soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 21 (2019) / Rubrik "Rezensionen" / Redaktion soziales_kapital
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/613/1121.pdf


Diebäcker, Marc/Reutlinger, Christian (Hg.) (2018): Soziale Arbeit und institutionelle Räume – explorative Zugänge. Wiesbaden: Springer VS.


182 Seiten / EUR 44,99


Die derzeit äußerst dynamische Sozialraumforschung beschäftigt sich insbesondere mit öffentlichen Freiräumen oder mit Wohnquartieren. Innenräume und die Einrichtungen der Sozialen Arbeit werden weitgehend ausgeblendet. Mit dem vorliegenden Band nehmen die beiden Herausgeber diese bemerkenswerte Forschungslücke in den Blick. In konzeptionellen Beiträgen und empirischen Fallstudien werden explorative Zugänge zu diesem Feld entwickelt und getestet. Die Einleitung gibt mit einem Gedankenspiel über das Errichten und Einrichten von Orten der Sozialen Arbeit und dem Anrichten und Ausrichten der dort stattfinden Tätigkeiten die Richtung vor. In einem konzeptionellen Beitrag entfalten Diebäcker und Reutlinger eine v.a. von Erving Goffman und Michel Foucault inspirierte Perspektive auf Einrichtungen der Sozialen Arbeit und definieren diese als institutionelle Räume. In diesen Räumen, so ihr Plädoyer, ist Soziale Arbeit als „raumrelationale Verdichtung sozialer Ungleichheit und institutionelles Arrangement“ (S. 24) zu verstehen. Mit einer solchen „Raumbrille“ (S. 64) kommen u.a. die Aushandlung sozialer Normen und sozialer Ordnung zwischen Nutzer*innen und Fachkräften in den Fokus, die Grenzziehungen und Öffnungen zwischen Innen- und Außenwelt, aber auch die im Hintergrund wirkenden gesellschaftlichen Verhältnisse.

In sieben Fallstudien werden anschließend Einrichtungen der Sozialen Arbeit betrachtet: eine stationäre Therapieeinrichtung für suchterkrankte Menschen, ein Jugendzentrum, ein Frauenhaus, geschützte Werkstätten, eine Jugendwohneinrichtung, eine Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde sowie ein Tageszentrum für Arbeitslose. Die Beiträge folgen keinem einheitlichen Muster, sondern wenden den konzeptionellen Rahmen jeweils locker auf den jeweils betrachteten Ort an. Dabei gelingt es, trotz kursorischer und knapper Ausführungen (die Beiträge umfassen je ca. 15 Seiten), differenzierte und präzise Einblicke in den sozialarbeiterischen Alltag zu gewähren, die zeigen, wie die Praxis durch den Ort beeinflusst wird und diesen selbst gestaltet. So wird etwa im von Fischlmayer, Sagmeister und Diebäcker erstellten Portrait eines Frauenhauses herausgearbeitet, dass „die Grenzziehung zwischen Innen- und Außenwelt eine wesentliche raumbildende Bedeutung“ (S. 92) hat und anschaulich beschrieben, wie sich dies auch auf die Innenräume auswirkt. Der Beitrag von Brüschweiler, Hüllemann und Reutlinger über ein Jugendzentrum zeigt eindrücklich, wie sich aus einem am Prinzip der Offenheit orientierten Arbeiten über die Zeit Schließungsprozesse ergeben und sich auch räumlich manifestieren können. Am Beispiel von drei geschützten Werkstätten wird in der Studie von Thomas Schmid deutlich, wie Fachkräfte die Arbeitsatmosphäre gestalten, die eher auf die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, auf soziales Lernen in einem strukturierten Arbeitsalltag oder auch auf soziale Kontrolle und effiziente Produktion abzielen kann: „So führen spezifische Vorstellungen zur Ziel- und Zwecksetzung geschützter Werkstätten und die fachliche Sicht auf den Arbeitsprozess zu jeweils eigenen räumlichen Konstellationen“ (S. 107).

Der Band endet mit einer „Programmskizze“, in der die beiden Herausgeber konturieren, wie die hier eingeführte Perspektive weitergehend für empirische Forschung und theoretisch-konzeptionelle Reflexion genutzt werden kann. Sie empfehlen einen raumforschenden Dreischritt: in die Einrichtung hineingehen, sie begehen und dann über das vor Ort zu sehende hinaus auch den übergreifenden Kontext analytisch einbeziehen – dieser dritte Schritt wird als „hochgehen“ bezeichnet.

Marc Diebäcker und Christian Reutlinger ist mit diesem Sammelband gelungen, was sie sich vorgenommen haben: ein Forschungsfeld zu eröffnen, dieses mit ersten Erkundungen auszuloten und Anregungen für weitere Studien zu geben. Konzeptionell sind neben Sozialarbeits- und Sozialraumforschung auch Anschlüsse an ein breites Spektrum soziologischer und ethnographischer Methoden und Fokussierungen denkbar, so z.B. an die aus der feministischen Soziologie heraus entwickelte institutionelle Ethnografie (Smith 2005; Nichols 2014), an wissenssoziologische Zugänge (Maeder/Nadai 2004) oder an politikwissenschaftliche Studien zur sog. Streetlevel Bureaucracy (Lipsky 2010; Zacka 2018).

Die ersten Explorationen zeigen, dass sich hier ein ergiebiges und auch für die Lehre wichtiges Feld eröffnet. So können z.B. Lehrforschungsprojekte gut auf den Vorarbeiten aufbauen und zur Begleitung von Praxisphasen im Studium der Sozialen Arbeit ist der Rahmen ebenfalls geeignet. Auch über die Lehre hinaus birgt die raumrelationale Perspektive großes Potential für die Kooperation von Hochschulen mit der sozialarbeiterischen Praxis. An ihr orientierte Organisationsanalysen und Evaluationsprojekte können wertvolle Einblicke bringen und den Trägern helfen, ihre Arbeit konzeptionell und räumlich weiterzuentwickeln.



Simon Güntner / simon.guentner@tuwien.ac.at



Literatur

Lipsky, Michael (2010): Street-level Bureaucracy: Dilemmas of the individual in public services (30th Anniversary Expanded Edition). New York: Russell Sage Foundation.

Maeder, Christoph/Nadai, Eva (2004): Organisierte Armut – Sozialhilfe aus wissenssoziologischer Sicht. Konstanz: UVK.

Nichols, Naomi (2014): Youth Work: An Institutional Ethnography of Youth Homelessness. Toronto: University of Toronto Press.

Smith, Dorothy (2005): Institutional Ethnography. A Sociology for People. Lanham: AltaMira Press.

Zacka, Bernardo (2018): When the State meets the Street: Public Service and Moral Agency. Boston: Harvard University Press.