soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 21 (2019) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Vorarlberg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/616/1105.pdf
Birgit Mohr:
„[Ich bin] wie beides. Ich bin ein Syrer […], aber ich fühle, dass Österreich mich verändert hat.“ Antwort eines interviewten Jugendlichen auf die Frage, welchem Land er sich zugehörig fühlt.
1. Hintergrund/Einleitung
In den vergangenen Jahren haben viele Menschen flüchten müssen, unter ihnen auch viele Jugendliche mit und ohne ihre Eltern. Zum traumatisierenden Fluchterlebnis, dem Verlust der gewohnten Umgebung und vielfach auch von Familienmitgliedern und Freund*innen kommt im Ankunftsland die Konfrontation mit einer neuen Kultur hinzu. Jugendliche werden diesbezüglich vor zusätzliche Herausforderungen gestellt wie beispielsweise das Erlernen einer neuen Sprache oder die Notwendigkeit, sich ein neues soziales Netzwerk aufzubauen, welchem für die Identitätsentwicklung im Jugendalter eine große Bedeutung zukommt. In Anbetracht dieser Umstände stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise Jugendliche mit Fluchterfahrung ihre kulturelle Identität entwickeln und mit welchen Ansätzen die Soziale Arbeit in der Offenen Jugendarbeit hinsichtlich dieser Thematik arbeitet.
Der vorliegende Artikel basiert auf der Masterarbeit der Autorin Wer war ich, wer bin ich, wer soll ich sein? Modelle kultureller Identitäten von Jugendlichen mit Fluchterfahrung und der Beitrag der Offenen Jugendarbeit Dornbirn zur positiven Identitätsentwicklung (Mohr 2017). Die empirischen Daten wurden mit Hilfe leitfadengestützter Interviews mit acht Jugendlichen mit Fluchterfahrung gewonnen. Die Ergebnisse zur kulturellen Identitätsentwicklung der Jugendlichen wurden durch fünf Expert*inneninterviews mit Sozialarbeiter*innen der Offenen Jugendarbeit zu professionellen Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Jugendlichen mit Fluchterfahrung ergänzt.
Jugendliche mit Fluchterfahrung befinden sich in einem Spannungsfeld zwischen Kultur, Macht und Identität. Eine kulturelle Konstruktion sozialer Identitäten ist nicht analysierbar, ohne die Machtverhältnisse zu berücksichtigen, in die sie eingebettet sind. Kultur ist das Werkzeug, mit dessen Hilfe Identitäten artikuliert werden können, gleichzeitig ist sie aber auch eine politische Kategorie, welche Machtverhältnisse sichtbar macht. Diese Dreiecksbeziehung von Kultur, Macht und Identität im Zusammenhang mit Jugendlichen mit Fluchterfahrung ist die Basis der Masterarbeit. Im Folgenden wird jedoch lediglich die kulturelle Identitätsentwicklung im Vordergrund stehen.
1.1 Bedeutung von Kultur- und Machtaspekten
In der Sozialen Arbeit herrscht ein dynamisches Kulturverständnis vor. Es wird also davon ausgegangen, dass es vielfältige und mehrdimensionale Identifizierungsmöglichkeiten in und mit Kulturen gibt (vgl. Freise 2007: 18f.). Kultur als soziale Praxis lässt Defizite und Ressourcen sozialer Verhältnisse, ökonomische und politische Strukturen ins professionelle Blickfeld rücken (vgl. Mecheril 2013: 23; Rommelspacher 1998: 22). Nicht nur sichtbare Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnisse lassen Asymmetrien in der Gesellschaft entstehen, vielmehr bringen Dominanzkulturen durch verinnerlichte Normen und soziale Strukturen auf subtile Weise Hierarchien hervor. So werden durch die Kategorie Kultur bzw. kulturelle Zugehörigkeit symbolische, nicht offen sichtbare Grenzen gezogen, wodurch Über- und Unterlegenheit entsteht (vgl. Rommelspacher 2000: 634; 2006: 3). Die dabei entstehenden unterschiedlichsten Machtformen führen dazu, dass fast jede*r in irgendeiner Form von Diskriminierung betroffen, gleichzeitig aber auch dominant ist – wenn auch in sehr unterschiedlichem Grad. Zentral ist also, dass die gesellschaftlichen Barrieren, die sich auch für Jugendliche mit Fluchterfahrung auftun, nur gelockert werden können, wenn Antidiskriminierungsstrategien alle verschiedenen Formen der Dominanz gleichzeitig im Blick haben und gleichermaßen auf individueller wie auf struktureller Ebene ansetzen (vgl. Rommelspacher 2000: 638).
1.2 Kulturelle Identitätsentwicklung
1.2.1 Begriffsdiskussion
Konservative und neue rechte Strömungen fordern die Verteidigung einer vermeintlich bedrohten nationalen Identität unter Verwendung des Begriffes der kulturellen Identität. Aus diesem Grund wird der Begriff von Seiten rassismuskritischer Denker*innen kaum mehr verwendet. Zudem wird von mehreren Theoretiker*innen ein sogenanntes ‚Recht auf Differenz‘ fast mit Rassismus selbst gleichgestellt. Homi K. Bhabha und Stuart Hall hingegen setzen eine Alternative „zu diesem ausweglosen Entweder-Oder der (Selbst-)Unterwerfung“. (Hall 1994: 6) Hall vertritt die These, dass Menschen, die mit verschiedenen Kulturen und Sprachen aufwachsen, eine Chance zum Brückenbauen haben. Sie können gleichzeitig mehrere Heimaten haben und so Kulturen der Hybridität angehören, ohne Anspruch auf kulturelle Reinheit oder ethnischen Absolutismus (vgl. Hall 1994: 5–7).
Es kann entsprechend dieser Überlegungen nicht von einer einzigen kulturellen Identität gesprochen werden; Brüche und Diskontinuitäten müssen miteinbezogen werden und soziale Prozesse sind es, die Identitäten hervorbringen. Wird das Fluchterlebnis von Jugendlichen als solch ein Bruch verstanden, wird dennoch der Prozess der Identitätsentwicklung im Ankunftsland – im untersuchten Fall in Österreich – fortgeführt. Dies führt dazu, dass sich die Jugendlichen weder komplett von ihrem Heimatland loslösen noch vollständig den österreichischen Gegebenheiten anpassen.
1.2.2 Empirische Daten
Die von Hall (1994) und Bhabha (1990; 2000) charakterisierte Hybridität zeigt sich deutlich in den Befragungsergebnissen der durchgeführten Untersuchung. Einerseits fühlt sich die Mehrheit der Jugendlichen bereits nach relativ kurzer Zeit in Österreich zu Hause, andererseits vermissen sie Vieles aus ihrer Heimat. Gründe für das Zuhause-Fühlen in Österreich sind z.B. die persönliche Sicherheit und die Hilfsbereitschaft der Menschen. Jedoch fehlen den Jugendlichen zentrale Beziehungen wie beispielsweise Freund*innen oder Familienmitglieder, die noch im Herkunftsland sind, oder die dortige Umgebung (das eigene Haus, die Straße, die Gerüche). Insgesamt, so gaben die Jugendlichen im Zuge der Interviews an, werden die Freundschaften im Herkunftsland als intensiver beschrieben, in Österreich beschränken sie sich eher auf Bekanntschaften: das soziale Netzwerk ist (noch) nicht so ausgeprägt.
Hinsichtlich ihrer kultureller Praktiken – gefragt wurde nach Essen, Religion, Musik/TV, Bedeutung von Ehre, Umgang mit Regeln/Gesetzen, Familie und Erziehung, Sprache – wird deutlich, dass die Jugendlichen viele Aspekte beibehalten werden, ihre kulturelle Identität aber gleichzeitig von Neuem beeinflusst wird. Beispielsweise werden sowohl religiöse Feste der Herkunftskultur als auch österreichische bzw. westliche Feste wie z.B. Silvester, Fasching oder Halloween gefeiert. Bezüglich der Religionsausübung zeigte sich, dass die meisten befragten Jugendlichen, insbesondere diejenigen, die ohne Eltern in Österreich sind, sich eher von ihrer bisherigen Religion entfernen. Sie bewerteten im Gespräch nicht das Religionsbekenntnis an sich als zentral, sondern das Verhalten gegenüber anderen Menschen. Beispielsweise gaben einige Interviewte zu verstehen, dass sie sich aufgrund des engen Regelwerks des Islams und der kritischen Auseinandersetzung damit im neuen Lebenskontext immer mehr vom Islam distanzieren.
Die in Österreich gegebenen Regeln und Gesetze wurden von den Jugendlichen größtenteils positiv eingestuft, da sie, so die genannten Gründe, in ihrem Herkunftsland die Erfahrung gemacht haben, dass es zu Chaos oder sogar Krieg führen kann, wenn Regeln oder Gesetze nicht mehr respektiert werden. Auch die Sprache der Jugendlichen bedient sich der unterschiedlichsten Einflüsse. Im familiären Kontext wird meist die Erstsprache (Arabisch, Farsi oder Dari) gesprochen, im Freundeskreis erweitert sich jedoch das Sprachrepertoire (Deutsch, Englisch, Türkisch). Die Jugendlichen vermengen die verschiedenen Sprachen miteinander, indem sie bei deutschen Sätzen englische Wörter einbauen oder die arabischen/persischen Sätze mit deutschen Wörtern ergänzen. Zudem versuchen sie den Vorarlberger Dialekt zu sprechen.
Hinsichtlich der Zugehörigkeit nehmen sich die Jugendlichen als beiden Ländern und Kulturen zugehörig wahr. Ein Ergebnis der Befragung ist, dass sie sich größtenteils weder gänzlich österreichisch noch absolut syrisch, irakisch oder afghanisch fühlen. Begründet wird das doppelte kulturelle Zugehörigkeitsgefühl im Stolz auf ihre Herkunft, gleichzeitig entsteht auch Stolz für das neu Hinzugewonnene. Österreich, so die Jugendlichen, hat ihnen viel gegeben und sie stärker gemacht. Für ihre zukünftigen Kinder wird es von den Jugendlichen als Ressource betrachtet, beide Kulturen zu kennen.
Die zu dem Themenkomplex befragten Expert*innen gaben an, dass bei der Identitätsentwicklung der Jugendlichen eine Diffusion der Kulturen erkennbar ist, was ihrer Ansicht nach zu einer Sprachenvielfalt und Flexibilität bei den Jugendlichen führt und ihnen ermöglicht, mit den unterschiedlichsten Situationen und Menschen umgehen zu können. Das Kennenlernen neuer Denkmuster und das Leben in verschiedenen Welten, so die Expert*innen, erweisen sich als förderlich für das Zusammenleben. Die individuelle kulturelle Identitätsentwicklung sowie das Zugehörigkeitsgefühl der Jugendlichen sind laut Expert*innen jedoch abhängig von verschiedenen Faktoren wie z.B. dem Stand des Asylverfahrens, den Sprachkenntnissen oder der Etablierung eines sozialen Umfeldes in Österreich.
1.2.3 Theoretisches Fazit
Die in der Untersuchung beobachtbaren Entwicklungen haben letztendlich kulturelle Hybridität zum Ergebnis. Bhabha beschreibt Hybridität wie folgt: „The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new area of negotiation of meaning and representation“. (Rutherford 1990: 211) Die kulturelle Hybridität macht die Entstehung von etwas Anderem bzw. Neuem möglich und steht im Gegensatz zu Assimilation und Homogenisierung. „Sie beschreibt die Identitätsbildungen, die natürliche Grenzen durchschneiden und durchdringen und die von Menschen entwickelt wurden, die für immer aus ihren Heimatländern zerstreut wurden“. (Hall 1994: 218) Jugendliche mit Fluchterfahrung haben, wie Hall erläutert, eine starke Verbindung zu ihrem Herkunftsland, sind sich aber dessen bewusst, dass sie möglicherweise nicht zurückkehren können. Sie sind gefordert, sich in einer noch fremden, neuen Kultur zu orientieren, ohne sich schlichtweg anzupassen und ihre eigenen, bisherigen Identitätsentwicklungen komplett zu negieren. Dadurch werden sie „das Produkt mehrerer ineinandergreifender Geschichten und Kulturen“ (Hall 1994: 218) und haben gleichzeitig mehrere Heimaten. Angehörige von hybriden Kulturen sind demnach ein Gegenbeweis und eine Antwort auf Verfechter*innen kultureller Reinheit und ethnischen Absolutismus‘. So kann Hybridität als Ergebnis von Kulturkontakt beschrieben werden, als Kulturdiffusion, die wiederum Sinn- und Machtverschiebungen mit sich bringt. Laut Bhabha bildet die Hybridität keine homogene Masse, sondern vielmehr einen heterogenen Mischraum: das neu Entstandene ist nicht wiederzuerkennen (vgl. Hall 1994: 218; Struve 2013: 100–102).
Dies führt zu Bhabhas Konzept des Dritten Raums: „But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ‚third space’ which enables other positions to emerge“. (Rutherford 1990: 211) Dieser Dritte Raum steht für Übergang und Bewegung und weist darauf hin, dass Bedeutungen und Symbole von Kulturen nicht einheitlich und erst recht nicht festgelegt sind, sondern neu ausgehandelt und überarbeitet werden können (vgl. Bhabha 2000: 57). Unterschiedliche Zeitkonzeptionen und Geschichtsschreibungen treffen aufeinander, die wiederum Spannungen auslösen (vgl. ebd.: 326). Neue Gemeinschaftsformen werden so denkbar und noch nie dagewesene Identifikations- und Handlungsmöglichkeiten für die Subjekte entstehen, wodurch dem Dritten Raum eine sozialisierende Funktion beigemessen werden kann, indem die Persönlichkeit und soziale Beziehungen reflektiert und weiterentwickelt werden können (vgl. Struve 2013: 125f.).
Die Identität entwickelt sich also sowohl aus den Gemeinsamkeiten mit einem Kollektiv und dessen Kultur als auch aus der „kreativen Transformation dieser Kultur“. (Hamburger 2012: 72) Während des Lebensverlaufs einer Person entsteht ihre Identität, deren stabilisierende Ankerpunkte durch Erfahrungen in sozialen Beziehungen zustande kommen. Das ist insbesondere in kritischen Lebensphasen von Bedeutung, denn dann werden positive Erinnerungen als Stabilisierungsfaktor ins Gedächtnis gerufen (vgl. ebd.).
Migration bzw. Flucht kann – ohne die negativen Effekte zu bagatellisieren – als Möglichkeit zur Entfaltung gesehen werden, eine Ausweitung der Identität hervorrufen sowie neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Individuen (vgl. Hamburger 2012: 73; Feld/Freise/Müller 2005: 1) und Möglichkeiten zu „multiplen, kontextspezifischen Selbstverortungen“ (Fürstenau/Niedrig 2007: 248) bieten. Dies zeigt, dass der statische Kulturbegriff, der davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund zwischen zwei Kulturen aufwachsen, überholt ist, und dass eine dynamische Perspektive der Migrationsgesellschaft deutlich gerechter wird (vgl. ebd.: 248–260).
Die Themen Identität und Kultur im Kontext der Flucht bzw. Zwangsmigration haben eine andere Bedeutung als bei einer freiwilligen Migration. Jugendliche mit Fluchterfahrung stehen vor einigen zusätzlichen Herausforderungen, mit denen sie einen Umgang finden müssen: traumatische Stressoren, die zur Flucht geführt haben, die Fluchtbedingungen, die Aufnahmesituation danach oder gar die Trennung von der Familie sind nur einige wenige davon. Das alles führt zu einer Veränderung ihrer Rollen, ihres Status‘ und ihrer Identität (vgl. Hargasser 2015: 94). Zu der ohnehin schon anspruchsvollen und entscheidenden Phase der Adoleszenz kommen dann noch Aspekte hinzu wie z.B. die neue Kultur, „das Erlernen einer neuen Sprache, die Notwendigkeit des Bildens neuer sozialer Netzwerke und die Einnahme einer veränderten Rolle innerhalb der Familie“ (ebd.: 104). In Kriegs- oder Gewaltsituationen verlieren ethische Werte und Normen an Bedeutung und die dort vorherrschenden Stressfaktoren können Identitätskrisen von Jugendlichen verstärken, was wiederum ein größeres Risikoverhalten (z.B. Sucht, delinquentes Verhalten, schlechte schulische Leistungen etc.) mit sich bringen kann. Daher ist es von großer Bedeutung, dass die Jugendlichen frühzeitig professionelle Unterstützung seitens der Sozialen Arbeit erhalten, um sie in einer positiven Lebensorientierung zu fördern (vgl. Ajdukovic 1998: 209ff.).
2. Auftrag der interkulturellen sowie rassismus- und diskriminierungskritischen Sozialen Arbeit in der Offenen Jugendarbeit
2.1 Interkulturelle Soziale Arbeit
In der Interkulturellen Sozialen Arbeit wird die kulturelle Dimension in allen Handlungsfeldern – so auch in der Jugendarbeit – thematisiert. Dafür ist es wichtig, sich einer möglichen ethnisierenden oder kulturalisierenden Reduktion von Problemlagen bewusst zu sein (vgl. Freise 2013: 47; Schröer 2011: 49f.). Hamburger schreibt von einer „reflexiven Interkulturalität“ (Hamburger 2012: 127), mit der das eigene professionelle Denken und Handeln sowie das Konzept, das dem zugrunde liegt, laufend hinterfragt und somit eben jene Reduktion vermieden werden soll (vgl. ebd.: 127–129).
Laut Freise muss in Zukunft „die theoretische Fundierung einer differenzsensiblen Sozialen Arbeit in der Migrationsgesellschaft, die auf dem Intersektionsansatz aufbaut“ (Freise 2013: 48), geleistet werden. Der Begriff der Intersektion soll die Kräfte sichtbar machen, die mehrfache Ungleichheit und Diskriminierung bewirken können, so z.B. die Kombination aus Religion, Geschlecht, sozialer Klasse usw. So gäbe es nach Freise die Möglichkeit, die Interkulturelle Soziale Arbeit in einen breiteren interdisziplinären und gesellschaftlichen Diskurs einzubinden (vgl. ebd.: 48).
Bezüglich der Identitätsentwicklung von Jugendlichen mit Fluchterfahrung ist es wichtig, nicht nur die einseitige Anpassung an die Normen der Aufnahmegesellschaft zu fordern, sondern die Jugendlichen in der Entwicklung eines mehrkulturellen Bewusstseins zu fördern. Denn die Verleugnung oder Abspaltung der eigenen kulturellen Biographie kann negative psychische Folgen haben. Gleichzeitig ist es wichtig, auch Anforderungen an die Aufnahmegesellschaft zu stellen, um eine Rechts- und Chancengleichheit aller Mitglieder der Migrationsgesellschaft herzustellen (vgl. Akgün 2002: 18).
2.2 Rassismus- und diskriminierungskritische Soziale Arbeit
Um auch im Jugendbereich zusätzlich zur lebensweltorientierten Herangehensweise rassismus- und diskriminierungskritisch arbeiten zu können, ist es essentiell, dass Fachpersonen ihr Selbstverständnis hinsichtlich Zugehörigkeit und Identität reflektieren. Gerade in Bezug auf den sozialarbeiterischen Umgang mit Jugendlichen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte haben einige Studien (vgl. Melter 2006; Deniz 2001; Kuster-Nikolic 2012) belegt, dass hier oftmals Nachholbedarf besteht. Melter beschreibt in seiner Studie, dass sich Fachkräfte im Bereich der Jugendhilfe zwar „subjekt- und lebensweltorientiert für die Interessen der Jugendlichen einsetzen, dies im Bereich migrationssensibler und rassismuskritischer Arbeit jedoch kaum oder gar nicht praktiziert wird“. (Melter 2006: 286) Melter hat anschließend Handlungsempfehlungen für eine diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit formuliert, so z.B. die Reflexion der eigenen gesellschaftlichen Position, die man in Bezug auf (Mehrfach-)Zugehörigkeiten einnimmt, das Hinterfragen der Funktion von Sozialer Arbeit in herrschenden Hierarchie- und Diskriminierungsverhältnissen sowie die Aneignung von vertieften Kenntnissen über aufenthaltsrechtliche Gesetze oder historische und aktuelle gesellschaftliche Funktionen (vgl. Melter 2013: 105). Somit wird deutlich, dass es bei der Arbeit mit Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte von Bedeutung ist, das aktive Handeln gegen Rassismus zu stärken, das Wissen über Rassismus und Zugehörigkeitserfahrungen auszubauen und Zuschreibungsmuster zu reflektieren (vgl. ebd.: 107).
2.3 Konkrete Möglichkeiten der Sozialen Arbeit in der Offenen Jugendarbeit
Für Jugendliche mit Fluchterfahrung hat die Soziale Arbeit innerhalb der Offenen Jugendarbeit (OJA) eine große Bedeutung. Sie wird als erstes Auffangnetz nach der Flucht und als fixer Bezugspunkt wahrgenommen, wenn andere Institutionen (noch) nicht aktiv sind oder werden. Dabei nimmt die Soziale Arbeit Begleitungs-, Betreuungs-, Beratungs- und Vermittlungsfunktionen ein. Die OJA dient als Vermittlerin zwischen Organisationen und ist eine konstante Anlaufstelle für Jugendliche. Eine Besonderheit der Angebote der OJA ist, dass sie auf bedarfsorientierter und niederschwelliger Basis bereitgestellt werden und freiwillig von den Jugendlichen genutzt werden. Dadurch wird der Einfluss der Offenen Jugendarbeit auf die Identitätsentwicklung der Jugendlichen von ihnen als positiv bewertet und ihr eine gewisse Vorbildfunktion und Orientierungshilfe zugeschrieben. Faktoren, die innerhalb der OJA die Identität maßgeblich beeinflussen, sind folgende:
Dies alles – umgesetzt im zwanglosen Rahmen der OJA – ermöglicht es den Jugendlichen laut Befragung, Entwicklungsschritte in ihrem eigenen Tempo zu machen.
Durch die Erfahrung der Flucht wird die Identität der Jugendlichen einem Veränderungsprozess unterzogen, aus dem sie jedoch unter Umständen auch gestärkter herausgehen können. Teilweise wurden die Erlebnisse und Erfahrungen, die im Heimatland und auf dem Weg nach Österreich gemacht wurden, von den Befragten als resilienzfördernd eingestuft. Das Sammeln von Lebenserfahrungen und das Entwickeln von Strategien, um mit schwierigen Situationen zurechtzukommen, wirkt, so die Argumentation, stärkend auf die Persönlichkeit ein. Jugendliche, die ohne Eltern oder andere Familienmitglieder unterwegs sind, müssen auf der Flucht notgedrungen ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Selbstverantwortung entwickeln. Im Vergleich zu österreichischen Jugendlichen, so die Expert*innen in der Befragung, sei trotz der widrigen Umstände weniger Aussichtlosigkeit oder Tendenz zum Aufgeben bei den Jugendlichen mit Fluchterfahrung vorhanden.
Die OJA arbeitet gezielt mit den Erfahrungen der Jugendlichen, indem sie ihnen ihre Ressourcen sichtbar und bewusst macht, was in schlechteren Phasen Hoffnung und Halt gibt. Ebenfalls können sie ihre Erfahrungen und Erlebnisse – wenn sie wollen – auch weitergeben, sodass andere Jugendliche daran teilhaben und gleichzeitig dem Leben in Frieden mehr Wertschätzung entgegenbringen können. Jugendliche mit Fluchterfahrung können anderen ohne Fluchterfahrung kulturelle Begebenheiten erklären und somit Missverständnisse oder Vorurteile aufheben. Auch die konkrete Auseinandersetzung mit dem Fluchterlebnis an sich kann mit Unterstützung der OJA erfolgen, meist ist dies jedoch erst möglich, wenn eine sichere Basis für die Jugendlichen geschaffen wurde, d.h. wenn z.B. der Aufenthaltsstatus geklärt ist und eine sichere Wohnsituation besteht. Ab dem Zeitpunkt kann das Erlebte bearbeitet werden durch:
Um diese Angebote bereitstellen zu können und Jugendliche bestmöglich in ihrer Identitätsentwicklung begleiten zu können, müssen den Fachkräften jedoch bestimmte Ressourcen zur Verfügung stehen und Rahmenbedingungen gegeben sein. Beispielsweise kommt sowohl dem Austausch im Team – der Intervision – als auch der Supervision eine große Bedeutung zu. Gleichermaßen bedarf es vermehrter Weiterbildungen vor allem zu fluchtspezifischen Thematiken, da ein fundiertes Wissen in diesem Bereich von den befragten Expert*innen für notwendig erachtet wird, um einen angemessenen und sensiblen Umgang mit den Jugendlichen zu ermöglichen. Des Weiteren ist die theoretische Fundierung der Arbeit ein wesentlicher Bestandteil in der OJA. Die Basis für das professionelle Handeln bildet laut Expert*innen die lebensweltorientierte Soziale Arbeit, auf deren Prinzipien wie z.B. Ressourcenorientierung, Freiwilligkeit und Partizipation großer Wert gelegt wird. Die Jugendlichen werden so als Expert*innen in ihrer Lebenswelt betrachtet und können in einem ungezwungenen Rahmen teilhaben.
Wie Thiersch, Grunwald und Köngeter (2012: 175) hervorheben, ist auch beim Konzept der Lebensweltorientierung die Abkehr vom defizitären Blick auf das Individuum und dessen soziale Probleme entscheidend. Um diese Professionalität in der Arbeit gewährleisten und – wie Melter es formuliert – sich nicht nur subjekt- und lebensweltorientiert für die Interessen der Jugendlichen einsetzen zu können (vgl. Melter 2006: 286), sondern auch migrationssensible und rassismuskritische Arbeit leisten zu können, ist einiges an Know-how notwendig. Im Arbeitsalltag sind beispielsweise die Aneignung von vertieften Kenntnissen über aufenthaltsrechtliche Gesetze und aktuelle gesellschaftliche Funktionen von Diskriminierung sowie die Auseinandersetzung mit natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten in der Migrationsgesellschaft notwendig (vgl. ebd.).
Um die positive Identitätsentwicklung der Jugendlichen fördern zu können, ist es für Sozialarbeiter*innen in der OJA unumgänglich, ein dynamisches und prozesshaftes Verständnis von Kultur und Identität zu haben (vgl. Freise 2007: 17; Hall 1994: 5–7; Bhabha 2000: 54). Gleichzeitig ist es für die professionelle Arbeit essentiell, Machtverhältnisse in der Gesellschaft zu erkennen und zu reflektieren. Mit Hilfe von ressourcenorientierten Ansätzen, wie z.B. der Lebensweltorientierung sowie der wertschätzenden Haltung gegenüber der kulturellen Herkunft der Jugendlichen, kann deren Identitätsentwicklung positiv beeinflusst werden. Die OJA ist ein idealer Rückzugsort und eine beständige Anlaufstelle für die Jugendlichen, um eigene Haltungen zu reflektieren oder Ängste und Sorgen loszuwerden. Gleichzeitig ist für sie so die Möglichkeit vorhanden, eigene Anregungen und Ideen miteinzubringen und Partizipation zu praktizieren. Diese Gestaltungsmöglichkeiten und die Offenheit der Projekte bieten ideale Bedingungen für vielfältige Identifikationsmöglichkeiten.
3. Resümee
Anhand der vorhergehenden Ausführungen konnte die Bedeutung der Interkulturellen Sozialen Arbeit verdeutlicht werden. Sie hat die Aufgabe, Jugendliche in der Entwicklung ihres mehrkulturellen Bewusstseins zu bestärken und sie in der Auseinandersetzung mit schwierigen Fragen, beispielsweise bezüglich der Religion oder rechtlichen Situation, zu begleiten und zu beraten. Interkulturelle Soziale Arbeit kann das Auffangnetz bieten, das die Jugendlichen nach der Flucht und dem damit einhergehenden Verlust ihres sozialen Netzwerkes benötigen, um schließlich in der für sie neuen Umgebung ankommen und sich selbst verorten zu können.
Gesellschaftliche Barrieren, die den Jugendlichen in Form von Ungleichverteilung von Ressourcen oder sie benachteiligenden Gesetzen im Weg stehen, müssen von der Sozialen Arbeit erkannt werden und gleichzeitig muss den Jugendlichen geholfen werden, diese zu überwinden. Behindernde Machtstrukturen, die beispielsweise die Bedürfnisbefriedigung oder das Lernen einschränken, gilt es in begrenzende umzuwandeln, um letztendlich Chancengleichheit für alle Mitglieder der (Migrations-)Gesellschaft herzustellen und die Jugendlichen mit Fluchterfahrung von ihrem Gefühl der Benachteiligung Stück für Stück befreien zu können. So sind die Möglichkeit zur Annahme von Mehrsprachigkeit und -kulturalität sowie die Partizipation am gesellschaftlichen Leben und die Wertschätzung der Herkunftskultur entscheidende Aspekte für ein positives kulturelles Identitätsgefühl.
Literatur
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Über die Autorin
Birgit Mohr, MA
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