soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 21 (2019) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Vorarlberg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/614/1097.pdf
Vera Blessing:
1. Einleitung
In den von verschiedenen Akteur*innen auf unterschiedlichen Ebenen geführten Debatten über Sexarbeit1 finden sich sowohl ökonomische, feministische als auch rechtliche Argumente. Die Pro- und Kontrapositionen entziehen sich nicht nur einer eindeutigen Einordnung in ein politisches Links-rechts-Schema, sondern spalten darüber hinaus auch die feministische Community (vgl. Amesberger 2014: 5). Gleichzeitig tendieren die gegenwärtigen Prostitutionspolitiken vielerorts in Europa verstärkt in eine repressive Richtung (vgl. u.a. Danna 2007: 8). So haben beispielsweise Irland 2017 und Frankreich 2016 Gesetze eingeführt, die den Kauf sexueller Dienstleistungen kriminalisieren. In Schweden wird diese Form der Prostitutionspolitik bereits seit 20 Jahren umgesetzt (vgl. u.a. Tzermias 2016). Ferner wurde in der Schweiz die Diskussion um Sexarbeit neu entfacht: Soll der Kauf von sexuellen Dienstleistungen ähnlich dem schwedischen Modell kriminalisiert werden oder verfolgt man weiterhin den liberalen Weg „nach dem Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit“ (Prokore 2019a)?
Tatsächlich zeigen sich im übergeordneten Ziel beider Positionen Gemeinsamkeiten: Sowohl Befürwortende wie auch Gegner*innen anerkennen das Wohlergehen und die Würde der Frau* als uneingeschränktes Menschenrecht, das es zu schützen gilt. Gleichermaßen werden patriarchale Strukturen kritisiert und Zwang und Menschenhandel verurteilt (vgl. Küppers 2016; Prokore o.J.). Die eine Seite will allerdings zum Schutz der Würde der Frau* Prostitution abschaffen, die andere der Frau* das Recht auf Selbstbestimmung und autonome Lebensführung im Sinne der Emanzipation zugestehen. In den Argumentationen zeigen sich damit unterschiedliche (Werte-)Haltungen und (aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht) unterschiedliche Auffassungen bezüglich methodischer Ansätze zur Befähigung einer selbstbestimmten und autonomen Lebensführung marginalisierter Personen. Darüber hinaus werden im Diskurs über die Sexarbeit auch Normvorstellungen von Sexualität transportiert.
Dieser Artikel versteht sich nicht als ein Debattenbeitrag, sondern bietet anhand einer knappen Darstellung des historischen Kontextes, feministischer Konzepte und einer Reflexion der gesellschaftlichen Doppelmoral – ein von der Sozialen Arbeit identifizierter Schlüsselbegriff – eine Anregung zur Reflexion des professionellen Standpunktes der Sozialen Arbeit. Vorausgehend werden die Herausforderungen sozialarbeiterischer Praxis und sozialarbeitswissenschaftlicher Forschung im Feld skizziert.
2. Zum Verhältnis Sozialer Arbeit und Sexarbeit
Im Feld der Sexarbeit ist die Soziale Arbeit eine zentrale Akteurin an der Schnittstelle zwischen Marginalisierung und Inklusion. Verena Ott spricht von „Grenzbearbeitungen“ und „Suchbewegungen“ (Ott 2018: 207), die von Fachberatungsstellen der Sozialen Arbeit ausgeführt werden müssen. Unter Berücksichtigung normativer Setzungen im Zusammenhang mit Sexualität und in Bezug auf Sexarbeit als Erwerbsrealität betont sie, dass die Beratungsstellen gefordert sind, an dieser Schnittstelle zu vermitteln (vgl. Ott 2018: 207). Die Soziale Arbeit befindet sich aber nicht nur im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlich geprägten sexuellen Normen und der davon (vermeintlich) abweichenden Sexarbeit. Hinzu kommen politisch-gesellschaftliche Veränderungsprozesse der jüngsten Vergangenheit, die das sozialarbeiterische Handeln im Feld erschweren. All diese Herausforderungen verlangen von der Sozialen Arbeit methodisch wie fachlich ein besonders differenziertes und professionelles Handeln (vgl. u.a. Albert/Wege 2015: 2; Albert 2015: 17f.; Löw/Ruhne 2011: 21).
Die Sozialarbeitswissenschaft hat sich bisher wenig mit Sexarbeit als Forschungsgegenstand auseinandergesetzt. Es sind vor allem (Sub-)Disziplinen der Rechtswissenschaften, der Medizin oder der Soziologie, die Forschung bereitstellen. Und auch diese müssen einen Umgang finden mit den Strukturmerkmalen wie Tabus, hohen Dunkelziffern und einer paradoxen Unsichtbarkeit, die das Feld insgesamt kennzeichnen (vgl. u.a. Albert 2015: 9f.; Löw/Ruhne 2011: 21). Obwohl die Traditionslinien sozialarbeiterischer Tätigkeit im Feld der Sexarbeit bis in die 1920er-Jahre zurückreichen, ist beispielsweise der Sammelband von Julia Wege und Martin Albert (2015) eines der wenigen deutschsprachigen, sozialarbeitswissenschaftlichen Fachbücher über Sexarbeit. Laut Albert liegt – neben den genannten Strukturmerkmalen – die sozialarbeitswissenschaftliche Forschungslücke im Umstand begründet, dass „die Pluralität der Trägerlandschaft und die unterschiedlichen Haltungen gegenüber Sexarbeit [...] eine gewisse Klarheit und Vereinheitlichung der Zielsetzungen und Handlungsstrategien [verhindern]“ (Albert 2015: 22). Es fehle „an verlässlichen Daten, umfassenden theoretischen Analysen, der Auswertung von historischen Dokumenten und fundierten sozialräumlichen bzw. lokalen Untersuchungen“ (Albert 2015: 9).
Um die Herausforderung und zugleich den Bedarf von Forschung im Feld zu verdeutlichen: Die Soziale Arbeit sieht sich vor dem Hintergrund ihres Tripelmandats erstens dazu beauftrag, Sexarbeitende zu beraten und zur autonomen Lebensführung zu befähigen, hat zweitens ein gesundheitspolitisches Mandat verschiedener Träger inne und verpflichtet sich drittens auch ethisch-menschenrechtlichen Grundsätzen. Darüber hinaus impliziert das dritte Mandat aber auch Forschungstätigkeit sowie die Reflexion der Wissensproduktion (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 6f.). Dass die Soziale Arbeit nun aber – ähnlich wie die Sexarbeit – von einer „partiellen und öffentlichen Unsichtbarkeit“ (Albert/Wege 2015: 2) betroffen ist, wirkt dieser Reflexion möglicherweise entgegen. Außerdem wird – so die These – das komplexe Handlungsfeld zwar in Expert*innenkreisen thematisiert, es scheint aber aufgrund seiner Prekarität und Spezifität als sozialarbeiterisches Tätigkeitsfeld innerhalb der Disziplin und Praxis eine Außenseiterposition einzunehmen.
Ausgehend von dieser konstatierten Forschungslücke wurde im Juni 2018 die Masterarbeit mit dem Titel Soziale Arbeit im Salon – Eine Analyse des klinisch-sozialarbeiterischen Diskurses über Sexarbeit in der Schweiz (1988–2016) (Blessing 2018) an der Fachhochschule Vorarlberg in der Vertiefungsrichtung Klinische Soziale Arbeit eingereicht. Im Zentrum dieser Analyse stand die Frage, wie sich in der Schweiz das Verhältnis von Klinischer Sozialer Arbeit und Sexarbeit seit den späten 1980er-Jahren gestaltet hat und wie die Soziale Arbeit dieses Feld beschreibt und bearbeitet.2 In Anbetracht gegenwärtiger Debatten darüber, inwiefern sich die Soziale Arbeit als Profession positionieren und dadurch in der Wissenschaftslandschaft profilieren kann, zielte die Forschungsarbeit nicht in erster Linie auf die Produktion von Handlungs-, sondern viel mehr von Reflexionswissen.
3. Die Forschungsarbeit im Überblick
Zur Beantwortung der Fragestellung und zur Herausarbeitung von Wissens- und Machtstrukturen wurde der methodische Zugang der Kritischen Diskursanalyse nach Siegfried Jäger gewählt (vgl. Jäger 2015). Den Rahmen der Arbeit bildete somit die Frage, welches Wissen zu welchem Zeitpunkt vorhanden war und ist und wie sich die Soziale Arbeit in den hegemonialen Diskurs zur Sexarbeit einschreibt. Der untersuchte Quellenkorpus setzte sich aus Jahresberichten von drei Schweizer Fachberatungsstellen für Sexarbeitende zusammen und umfasste den Zeitraum von 1988 bis 2016.
Die Arbeit identifizierte neben dem diskursiven Kontext zentrale Argumente, Problemlagen und Wissensbestände des sozialarbeiterischen Diskurses über Sexarbeit. Dabei zeigte sich eine klare Diskursposition aller drei Organisationen: Sie setzen sich dezidiert für die Anerkennung der Sexarbeit als eine reguläre, legale Erwerbsarbeit ein. Als zentrales Problem wurde von den Akteur*innen unter anderem die gesellschaftliche Doppelmoral beschrieben, die durch politisches Engagement, Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit abgebaut werden soll (vgl. Blessing 2018: 92, 98–100).
Nach diesem knappen Überblick der diesem Artikel zugrundeliegenden Forschungsarbeit erläutere ich im Anschluss einen spezifischen Aspekt des Diskurskontextes, der für die Analyse dieses Diskurses wichtige Informationen liefert – gerade vor dem Hintergrund der politisch und moralisch aufgeladenen Debatte – sowie das von Foucault benannte historische Apriori darstellt (vgl. Foucault 2015: 183–189). Im nachfolgenden Kapitel werden deshalb Genealogien der zentralen historischen und feministischen Positionen und Argumente herausgearbeitet.
4. Eine kurze Geschichte der Sexarbeit
Der gesellschaftliche Umgang mit Prostitution scheint seit jeher zwischen Toleranz und Repression geschwankt zu haben. Eine entsprechende Genealogie lässt sich zumindest bis in die Antike zurückverfolgen. Eine besondere Phase der ‚Hochkonjunktur‘ der Prostitution war allerdings das 19. Jahrhundert, in dem sie als entkriminalisiert galt, obwohl sie verboten war. Der Grund dafür ist im damaligen gesellschaftlichen Verhältnis zum Geschlechtsakt zu finden (vgl. Sarasin 2004: 9). Mitte des 18. Jahrhunderts entstand im Kontext einer materialistischen Philosophie eine „neue bürgerliche Ordnung der Geschlechter“ (Sarasin 2004: 10), in der der Mann und die Frau entsprechend ihres Körpers in der Gesellschaft den Beitrag zu leisten hatten, welcher ihnen ‚naturgemäß‘ am besten entsprach. Dem Mann wurde neben der intellektuellen Überlegenheit auch ein ausgesprochener Geschlechtstrieb zugesprochen, der zwingender Befriedigung bedürfe, als jener der Frau. Damit erhielt die regulierte Prostitution ihre Legitimation, und zwar über medizinische Argumente: Der Geschlechtstrieb sollte nicht behindert werden, um den Erhalt der Gesundheit zu gewähren. Bordelle wurden unter medizinisch-hygienischen Kontrollen als notwendiger Teil einer funktionierenden Gesellschaft angesehen. Für die Frauen hatte dies paradoxe Konsequenzen: Sie erhielten durch die medizinischen Kontrollen zwar einen gewissen Schutz, waren aufgrund ihrer Tätigkeit aber gleichzeitig auf den untersten gesellschaftlichen Rang verwiesen (vgl. Sarasin 2004: 10–13).
4.1 Die abolitionistische Bewegung
Vor allem von christlich motivierten Sittlichkeitsvereinen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich eine grundsätzliche Kritik sowohl an der Prostitution als auch am System der regulierten Prostitution formuliert, die ihnen als verwerflich und unrecht galten. In England entstand daraus die abolitionistische Bewegung, die einerseits feministisch geprägt, andererseits christlich orientiert war (vgl. Sarasin 2004: 15). Diese Bewegung – die unter anderem von Josephine Butler, einer britischen Feministin, mitgeprägt wurde – organisierte weltweit Widerstand gegen jegliche medizinischen Vorschriften und forderte zugleich die Abschaffung der Gesetze, denen die Frauen in der Prostitution unterworfen waren. Sowohl die Gesetze als auch die medizinischen Kontrollen würden die Frauen erheblich diskriminieren und gleichzeitig die sexuelle Doppelmoral in der Gesellschaft aufrechterhalten (vgl. Danna 2014: 13f.; 2007: 6). Das selbsterklärte Ziel bestand also darin, Prostitution nicht nur rechtlich abzuschaffen (vgl. Danna 2007: 7), sondern auch eine für „Männer und Frauen gleichermassen [sic!] verpflichtende Sittlichkeit“ (Sarasin 2004: 15) einzufordern. Unter dem Druck dieser abolitionistischen Bewegung wurden schließlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts viele Bordelle europaweit geschlossen (vgl. Sarasin 2004: 15).
Teil dieser Bewegung war auch die Soziale Arbeit. Jane Addams – eine Pionierin der Sozialen Arbeit – und weitere amerikanische Feministinnen betrachteten in den 1910er-Jahren Prostitution als „social evil“ schlechthin und sprachen von den weiblichen Prostituierten als „victims of White slavery“ (Addams 1912, zit. n. Sloan/Wahab 2000: 459). Addams war der Ansicht, „that prostitution would eventually go away once society moved to the next level of moral development“ (Sloan/Wahab 2000: 459). Auch wenn zwar im Zuge der abolitionistischen Bewegung viele der diskriminierenden Prostitutionsgesetze abgeschafft wurden, so hat sich die Annahme, dass dann auch die Prostitution verschwinden würde, nicht bewahrheitet (vgl. Danna 2007: 6).
In den 1920er-Jahren versuchte die Soziale Arbeit über Fallarbeit und Therapie die Persönlichkeit von Prostituierten zu rehabilitieren, wobei die christlichen Bewegungen hierfür ihren Glauben und die Religion einsetzten. Die Ursachen und Gründe für die Prostitution sahen sowohl die Soziale Arbeit als auch die christlich motivierten Sittlichkeitsvereine im Individuum angesiedelt (vgl. Sloan/Wahab 2000: 460). Im Zuge der Verwissenschaftlichung des Diskurses, die spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert durch die Medizin, Psychiatrie und Psychologie einsetzte, hatte sich nicht nur eine auf das Individuum zentrierte Perspektive etabliert, sondern es wurde auch zunehmend der Mann als epidemiologische Gefahr identifiziert. Vertreter*innen der Psychiatrie gestanden Frauen darüber hinaus auch hinsichtlich der Prostitution zunehmend eine freie Berufswahl zu. Es entwickelte sich allmählich ein neues Verhältnis zur Sexualität, das nicht mehr nur über religiös-moralisierende, sondern auch über wissenschaftliche Argumente funktionierte (vgl. Sarasin 2004: 16; Sloan/Wahab 2000: 460).
In den 1970er-Jahren wurde im Kontext gesellschaftskritischer Proteste der prostitutionskritische Gedanke Addams, Prostitution sei sexuelle Sklaverei, wieder aufgegriffen. Einerseits galten wirtschaftliche Bedingungen als Hauptursache für Prostitution, andererseits wurden die patriarchalen Strukturen als Bedingungen der Prostitution genannt. Innerhalb dieser Proteste entstanden letztlich auch verschiedene radikal-feministische Bewegungen (vgl. Sloan/Wahab 2000: 460f.). Gleichzeitig hatte sich in der Folge von 1968 und der sogenannten sexuellen Revolution auch eine andere Richtung entwickelt, und zwar jene, die sich bis heute proaktiv für die Rechte der Prostituierten einsetzt. Erstmals wurde nicht mehr von Prostitution, sondern von Sexarbeit/sexwork gesprochen. Diese Terminologie geht auf die „Hurenbewegung“ der 1970er-Jahre in den USA zurück und hat sich schließlich international durchgesetzt. Ziel war und ist es bis heute, Sexarbeit als Arbeit im Sinne ihres Beitrags zu einer funktionierenden Gesellschaft wahrzunehmen und anzuerkennen (vgl. Drücker 2005: 13; Sloan/Wahab 2000: 466).
4.2 Ein Auszug zweier feministischer Positionen
Nach Sloan und Wahab (2000) existieren diverse feministische Strömungen, die entweder die Position „sexwork as violence and exploitation“ oder „sex as work“ (Sloan/Wahab 2000: 461, 466) vertreten. Folgend wird der liberale Feminismus als sex-positive und prostitutionsbefürwortende Strömung erläutert und die prostitutionskritischen Haltungen unter einer radikal-feministischen Position zusammengefasst.3
Die liberal-feministische Strömung verfolgt die Position „sex as work“ (Sloan/Wahab 2000: 466–468). Sexarbeit wird als legitime Arbeit betrachtet, deren Entkriminalisierung gefordert sowie das Recht auf Selbstbestimmung und die Handlungsmacht der Sexarbeiter*innen betont. Frauen sollen nicht in erster Linie als Opfer eines patriarchalen Systems betrachtet werden, sondern als selbstbestimmte Personen – auch und vor allem im Hinblick auf ihre Sexualität. Dadurch sollen das Dogma der Monogamie und die traditionelle Koppelung von Sex und Liebe aufgebrochen sowie patriarchale Strukturen nicht nur kritisiert, sondern auch abgebaut werden. Liberale Feminist*innen vertreten weiter die Haltung, dass Sexarbeitende „weder sich selbst, noch ihren Körper noch ihre Würde [verkaufen], sondern eine begrenzte Nutzung ihrer Sexualität“ (Jarosch 2009: 9) in Form einer Dienstleistung anbieten würden.
Darin zeigt sich ein zentraler Unterschied zu radikaleren Positionen, die den Verkauf von Sex mit dem Verkauf des Körpers gleichsetzen (vgl. Sloan/Wahab 2000: 469; Bromberg 1997: 17). Tatsächlich spielt im liberalen Feminismus die Person hinter der Dienstleistung eine untergeordnete Rolle, weshalb auch nicht vom Verkauf des Körpers gesprochen wird: „The relationship between the public and professionals is that both treat each other for their own ends. The client needs sex and the prostitute needs money.“ (Weisberg 1996: 211) Auch bei anderen Dienstleistungen würde nicht die Person im Vordergrund stehen, sondern nur das Angebot (vgl. Bromberg 1997: 17). Der liberale Feminismus setzt sich für die rechtliche Anerkennung und Gleichstellung dieser Dienstleistung ein. Nur diese schaffe die Voraussetzung, Sexarbeit zu entkriminalisieren, Stigmatisierungen abzubauen und Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen. Restriktive und repressive Gesetze würden Zuhälterei und somit auch den Entzug der Selbstbestimmung fördern, insbesondere da gerade Sexarbeitende mit Migrationshintergrund auf Vermittlung, Hilfe und Unterstützung angewiesen seien (vgl. Amesberger 2014: 4f.).
Radikal feministische Positionen, die gemäß Sloan und Wahab zu „sexwork as violence and exploitation“ (Sloan/Wahab 2000: 461) zählen, sehen hingegen in der Prostitution die patriarchalen Gesellschaftsstrukturen reproduziert und Sexarbeitende zumeist als „Opfer in einer frauenfeindlichen Umgebung“ (Jarosch 2009: 4). Die Positionen reichen von der Wahrnehmung der Prostitution als einer besonders subtilen Form der Ausnutzung, Unterdrückung und Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen, bis hin zur Auflösung der Grenze zur Vergewaltigung. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern wird als asymmetrisch und als ausbeuterisch verstanden. Auch die Möglichkeit einer in Abgrenzung zur Zwangsprostitution freiwillig ausgeübten Sexarbeit wird aberkannt. Nur über eine fundamentale Veränderung innerhalb der Gesellschaft, in der Prostitution keinen Platz habe, könne gemäß Prostitutionskritiker*innen der Abbau stereotyper Geschlechterrollen sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht werden (vgl. u.a. Bromberg 1997: 4, 17, 26).
Laut Bromberg wird in dieser Argumentationsweise jedoch ein Menschenbild vertreten, das von zwei Mythen hinsichtlich des eigenen Geschlechts gefangen sei: „(1) that men need more sex than women and (2) that they are genetically the stronger sex and therefore should be dominant in relationships with women.“ (Bromberg 1997: 26) Nach Grenz sind diese Mythen nicht mehr zeitgemäß, und dennoch wird der vermeintlich ausgeprägtere Sexualtrieb des Mannes als schlagkräftiges Argument für die Existenz der Prostitution verwendet. Dies „sind historisch gewachsene Annahmen, in denen sich unsere sozialen und kulturellen Vorstellungen über Geschlecht und Sexualität widerspiegeln“ (Grenz 2014: 31), die jenem Denken des 19. Jahrhunderts entsprechen, das die Geschlechterunterschiede biologisch begründete.
Die beiden skizzierten feministischen Positionen erweisen sich bis heute auch in den Debatten um die rechtliche Handhabung von Sexarbeit als wirkmächtig. Während sich liberale Feminist*innen für die Entkriminalisierung Sexarbeitender mittels einer gesetzlich regulierten, aber ausdrücklich legalen Sexarbeit einsetzen,4 fordern radikale(re) Positionen ein Sexkaufverbot mit dem Ziel, Prostitution abzuschaffen, wobei das sogenannte Schweden-Modell als richtungsweisend gilt.
Die Analyse gegenwärtiger Prostitutionspolitik wird hingegen durch die uneinheitliche Terminologie in der Forschungsliteratur erschwert. Das Schweden-Modell wird beispielsweise sowohl dem Prohibitionismus und auch den sogenannten Neo-Modellen (vgl. Prokore 2019b, Danna 2014: 17; Renzikowski 2007: 12; Di Nicola/Orfano/Cauduro/Conci 2005: 99) als auch dem Abolitionismus (vgl. Amesberger 2017: 4; Le Breton 2011: 53; Büschi 2011: 70) zugeordnet.5 Als konstruktiver Vorschlag einer Übersicht gegenwärtiger Prostitutionspolitiken erweist sich die Differenzierung Reinschmidts in rechtliche Modelle einerseits und in eine Typologie primär politischer Ziele andererseits. Als Beitrag zu einer Versachlichung des Diskurses sei eine alleinige Orientierung an den Politikzielen – ob Sexarbeit als Erwerbsarbeit kriminalisiert, einer legalen Dienstleistung entsprechen oder aber gar entkriminalisiert werden soll – nicht hilfreich, da diese Typologisierung auf moralischen Werturteilen beruhen würde. Sie verweist daher in ihren Ausführungen auf die Bezugnahme rechtlicher Modelle, die ein umfassendes Prostitutionsverbot, ein Sexkaufverbot, die legal-unregulierte und legal-regulierte Prostitution unterscheiden. (vgl. Reinschmidt 2016: 2f.).
Aus einer länderübergreifenden Perspektive lässt sich zusammenfassend wohl am ehesten von einer zunehmenden Kriminalisierungspolitik sprechen, die das abolitionistische Ziel der Abschaffung der Prostitution zunehmend über prohibitionistische Gesetze auszuführen versucht.
5. Reflexion zur Doppelmoral
Während bisher vor allem Kontextwissen bereitgestellt wurde, so folgt nun die Darstellung des Analyseteils der Forschungsarbeit, in welchem gesamtgesellschaftliche Vorstellungen von Sexarbeit über den sozialarbeiterischen Diskurs sichtbar werden. Dabei handelt es sich gleichermaßen um einen Auszug zentraler Ergebnisse der Forschungsarbeit sowie um eine Reflexion dieser (vgl. Blessing 2018: 88–91, 98–103).
Die Auswertung der Jahresberichte der drei untersuchten Fachberatungsstellen für Sexarbeitende in der Schweiz ergab, dass die gesellschaftlich doppelmoralische Bewertung von Sexarbeit als zentrales Problem von der Sozialen Arbeit diagnostiziert wird. Darunter verstehen die Beratungsstellen die Kluft zwischen der realen Alltäglichkeit auf der einen Seite und der Tabuisierung der Sexarbeit auf der anderen Seite. Diese Kluft erhalte die Stigmatisierung aufrecht, was sich schließlich negativ auf die bio-psycho-soziale Gesundheit der Sexarbeitenden auswirke (vgl. Blessing 2018: 88 f.). Diese Diagnose deckt sich mit den Ausführungen Otts, in denen sie auf die gesellschaftliche Sexualmoral sowie die gesellschaftliche Definition von Arbeit verweist, die beide im Widerspruch zur Sexarbeit stehen und neben genannter Stigmatisierung auch zur „Klassifikation von Sexarbeit als sozialem Problem“ (Ott 2018: 207) führen.
Insbesondere der mediale Diskurs zeichnet sich durch doppelmoralische Bewertungen des Sexgewerbes aus, die den sozialarbeiterischen Bemühungen um eine Anerkennung der Sexarbeit wesentlich entgegenlaufen. Er funktioniert über moralisierende Narrative, die zur Stigmatisierung beitragen. Dementgegen verfolgen die Fachberatungsstellen im Feld der Sexarbeit explizit das Handlungsziel, dem medial geprägten Diskurs durch Versachlichung entgegenzuwirken. Als zentrales Instrument dafür dient wissenschaftliches Wissen – teils selbst produziertes, teils aus Referenzdisziplinen –, was sich auch im Quellenbestand der analysierten Jahresberichte niederschlägt (vgl. Blessing 2018: 88–90, 99 f.).
Insgesamt sind die Fachberatungsstellen also äußerst bemüht, die vermeintlichen Wirklichkeitsabbildungen des hegemonialen Diskurses über Sexarbeit zu entschärfen. Dies wird auch über die ideologische Diskursposition erkennbar. Unumstrittener Konsens aller drei untersuchter Beratungsstellen besteht in der Zielsetzung, zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation von Sexarbeitenden beizutragen (vgl. Blessing 2018: 92 f.).
Die Frage, die sich für die Soziale Arbeit ausgehend von diesem identifizierten Problem stellt, ist, inwieweit sie als Disziplin und Profession zur Überwindung der gesellschaftlichen Doppelmoral beitragen kann und mit welchen Schwierigkeiten sie diesbezüglich konfrontiert wird. Mit dem Blick auf die gesamtgesellschaftliche Einordnung der Sozialen Arbeit wird erkennbar, dass auch sie in ein dichtes gesellschaftspolitisches Netz und damit in Machtbeziehungen eingebunden ist. Als Organ sozialer Kontrolle ist die Soziale Arbeit einem liberalen Vorsorge- und Regierungsregime unterstellt, wodurch das Mandat der Kontrolle legitimiert wird (vgl. Staub-Bernasconi 2007: 6; Biermann/Bock-Rosenthal/Doehlemann/Grohall/Kühn 2006: 173). In diesem Sinne funktioniert soziale Kontrolle eben nicht in erster Linie über Repression und Verbote, sondern – mitunter über sozialarbeiterisches Handeln – subtiler. Über die Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen (zum Beispiel aus der Medizin) werden vermeintlich objektive Handlungsanleitungen gegeben, womit die Verantwortung an die Individuen und somit auch an die Sexarbeitenden abgegeben wird. Diese Form internalisierter Verantwortung kann auch als Form des „gouvernementalen Regierens“ bezeichnet werden (vgl. Kammler/Parr/Schneider/Reinhardt-Becker 2014: 260–263).
In der Verstrickung der Klinischen Sozialen Arbeit in dieses größere, übergeordnete Vorsorgeregime, das im gesundheitspolitischen Sinne auch als New Public Health bezeichnet wird (vgl. u.a. Geene 2014), zeigt sich meiner Ansicht nach das Dilemma und Spannungsfeld der verschiedenen Mandate Sozialer Arbeit: Der Fokus der Fachberatungsstellen ist im Sinne einer trifokalen Ausrichtung auf die bio-psycho-soziale Gesundheit und damit auch auf die sozioökonomische Anerkennung der Sexarbeitenden ausgerichtet. Im analysierten Quellenkorpus ist jedoch kaum eine innerprofessionelle, reflexiv-kritische Auseinandersetzung darüber erkennbar, dass die Soziale Arbeit als Organ sozialer Kontrolle mitunter im Auftrag des New Public Health handelt und damit Teil eines übergeordneten gesundheitspolitischen Diskurses ist (vgl. Blessing 2018: 99, 101 f.).
Aus einer solchen übergeordneten Reflexion sozialarbeiterischer Funktion formuliere ich die These, dass die sozialarbeiterische Tätigkeit mit Sexarbeitenden letztendlich gesellschaftlich hauptsächlich über das Argument der körperlichen Prävention legitimiert wird. So leistet die Soziale Arbeit über die (körperliche) Gesundheitsvorsorge der Sexarbeitenden im Sinne der Bevölkerung zwar einen wichtigen Beitrag. Inwieweit hingegen ihr erklärtes Ziel, auch den doppelmoralisch bewerteten Berufsstatuts aufzuwerten, gesellschaftlich gutgeheißen wird, bleibt offen. Gerade weil der Fokus bzw. die Akzeptanz auf der körperlichen Prävention liegt, fällt eine grundlegende Debatte über Werte und Normen aus. Dies erstaunt insofern nicht, als dass sich Aushandlungsprozesse zu komplexen und moralisch aufgeladenen Themen wie Sexualität schwierig gestalten. Allein der Verweis von Howe, dass sexuelle Dienstleistungen zwar intime, aber keine private Beziehung seien, zeigt, wie unterschiedlich sexuelle Beziehungen gedacht und definiert werden können (vgl. Howe 2016). Ott schlägt diesbezüglich vor, dass
„es vor diesem Hintergrund und gerade auch in Bezug auf ein Heraussondern von Sexarbeit als sozialem Problem durchaus erkenntnisversprechend sein [könnte], dieses Verhältnis von Sexarbeit und Sexualität neu zu befragen. Anstatt weiterhin in einer Dichotomie fest zu stecken, in der Sexarbeit entweder als ein ‚Sich-Verkaufen‘ oder aber als Dienstleistung diskutiert wird, die von Sexualität zu trennen sei, könnte ein nuancierter Blick der Debatte gut tun“. (Ott 2018: 220)
Angesichts dieser diversen Aspekte befindet sich die Klinische Soziale Arbeit in einem nahezu unüberwindbaren Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher (Sexual-)Moral und ihrem professionellen Anspruch, sich für die Rechte der Sexarbeitenden einzusetzen. Um zumindest eine Chance zu haben, dieses Dilemma unter Berufung auf ihr Professionsverständnis, wenn nicht zu lösen, so zumindest gezielt anzugehen, ist eine Reflexion in professionstheoretischer Hinsicht, inwiefern also die Soziale Arbeit Teil eines größeren Diskurses ist, unabdingbar (vgl. Blessing 2018: 103).
Verweise
1 Ich verwende im Artikel außerhalb des historisch-rechtlichen Kontextes den Terminus Sexarbeit oder Sexarbeitende, um die Tätigkeit als eine Form von Dienstleistung anzuerkennen und damit deren Legitimität zu unterstreichen. Damit beziehe ich Stellung im Diskurs. Keineswegs leugne ich hingegen Sexismus, Ausbeutung und Diskriminierung sowie ökonomische und soziale Machtgefälle im Feld. Ich gehe aber von einer prinzipiellen Agency der Sexarbeitenden aus und vertrete die Ansicht, dass ohne gleichberechtige Stimme der Sexarbeitenden Missstände auch nicht behoben werden können.
2 Es wird ausgehend von Klinischer Sozialer Arbeit argumentiert, da die Forschungsarbeit im Rahmen des Masterstudienganges Klinische Soziale Arbeit an der Fachhochschule Vorarlberg erarbeitet wurde und sich die Soziale Arbeit im Feld der Sexarbeit durch dessen hohe Komplexität und aufgrund verschiedenster Strukturmerkmale einem klinischen Handlungsfeld zuordnen lässt.
3 Sloan und Wahab fassen den Marxist feminism, die domination theory sowie den Black feminist thought als radikalere Positionen zusammen (vgl. Sloan/Wahab 2000: 461–466).
4 Nicht weiter ausgeführt wird an dieser Stelle die Debatte über gesetzliche Regulierungsprozesse, aus denen hohe bürokratische Hürden hervorgehen, die nicht zwangsläufig zu einer Verbesserung der Lebenssituation von Sexarbeitenden führen (vgl. u.a. Hürlimann 2004: 151f.).
5 Prohibitionismus, Abolitionismus und Regulationismus sind gängige Typologien, nach denen sich nationale und regionale Prostitutionsgesetze richten (vgl. u.a. Prokore 2019b). Sogenannte Neo-Modelle orientieren sich weiterhin an dieser Typologie, jedoch mit inhaltlichen Verschiebungen oder Sonderregelungen (vgl. u.a. Renzikowski 2007: 11).
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Über die Autorin
Vera Blessing, MA
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