskurs anhand einiger zentraler und ideologisch bedeutsamer Punkte eingegangen, bevor unterschiedliche Aspekten der Praxis Sozialer Arbeit und ihres reflektierten oder oft nicht-reflektierten „pädagogischen“ Mandats beleuchtet werden.


3. Die Debatten um die „neue Unterschicht“, Sozialstaat und Armut

„Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann haben Sie in drei Wochen einen Job!“ (Äußerung des damaligen Vorsitzenden der SPD, Kurt Beck, gegenüber einem länger arbeitslosen Mann und dessen Kritik an Hartz IV, Dezember 2006 auf dem Mainzer Weihnachtsmarkt, zit. n. Kessl 2005: 29)

Ausgangspunkt der bundesdeutschen Diskussion um die Themen „neue Unterschicht“, „Kultur der Armut“, „fürsorgliche Vernachlässigung“ und weitere Schlagwörter und Kampfbegriffe, waren einige mediale Äußerungen deutscher sozialdemokratischer Spitzenpolitiker 2006 sowie das 2005 erschienene Buch des deutschen Historikers Paul Nolte mit dem Titel Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik (Nolte 2005). All dies löste eine Art diskursives Ereignis aus und die Debatten um die „neue Unterschicht“ wurden in unterschiedlichsten medialen Foren und Publikationen aufgenommen und weitergesponnen (vgl. dazu die ausführliche Darstellung und Aufarbeitung durch Chassé 2010). Es geht im Folgenden nicht darum, die gesamten Diskussionen nachzuvollziehen, sondern die ideologischen Kerne dieser Diskurse an einigen ausgewählten Punkten nachzuzeichnen, da ich denke, dass sie auch für die gegenwärtige österreichische Diskussion mit entsprechenden nationalen Kolorierungen bedeutsam sind. Dabei lassen sich vier Aspekte feststellen, die miteinander verflochten sind und in Wechselwirkung stehen: Kulturalisierung, Moralisierung, Kritik und Umdeutung des Sozial- und Wohlfahrtsstaats und Strategien der Responsibilierung von Einzelnen und Gruppen.

Zunächst ist festzuhalten, dass der politisch-mediale Diskurs extrem negativ und moralisierend geführt wurde und wohl auch weiterhin geführt wird. Die Wertungen können wie folgt zusammengefasst werden: „Die Angehörigen dieser Schicht seien disziplinlos, ernährten sich falsch, hingen rum, seien arbeitsscheu, dumm, fettleibig, fernsehsüchtig, antriebslos, bewegungsfeindlich usw. Kurzum: Die ‚Unterschicht‘ sei asozial.“ (Danilina/Kausch/Müller/Roscher 2008: 14f) Die Moralisierung von Armut ist kein neues Phänomen. Schon im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist eine Veränderung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Armen zu beobachten. Sie wurden nicht mehr als gottgewollter Stand gesehen, sondern zunehmend als eine „gefährliche“, zu kontrollierende und disziplinierende Bevölkerungsgruppe. In Verbindung damit wurde zwischen würdigen und unwürdigen Armen, zwischen verschuldeter und unverschuldeter Armut etc. eine moralische Trennlinie errichtet.

Zentral an der Debatte um die von Armut betroffenen Menschen der „neuen“ Unterschicht ist die Kulturalisierung von Armut. Im Zentrum stehen nicht mehr materielle Unterversorgung und soziale Ungleichheit, sondern die Zuschreibung einer eigenen „Kultur“, die durch die oben genannte negative Bewertung charakterisiert ist. Weitere Kennzeichen dieser „Kultur“ sind eine unterstellte fehlende Aufstiegsorientierung und das Fehlen des für die Leistungsgesellschaft zentralen Attributs der Leistungsbereitschaft. Parallel zur Abwertung der Armen wird die Mittelschicht in Deutschland und in Österreich politisch umworben und bedient. Exemplarisch dafür steht der in den letzten Jahren von der ÖVP forcierte Kampfslogan „Leistung muss sich wieder lohnen“. Dabei wird das ideologische Muster von Leistungsträger*innen und von Profiteur*innen aktiviert und implizit unterstellt, dass die Mittelschicht hier auf gut österreichisch „draufzahlt“. Dass Leistung sich für viele Menschen in Niedriglohnbranchen und Teilzeitbeschäftigung trotz erbrachter Arbeitsleistung nicht lohnt, bleibt dabei völlig ausgeblendet.

Diese moralischen Zuschreibungen gehen mit einer nun schon länger dauernden Kritik am Wohlfahrtsstaat einher. Unterstellt wird, in Umkehrung der eigentlichen Logik sozialer Absicherung, dass jener die Armutsrisiken nicht durch kollektive Sicherung mehr oder weniger erfolgreich kompensiert, sondern vielmehr dafür verantwortlich ist, dass von Armut Betroffene keine Motivation zeigen, durch Lohnarbeit etwas an ihrer Lage zu ändern und stattdessen in Armut verharren. Dieses ideologische Argumentationsmuster zeigt sich exemplarisch auch beim vorhergehend angeführten Statement von August Wöginger der unterstellt, dass Sozialhilfeleistungen „die Arbeitswilligkeit“ untergraben. Die politischen Strategien und Entscheidungen forcieren dementsprechend mehr soziale Unsicherheit in Form von Kürzungen von Leistungen. Erst vor kurzem ließ die Sozialministerin in einem Interview verlautbaren, dass man von 150 Euro leben könne, wenn die Wohnung gesichert sei (vgl. Der Standard vom 27.07.2018). Mit dem dargestellten Muster von Sozialstaatskritik bewegt sich die aktuelle österreichische Politik im Mainstream neoliberaler Weltdeutungen.

Zuletzt kann als zentrales ideologisches Merkmal derzeitiger Diskurse und entsprechender gesellschaftlicher und politischer Interventionen die Strategie der Responsibilisierung festgestellt werden. Klaus Günther (2002) hielt in seiner Kritik an „Verantwortung im gegenwärtigen Kapitalismus“ bereits 2002 fest: „Von kaum einem Begriff wird in der öffentlichen Kommunikation der jüngsten Zeit so häufig und zugleich so unreflektiert Gebrauch gemacht wie von dem der Verantwortung.“ (Günther 2002: 117). Gemeint ist meist nicht die kollektive Verantwortung, die der Verflochtenheit, Differenziertheit und Komplexität moderner westlicher Gesellschaften entspräche, sondern ein weiteres Mantra des aktuellen Zeitgeistes: die Selbst- oder Eigenverantwortung. Frank Nullmeier (2006) spricht dementsprechend von einer „Erziehung zur Eigenverantwortung“, wobei er festhält:

„Eine Politik, die nicht nur zur Eigenverantwortung aus Entlastungsgründen auffordert, sondern auch Regelungen und Programme der individuellen Befähigung zur Eigenverantwortung fördert, die subjektive Bedingungen der Wahrnehmung von Eigenverantwortung schaffen will, überfordert sich. Die Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit belastet die Politik mit Aufgaben der Verhaltenssteuerung, die komplexer, problematischer, kostspieliger und unberechenbarer sind als jene Aufgaben, von denen sich Politik entlasten will.“ (Nullmeier 2006: 177)

Mag die Analyse, dass sich Politik hier selbst überfordert zutreffen oder auch nicht, tatsächlich laufen viele politische Interventionen oder zumindest der sie begleitende Diskurs auf die forcierte Stärkung der Eigenverantwortung hinaus. Der Neoliberalismus gerät hier in die Paradoxie, dass das eigenverantwortliche und eigenverantwortlich handelnde Subjekt, das der Liberalismus im Kern voraussetzt, erst mittels gegenteiliger paternalistischer Interventionen hergestellt werden soll. „Die innere Logik des erzieherischen Staates ist auf Intensivierung angelegt, mit der Gefahr einer Spiralbewegung, in deren Verlauf eine Inklusionspädagogik in eine Kontroll- und Sanktionspädagogik umschlägt“ (ebd.: 177), wie Nullmeier (2006) wiederum treffend festhält. Es ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, auf die Fülle von Gegenargumenten gegen die zuvor nur in groben Zügen dargestellten, vielfach ideologisch motivierten Argumentationen einzugehen. Trotzdem möchte ich auf einige, mir wichtig erscheinende Punkte, im Sinne einer Kritik von Seiten Sozialer Arbeit, eingehen.


3.1 Einwände gegen langläufige Armutsinterpretationen

a) Armut gibt es nicht einfach, sondern diese hängt von Wahrnehmungen ab – Armut ist konstruiert bzw. relational. Georg Simmel hat bereits 1906 in seiner inzwischen klassischen Abhandlung „Zur Soziologie der Armut“ (Simmel 1906/1997) auf den „relativistischen Charakter des Armutsbegriffs“ (ebd.: 50) und den Zusammenhang von Armut und Unterstützung hingewiesen.

„Das Annehmen einer Unterstützung rückt also den Unterstützten aus den Voraussetzungen des Standes heraus, sie bringt den anschaulichen Beweis, daß er formal deklassiert ist. [...] Deshalb ist er im sozialen Sinne erst arm, wenn er unterstützt wird. Und dies kann wohl allgemein gelten: soziologisch angesehen ist nicht die Armut zuerst gegeben und daraufhin die Unterstützung – dies ist vielmehr nur das Schicksal seiner personalen Form nach –, sondern denjenigen, der Unterstützung genießt, bzw. sie nach seiner soziologischen Konstellation genießen sollte – auch wenn sie zufällig ausbleibt –, dieser heißt der Arme.“ (ebd.: 53)

Man würde Simmel falsch verstehen, wenn man davon ausgeht, dass er Armut als ein empirisches, materielles Phänomen leugnet. Worum es bei Simmel geht, ist zu verdeutlichen, wer als arm wahrgenommen und identifiziert wird und wer nicht – etwa im Sinne von sogenannter „versteckter Armut“. Für die gegenwärtigen Diskurse muss man jedenfalls feststellen, dass Armut und von Armut betroffene Menschen nicht generell zum Thema gemacht werden. Im Fokus der Wahrnehmung stehen Individuen und Gruppen, vor allem sofern Unterstützung benötigt wird, eben als Kostenfaktor im Sinne der Ökonomie oder als „problematische“ Subjekte im Sinn von Kulturalisierung und Moralisierung. Menschen, die mit ihrer Armut leben und damit zurechtkommen, tauchen eventuell als Gegenstand wissenschaftlicher Studien oder sogenannter Sozialreportagen auf, nicht aber in den problematisierenden und stigmatisierenden Diskursen von Politik und Medien.

b) Die Armen und ihre Kultur sind selbst eine Konstruktion, die über eine empirische Vielfalt der von Armut betroffenen Personen und Personengruppen gelegt wird. Will man Kultur zunächst einmal allgemein als ein Set von gemeinsamen Normen, Werten und entsprechenden Lebensstilen definieren, dann zielt der Begriff auf kollektive Gemeinsamkeiten von Milieus, Schichten oder Klassen. Empirisch ist jedoch von einer hohen Heterogenität der von Armut betroffenen Personen und gesellschaftlichen Gruppen auszugehen. Es ist gegen die Kulturthese ins Feld zu führen bzw. zu fragen, was alleinerziehende, teilzeitbeschäftigte Frauen, Mindestpensionbezieher*innen, niedrigqualifizierte und erwerbslose Menschen 50+ oder niedrigqualifizierte junge Erwachsene oder Menschen mit Migrationsbiographie – um nur einige wichtige Gruppen aufzuzählen – an einer sogenannten gemeinsamen Kultur teilen. Hier haben sozialwissenschaftliche Diskurse und Forschungen weit sinnvollere und treffendere Analysekategorien anzubieten als Kultur.

c) Armut und Wohlfahrtsstaat erfüllen im kapitalistischen Staat eine Funktion. Dass der Wohlfahrtsstaat für den spätkapitalistischen Staat und seine Entwicklung funktional ist, hat Claus Offe bereits 1972 herausgearbeitet wie auch die Grenzen und Funktionsprobleme dieses Systems (vgl. Offe 1972/2006).2 Weniger Beachtung findet im deutschsprachigen Diskurs gegenüber der Diskussion der Funktionalität des Wohlfahrtsstaates die Funktionalität von Armut für moderne Gesellschaften. Auf diese Aspekte hat der deutschstämmige, US-amerikanische Soziologe Herbert J. Gans 1972 (vgl. Gans 1972) und erneuert unter dem Titel „Benefits of Poverty“ 2012 (vgl. Gans 2012) wiederholt aufmerksam gemacht. Zu den positiv functions, die er in fünfzehn Punkten darstellt, gehört unter anderem, dass jemand die „Drecksarbeit“ (dirty work) in den modernen Ökonomien machen muss, dass kulturelle Errungenschaften von Armen ausgebeutet werden (Beispiel Blues Musik oder aktueller Rap) oder, dass auch mit Armut ein business gemacht werden kann (vgl. Gans 1972: 278ff). Interessant und relevant, gerade in Hinblick auf die derzeitige Kultur- und Moraldiskussion, ist, dass damit Abgrenzungsdiskurse der middle class bedient werden können.

Fifth, the poor can be identified and punished as alleged or real deviants in order to uphold the legitimacy of dominant norms […]. The defenders of the desirability of hard work, thrift, honesty, and monogamy need people who can be accused of being lazy, spendthrift, dishonest, and promiscuous to justify these norms.“ (ebd.: 280, Herv. i.O.)

Die Fleißigen und Leistungsbereiten, hart Arbeitenden, moralisch und kulturell „Überlegenen“ gegen jene, die promiskuitiv (und hier ist der Weg zum Label „sexuell verwahrlost“ nicht weit), faul, verschwenderisch und unlauter sind. Dieses ideologische Muster funktioniert beinahe 50 Jahre später (leider) immer noch gut.

d) Das im Liberalismus vorausgesetzte Subjekt und seine Handlungsfähigkeit bzw. Handlungsmöglichkeiten sind eine Idealisierung. Zuletzt ein mehr grundlagentheoretisches oder philosophisches Thema, das für die Praxis Sozialer Arbeit – nicht nur für die Arbeit mit von Armut betroffenen Menschen – von zentraler Bedeutung ist. Soziale Arbeit als eine handlungsorientierte Sozialwissenschaft muss ihre Grundlagen immer wieder neu reflektieren. Als Profession unterbietet sie sich selbst, wenn sie sich auf eine unreflektierte Alltagspsychologie oder die so gerne ins Feld geführte persönliche Erfahrung verlässt. Stattdessen muss in Rechnung gestellt werden, dass es so etwas wie eine nicht gesellschaftlich vermittelte individuelle Erfahrung jenseits von in der Sozialisation erworbenen Denk- und Wahrnehmungsmustern oder verinnerlichten Normen nicht gibt. Dies betrifft insbesondere Konzepte wie Person, Subjekt, Individuum oder den Menschen und damit zusammenhängende Vorstellungen von Rationalität, Willen und Verantwortung. Soziale Arbeit sitzt selbst dem liberalistischen Menschenbild auf, wenn sie von rationalen und willensgeleiteten autonomen Individuen ausgeht, zu denen die Gesellschaft wie eine Art Außen hinzukommt.3 In der Tradition von Karl Marx formuliert, ist das Wesen des Menschen durch und durch gesellschaftlich und damit nicht nur seine Bedürfnisse, sondern auch seine Handlungsmöglichkeiten. „Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zôon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.“ (Marx 1857/1971: 616, Herv. i. O.)

Gerade wenn es um Personenzuschreibungen wie willensschwach, unvernünftig oder verantwortungslos geht, um nur einige beliebte Kennzeichnungen für Adressat*innen Sozialer Arbeit zu nennen, sollte reflektiert werden, welche Subjektvorstellungen und damit verbundenen Vorstellungen von Handlungsrationalität und Handlungsfähigkeit vorausgesetzt werden. Mögliche Alternativen liegen durchaus bereit, wie etwa das aus der relationalen Soziologie stammende Agency-Konzept (vgl. exemplarisch Scherr 2013), das es der Sozialen Arbeit eventuell ermöglicht „die Scheinalternative zwischen einem Verständnis ihrer Adressaten als autonome Subjekte ihrer Lebenspraxis oder als passive Opfer der Verhältnisse endgültig zu verabschieden.“ (ebd.: 241) Die zuvor benannten Vorannahmen über den Status von Subjekten und Subjektivität sind gerade für pädagogische Interaktionen – nicht nur in Kontexten der Sozialen Arbeit – zentral. Vernünftig, verantwortungsvoll und gelenkt vom eigenen (guten) Willen zu handeln, ist ein Anspruch, der als moralphilosophisches Ideal durchaus sinnvoll ist, nicht jedoch als verallgemeinerte praktische Erwartung und Unterstellung in Bezug auf menschliches Handeln. Viel mehr müssen die biographisch von Individuen erworbenen sowie situativ und gesellschaftlich konfigurierten Möglichkeiten und Beschränkungen von Handlungen in Rechnung gestellt werden. Wenn es Sozialer Arbeit darum geht, „Bedingungen herzustellen, die dem Subjekt seine Subjektivität“ (Winkler zit. n. Scherr 2008: 114) ermöglichen, muss sie mitbedenken,

„dass soziale Ungleichheit und soziale Ausgrenzung nicht nur zu objektiv benachteiligten Lebensbedingungen führen, sondern auch die Subjektivität der Benachteiligten, Ausgegrenzten und Diskriminierten beschädigen können: [...] Denn Lebensbedingungen die durch Armut und Unsicherheit gekennzeichnet sind, können dazu führen, dass das Denken und Handeln darauf fokussiert ist, den Alltag irgendwie zu bewältigen; Subjektivität reduziert sich dann ggf. auf Bemühungen, die eigene psychische Verfassung zu stabilisieren und praktischen Handlungszwängen der alltäglichen Lebensführung gerecht zu werden.“ (ebd.: 114)

Dies muss im Umgang mit von Armut betroffenen Menschen praktisch mitbedacht werden, damit Soziale Arbeit nicht selbst in ihren Bemühungen, Adressat*innen zu „erziehen“, ihrer „Affinität zu solchen ideologischen Sichtweisen, die als Individualisierung und Moralisierung charakterisiert werden können“, (ebd.: 115) verfällt. Einer Kritik solcher Affinitäten sind auch die folgenden Überlegungen zu Erziehungs(-versuchen) von von Armut betroffenen Adressat*innen Sozialer Arbeit verpflichtet.


4. Erziehung und erzieherische Interaktionen in der Sozialen Arbeit

„Die Unteren darf man nicht so schröpfen, dass sie nicht mehr konsumieren können. Sie müssen als Kunde überleben.“ (Hans-Martin Buhlmann, Aktionär der Allianz AG gegenüber dem Stern vom 12. Mai 2005, zit. n. Kessl 2005: 29) Bevor auf die Aspekte von Erziehung zur Armut und der Erziehung der von Armut betroffenen Personen in Kontexten und Praxisfeldern Sozialer Arbeit näher eingegangen werden kann, sind einige begriffliche und thematische Klärungen vorauszuschicken. Angesichts der Vielfalt der Bedeutungszuschreibungen im Alltagsverständnis und vor allem der Geschichte des Begriffs und der Praxis, die sich als Erziehung versteht bzw. verstand, ist der Begriff semantisch hoch überfrachtet bzw. leer. Im Alltagsverständnis – weil ja jede*r einmal erzogen wurde oder auch erzieht – erscheint er als vielfach unproblematisch. Für das Thema dieses Beitrags muss aber näher präzisiert werden, was im Folgenden mit Erziehung gemeint ist. Es stellen sich zudem die nicht unwichtigen normativen Fragen, ob erwachsene Menschen überhaupt erzogen werden können, sollen, dürfen oder wollen.

Unter Erziehung sollen im Folgenden Handlungen verstanden werden, mit denen in einem bestimmten Beziehungsverhältnis das Verhalten, die Handlungen, Einstellungen aber auch Gefühle und der Körper anderer Personen beeinflusst, verändert, angeleitet oder geführt werden sollen. Dies kann entweder durch direkte sprachliche Interventionen oder auch indirekt durch Vorbild, Vorzeigen, Gestik und Mimik oder durch die Gestaltung von Situationen oder Räumen angestrebt und umgesetzt werden. Wenn man Foucaults allgemeine Bestimmung von Macht als Einwirken auf das Handeln anderer (vgl. Foucault 2005: 55) einbezieht, dann hat Erziehung sicherlich auch einen starken Machtcharakter – wenn sie sich auch nicht darauf reduzieren lässt. Erziehung ist zudem in einem asymmetrischen und einseitigen Handlungskontext angesiedelt und nicht reziprok angelegt, d.h. jemand erzieht und jemand wird erzogen.

Diese Struktur ist bei allen Versuchen, die Individualität der*s Anderen zu respektieren und Gleichwertigkeit bzw. Augenhöhe auf personaler Ebene herzustellen, bereits gegenüber der nachwachsenden Generation, d.h. Kindern und Jugendlichen, wohl erforderlich aber auch normativ stark begründungsbedürftig. Umso mehr gilt dies für erwachsene Menschen. An dieser Stelle wird bereits die normative Dimension der Fragestellung deutlich: Wie weit können, sollen und dürfen erwachsene Menschen überhaupt erzogen werden? Und wie ist der Umstand zu bewerten, dass es in der Praxis immer wieder versucht wird?

Muss man schon bei Kindern und Jugendlichen mit allerlei Widerständen gegen die notwendige Zumutung, erzogen zu werden, rechnen, dann noch viel mehr bei Erwachsenen. Erziehung zielt klassisch formuliert auf eine Überführung der Fremd- zur Selbstbestimmung. Sie ist nicht ohne Eingriffe in die Autonomie und Freiheit der*s Anderen zu haben. Dazu kommt noch die vieldiskutierte Thematik, ob Strafen und Sanktionen legitime pädagogische Mittel darstellen oder nicht. Auch diese Problematik ist der Praxis Sozialer Arbeit nicht fremd, wo in unterschiedlichen Settings mit diesen Mitteln – Hausverboten, Verwarnungen und Verweisen, Normverdeutlichungsgesprächen etc. – gearbeitet wird.

Der Status des Erwachsenseins steht weiters in Zusammenhang mit einem seit der Aufklärung bestehenden pädagogischen Anliegen – der Mündigkeit. Sieht man von dem inzwischen zumindest im Theoriediskurs ebenfalls umstrittenen Status und klassischen Verständnis von Mündigkeit ab, wird diese bei erwachsenen Menschen nicht nur in juristischen, sondern auch in lebensweltlichen Kontexten unserer Kultur vorausgesetzt bzw. angenommen und ist Teil des Selbstverständnisses von Personen. Eben diese Mündigkeit und die damit verbundene individuelle Lebenspraxis, wird aber erwachsenen Menschen, die erzogen werden sollen, in gewissem Maße abgesprochen oder zumindest in Frage gestellt. Konkret und auf Kontexte Sozialer Arbeit bezogen heißt es dann, dass Adressant*innen nicht mit Geld umgehen könnten, dass sie sich nicht richtig ernähren würden oder, um ein Unwort aus der Wohnungslosenhilfe zu nehmen, nicht wohnfähig seien. Dies kann sich bis zur tatsächlichen juristischen Entmündigung im Rahmen der Sachwalterschaft ausweiten. Dass hier nicht nur bei Menschen mit Behinderung, sondern auch bei Adressat*innen Sozialer Arbeit, vor allem wenn sie von Armut betroffen sind, ein anderes Maß angelegt wird als bei der vermeintlichen Normalbevölkerung, ist immer wieder beobachtbar. Im Folgenden soll ein Blick auf einige praktische Thematiken und Herausforderungen Sozialer Arbeit geworfen werden und Widersprüche, Zumutungen und Ambivalenzen sichtbar gemacht werden, mit der die Praxis Sozialer Arbeit unter den zuvor dargestellten sozialen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen umzugehen hat.


4.1 „Unwirtschaftliches Verhalten“ und „falsche Prioritätensetzung“ im Spannungsfeld von Kapitalismus und Armut

Mancherorts hört und liest man, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, sich unwirtschaftlich verhalten würden, dass sie falsche Prioritäten setzen würden, weil sie zum Beispiel die Miete oder Energiekosten nicht abdecken und damit gefährliche Schulden eingehen. Ausgeblendet wird dabei im Rahmen materieller Sicherung, dass dies unter den Bedingungen von Armut geschieht, einer Situation also, in der zahlreiche ebenfalls subjektiv als wichtig erscheinende Bedürfnisse nicht befriedigt werden können. Im Fall eines ausreichenden Einkommens, welches die Befriedigung subjektiv wichtig erscheinender Bedürfnisse ermöglicht, stellt sich diese Frage weniger bis kaum, denn man ist disponibel oder, gut österreichisch, man ist in Bezug auf Geld „flüssig“. Im Fürsorgediskurs der 1950er Jahre war man sich dieser Voraussetzungen im Rahmen einer „Theorie der Unwirtschaftlichkeit“ wohl bewusst:

„Wir werden allerdings zu berücksichtigen haben, daß die erwähnten Arten der Unwirtschaftlichkeit in erster Linie den ‚Randexistenzen‘ gefährlich sind, d.s. solche, die unter dem Einfluß wirtschaftszerstörender Kräfte (mangels wirtschaftlicher Reserven) sofort hilfsbedürftig werden; in erster Linie, doch können sie – entsprechend verstärkt – ihre destruktive Wirkung bis in die höchsten Einkommens- und Vermögensränge erstrecken.“ (Nowotny 1954: 29)

Der grundsätzliche Zwang und die Zumutung, sich unter Mangelbedingungen als vernünftiges und rationales Wirtschaftssubjekt zu verhalten, werden damals und heute tendenziell kaum in Frage gestellt. Bei erwachsenen Menschen wird unter Bedingungen des Kapitalismus vorausgesetzt, dass sie sich eigenverantwortlich dafür entscheiden und vernünftiger Weise den Weg des Verzichts und der richtigen Konsumentscheidungen wählen. Wer sich nicht entsprechend verhält – auch dafür ist der erwähnte Beitrag aus dem Jahr 1954 instruktiv –, der*m wird „ein Nichtbeachten der Rangordnung der Bedürfnisse und Mangel an wirtschaftlichen Überlegungen“ (ebd.: 29) unterstellt sowie individuelle Charaktermängel, die heute wohl als „psychische Defizite“ bezeichnet werden würden:

„Sehr häufig wird sich hinter dieser Unwirtschaftlichkeit auch Willensschwäche, also ein Charakterdefekt, verbergen, weil dem Wirtschaftssubjekt die augenblickliche Wunschbefriedigung vor der rationalen Vorsorge für das Lebenswichtige als unrationell zwar nicht verborgen bleibt, aber ihr doch kein vorbeugender Widerstand entgegengesetzt wird.“ (ebd.: 29, i. O. gesperrt)

Einmal abgesehen davon, ob es eine Rangordnung der Bedürfnisse gibt, kann man diese Begrifflichkeit in die rational klingende „falsche Prioritätensetzung“ der aktuellen Sprachregelung übersetzen. Gegenwärtig spricht man weniger von „augenblicklicher Wunschbefriedigung“ wohl aber bei bestimmten Milieus von „Gegenwartsorientierung“, was wohl dasselbe meint. Der „vorbeugenden Widerstand“ könnte als das aktuell häufig bediente „präventive Handeln“ übersetzt werden.

Vielleicht ist das Handeln und Verhalten von Klient*innen vom Standpunkt des homo oeconomicus aus betrachtet unvernünftig – aus der Logik der subjektiven Bedürfnisse bzw. den „Bemühungen, die eigene psychische Verfassung zu stabilisieren“ (Scherr 2008: 14) ist es das aber wohl nicht. Soziale Arbeit, die aus der Perspektive der materiellen Grundsicherung primär den homo oeconomicus als rational handelndes Wirtschaftssubjekt in den Blick nimmt, bleibt dem liberalistischen Menschenbild verhaftet und neigt dazu, Menschen zu wirtschaftlich vernünftigem Handeln, zu Bedürfnisverzicht und zum Zurechtkommen mit Armut zu erziehen. Dass dies bei Adressat*innen immer wieder mit Erfahrungen des Scheiterns verbunden ist, die dann fachlich als „falsche Prioritätensetzung“, „Gegenwartsorientierung“, „fehlende Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub“ etc. interpretiert werden, hilft nicht wirklich weiter – vor allem angesichts eines Wandels im kapitalistischen Wertesystem einer Überfluss- und Konsumgesellschaft, wie die folgenden Darstellungen deutlich machen sollen.


4.2 Alte und neue Primärtugenden im Kontext von Konsumgesellschaft und Armut

Galten in der Nachkriegsgeneration Pflichterfüllung, Fleiß, Arbeitsamkeit, Leistungsbereitschaft, Verzicht und Sparsamkeit und natürlich die Orientierung an Ordnung als wesentliche Tugenden, so verlangt die kapitalistische Ordnung der Gegenwart den Subjekten etwas Ambivalenteres ab. Leistungsorientierung und Arbeiten bis zum Burn-out gehören zum Kernbestand der Wettbewerbsgesellschaft (vgl. Neckel/Wagner 2014) – mit den entsprechenden Nebenfolgen und individuellen und gesellschaftlichen Kosten.4 Verzicht und Sparsamkeit rangieren im gegenwärtigen Wertekatalog weit hinten, wie das in meiner Kindheit noch zelebrierte Sparbuch und der Weltspartag.

„Die Puritanischen Werte, die nach klassischen Autoren wie Max Weber für den Kapitalismus geradezu konstitutiv waren (Fleiß, Sparsamkeit, weltliche Askese), sind mittlerweile obsolet geworden. Systemgerechtes Verhalten verlangt heute in erster Linie Konsum – und das wird von der staatlichen Wirtschafts- und Steuerpolitik ideologisch unterstützt, um nicht zu sagen: erzwungen.“ (Böhme 2018: 75).

Im Rahmen eines „Ästhetischen Kapitalismus“ (Böhme 2018) und seiner „ästhetischen Ökonomie“ ist neben Gebrauchs- und Tauschwert ein neuer getreten:

„Die meisten Güter, die wir kaufen, sind heute nicht zum Gebrauch, sondern zur Ausstattung des Lebens gedacht. Man kann den Gebrauchswert solcher Waren daher auch Inszenierungswert nennen: Sie dienen der Inszenierung eines bestimmten Lebensstils und unserer selbst.“ (ebd.: 74, Herv. i. O.)

Eine Ökonomie des Überflusses muss ständig neu und immer schneller Produkte an die Konsument*innen bringen. Der Befehl des Über-Ichs ist nicht mehr auf Verbot, sondern im Rahmen einer neuen symbolischen Ordnung auf einen anderen Imperativ gerichtet: „Genieße!“, wie Andreas Kriwak (vgl. Kriwak 2009: 102) aus psychoanalytischer Sicht und in Anschluss an Slavoj Žižek feststellt. Das Genießen, so Kriwak (2009) weiter, hat allerdings seine Grenzen:

„Zum einen charakterisiert sich die Gegenwart also durch eine Aufforderung zum Genießen, zum grenzenlosen Konsum. Zum anderen sind diesem Genießen doch wieder Grenzen verordnet, insofern dieser Befehl nur so weit reicht, wie das eigene Leben nicht gefährdet wird, solange es also im Rahmen einer herrschenden Ideologie des Lebens bleibt.“ (ebd. 102, Herv. i. O.)

Genießen bedeutet dabei primär konsumieren – aber gesund, so legt es das Gesundheitsdispositiv von Fitness, ausgewogener Ernährung, Wellness und ähnlichem nahe. Beide Anforderungen können von Menschen, die von Armut betroffen sind, vielfach nicht bewältigt werden. Einerseits weil sie mangels finanzieller Ressourcen nicht oder nur sehr beschränkt am Konsum partizipieren können, andererseits weil ihnen oft nichts anderes übrigbleibt als ungesund zu leben. So kritisch man die Inszenierungsthematik auch beurteilen möchte – von Armut betroffene Menschen werden von den Möglichkeiten einer Teilnahme an der Gesellschaft über Inszenierungswerte weitgehend ausgeschlossen. Eben dafür werden sie lächerlich gemacht, dass sie dem Luxus der Mittelschicht nacheifern oder ihn durch billigere Nachahmungen imitieren; oder sie werden moralisch verurteilt, wenn sie mit dem Risiko der Verschuldung oder durch „falsche Prioritätensetzungen“ doch versuchen teilzunehmen.

Angesichts dieser gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von armutsbetroffenen Menschen Sparsamkeit und Verzicht einzufordern, ist nicht nur zynisch, es ist auch scheinheilig in einer Ökonomie, die tagtäglich ihre „Kund*innen“ mit 0% Zinsen, Konsumkrediten und einem manchmal unerträglichen Dauerappell an immer neu produzierte Bedürfnisse konfrontiert. Ein gewisser Zynismus liegt auch darin, dass wahrscheinlich bei einem nicht unerheblichen Teil der armutsbetroffenen und armutsgefährdeten Personen keine Aussicht darauf besteht, dass sich ihre Lage kurzfristig oder generell bessern wird. Die sogenannte Aufstiegsorientierung macht nur Sinn, wenn man tatsächlich auch aufsteigen kann. Dafür sind aber häufig weder das kulturelle noch das soziale Kapital vorhanden, noch die dafür notwendigen sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Trotz stetigem Wirtschaftswachstum wird die Situation am Arbeitsmarkt nicht besser. Rationalisierungsdruck, Automatisierung, Performance auf Aktienmärkten und Auslagerungen in Billiglohnländer strafen den Slogan „Geht´s der Wirtschaft gut, geht es uns allen gut“ Lügen. Mehr Wachstum und mehr Gewinne führen nicht automatisch zu mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätzen. Für diese sozialen und wirtschaftlichen Probleme ist Soziale Arbeit nicht verantwortlich und kann sie auch nicht beheben. Sie muss sich jedoch fragen, wo sie zusätzlich zur Verwaltung der Armut durch Maßnahmen wie das eingangs erwähnte Ansparen und Ähnliches zur Erziehung zur Armut beiträgt.


5. Fazit und Ausblick

Die vorhergehenden Überlegungen machen deutlich, dass Soziale Arbeit in Österreich sowohl als Disziplin als auch Profession vor der Herausforderung steht, mit den Zumutungen von Armut und vor allem den Zumutungen gegenüber von Armut betroffenen Menschen von Seiten der Politik einen kritischen Umgang zu finden. Dies betrifft zunächst die öffentliche politische Stellungnahme, aber auch die fachliche Stellungnahme und Richtigstellung gegenüber ideologischen Auffassungen von Armut und von Armut betroffenen Menschen. Weiters gilt es, im Sinne einer kritisch-reflexiven Sozialen Arbeit einen praktischen Umgang mit den Zumutungen zu finden, denen von Armut betroffene Zielgruppen in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt sind. Mögliche Handlungsspielräume sind jeweils mit den Adressat*innen auszuloten. Dabei geht es nicht zuletzt um die Reflexion eigener, privater und fachlicher Vorurteilsstrukturen und darum, vor möglichen von der Praxis der Hilfe und Unterstützung selbst hervorgebrachten Zumutungen, Abstand zu nehmen. Tut die Soziale Arbeit das nicht, dann stimmt sie in das wieder verstärkt auftretende blaming the poor mit ein, wofür in Österreich historisch und auch gegenwärtig ein politisch, medial und mentalitätsgeschichtlich allzu gut bestelltes Feld vorliegt.


Verweise
1 Dabei ergaben Recherchen von Der Standard, dass es sich bei den angeführten Bezieher*innen um 100 Familien handelt im Verhältnis zu 182.000 Bedarfsgemeinschaften (Stand 2016), die Geld aus der Mindestsicherung beziehen. (vgl. John 2018)
2 Stephan Lessnich hat diese Kritik aufgenommen und weitergeführt in Dörre et al. (2017).
3 Dies entspricht auch dem in der Nationalökonomie vielfach dominierenden Konzept der Rational Choice.
4 Dies zeigen regelmäßig Berichte über steigende Berufsunfähigkeit und Burn-out-Krankenstände, nicht nur bei älteren Personen (vgl. Der Standard vom 27.06.2018 sowie 11.04.2017).


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Über den Autor

Mag. Dr. Alexander Brunner
alexander.brunner@fh-campuswien.ac.at

FH Campus Wien BA Soziale Arbeit; Studium der Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Geschichte; Lektor an der Universität Wien, Institut für Bildungswissenschaft; ausgewählte Forschungsschwerpunkte: Normalisierungstheorien, Biographie und Bildung, Traumapädagogik, Leib und Körper in Kontexten von Bildung und Sozialer Arbeit.