soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 21 (2019) / Rubrik "Thema" / Standort Feldkirchen
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/622/1091.pdf
Helmut Spitzer:
1. Internationalisierung der Sozialen Arbeit: ein Aufriss
Globale Entwicklungen und damit einhergehende Herausforderungen, Probleme und Risiken schreiten mit einem rasanten Tempo voran und machen vor nationalstaatlichen Grenzen nicht Halt. Die weltweiten Auswirkungen der 2008 ausgelösten Finanz- und Wirtschaftskrise, die fortschreitende Digitalisierung und Technologisierung sowie die zunehmend spürbaren Folgen des Klimawandels sind nur ein paar Beispiele dafür. Hinzu kommt eine wachsende ökonomische Kluft zwischen den industriekapitalistischen Staaten und den Ländern im globalen Süden, die mit ein Grund für steigende internationale Migration ist. Die Ideologie des Neoliberalismus, die die wirtschaftliche Globalisierung dominiert, unterminiert zusehends politisches und sozialstaatliches Handeln, stellt einen Hauptfaktor für den Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft dar und durchdringt mit ihrem Primat der Ökonomisierung auch die Sphären des Wohlfahrtsstaates (vgl. Beck 2007a). Politik und Gesellschaft sind gefordert, auf diese weltgesellschaftlichen, interdependenten Problemlagen und Herausforderungen grenzüberschreitend und international zu reagieren. Doch während die Wirtschaft durch transnationale Konzerne und global agierende Finanzinstitutionen sich schon längst aus ihrer nationalen Bindung gelöst hat, hinkt die Politik hinterher und wird tendenziell handlungsunfähiger, was internationale Gestaltung betrifft. Der bevorstehende Brexit, dessen Folgen für die EU noch unabsehbar sind, und die isolationistische Politik der USA samt Bruch mit dem Weltklimavertrag stehen beispielhaft für den Prozess einer weltweit beobachtbaren politischen Renationalisierung.
Und die Soziale Arbeit? Sie kümmert sich in erster Linie um die Globalisierungsverlierer_innen, um die „Ausgegrenzten der Moderne“ (Bauman 2005), um das neue Prekariat, das „prekäre Proletariat“ (Chomsky 2017: 70) – die arbeitende Bevölkerung der Welt, deren Lebensbedingungen immer unsicherer werden. Je nachdem, wo das Glücksspiel der Geburt die Menschen hin verschlägt, sind das die working poor in den westlichen Ländern, die sich gerade noch über Wasser halten, oder die Millionen Menschen in vielen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, die einem täglichen Überlebenskampf ausgesetzt und von extremer Armut betroffen sind. Auch Flüchtlinge, die im Gegensatz zu den erwünschten Tourist_innen die bedrohliche Seite der Globalisierung darstellen (vgl. Krastev 2017: 24), gehören zum Klientel der Sozialen Arbeit. Spätestens mit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 (die in Wahrheit eine Krise der Europäischen Union ist; vgl. Krastev 2017) ist klar geworden, dass Soziale Arbeit mit globalen Entwicklungen untrennbar verflochten ist, weil diese sich auf innerstaatliche Praxen (in diesem Fall: Herausbildung neuer Handlungsfelder), auf die Gesetzgebung (verschärftes Asylrecht), auf die öffentliche Meinungsbildung (zunehmende Fremdenfeindlichkeit) und auf nationale Politik (rechtspopulistische Tendenzen) auswirken.
Historisch kann die Entwicklung der Profession und die Herausbildung ihrer Ausbildungsstätten, Fachorganisationen und Theoriepositionen nur vor dem Hintergrund internationalen Austauschs und länderübergreifender Vernetzung verstanden werden, wenngleich unter verschiedenen Voraussetzungen: Während sich Soziale Arbeit in Europa und den Vereinigten Staaten als spezifische Antwort auf die großen Gesellschaftsprobleme des späten 19. Jahrhunderts etabliert hat, wurde sie den Ländern des Südens in Form sogenannter Entwicklungshilfe und internationaler Austauschprogramme sukzessive übergestülpt (vgl. Healy 2008: 136). Gegenwärtig gibt es eine Reihe von internationalen Organisationen, Strategiepapieren und (eher bescheidenen) Einflussmöglichkeiten Sozialer Arbeit auf globale Entwicklungen, die aber im deutschsprachigen fachwissenschaftlichen Diskurs nur sehr verhalten aufgegriffen werden und auch für die nationalstaatlich konnotierte sozialberufliche Praxis kaum als bedeutsam erscheinen.
In diesem Beitrag wird die Position vertreten, dass Sozialarbeiter_innen und Sozialpädagog_innen über internationale Diskurslinien und Strategien Bescheid wissen sollten und dass Internationalität ein wesentlicher Bestandteil des Habitus und der Handlungspraxis Sozialer Arbeit im 21. Jahrhundert sein sollte. Ich plädiere für eine kritisch-reflexive Öffnung unserer Profession für internationale Themen in Theorie, Ausbildung, Forschung und Praxis, sowie für eine informierte internationale Solidarität durch globales Denken und transnationales Handeln. Damit wird Soziale Arbeit selbst als eine grenzüberschreitende Akteurin der Globalisierung akzentuiert (vgl. Graßhoff/Homfeldt/Schröer 2016: 9).
„In this globalised and interconnected world, social work cannot help but be international, if it is to continue to address the issues of social injustice, inequality, oppression, exclusion, poverty and human rights abuse.“ (Ife 2007)
Als Beispiel dafür sei die beharrliche anwaltschaftliche Tätigkeit internationaler zivilgesellschaftlicher Akteur_innen im Hinblick auf die Realisierung von Menschenrechtsdokumenten wie die UN-Kinderrechtskonvention oder das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen genannt, deren Prämissen und Prinzipien sich in der Folge (zumindest teilweise) in nationalem Recht niederschlagen. Die internationalen Fachorganisationen Sozialer Arbeit mit ihrem Konsultativstatus bei den Vereinten Nationen spielen hier eine wichtige, von der Fachöffentlichkeit allerdings kaum wahrgenommene Rolle (vgl. Mama 2012).
Vertreter_innen der Sozialen Arbeit sollten sich auch der Verstrickung in eigene, von Auseinandersetzungen, Ambivalenzen sowie Macht- und Herrschaftsfragen geprägten internationalen Beziehungen und Wissensdiskurse zwischen den reichen Ländern des Nordens und den peripheren Ländern im Süden bewusst sein. Lutz/Stauss (2016: 551) sprechen in diesem Zusammenhang von einer „verwobenen Sozialen Arbeit“, die sich mit der Reflexion eurozentrischer Perspektiven, postkolonialer Kritik und den fachlichen Positionen des Globalen Südens beschäftigen muss.
2. Globalisierung und Soziale Arbeit: eine Skizze
2.1 Globalisierung – ein vielschichtiges Phänomen
Die Globalisierung ist ein dynamischer, komplexer und ambivalenter Prozess, der sowohl Chancen verspricht als auch seine Schatten wirft (vgl. Stiglitz 2002 und 2006). Als räumliches Phänomen bezeichnet die Globalisierung die immer größere Verdichtung weltweiter ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Interdependenzen und die Verwobenheit zwischen lokalen, nationalen, überregionalen und globalen Ebenen. In der zeitlichen Dimension bezieht sich der Begriff auf die globale Mobilität von Informationen, Wissen, Kapital, Waren und Menschen in immer kürzerer Zeit. Schließlich ist die Globalisierung durch dichte kausale Interdependenzen zwischen unterschiedlichen weltweiten Trends charakterisiert (vgl. Messner 2009: 103f.). Ein Beispiel dafür ist das Zusammenspiel von Ressourcen verschleißenden Lebensstilen, Konsumverhalten und Ernährungsgewohnheiten in den westlichen Ländern, den dadurch verursachten Auswirkungen des Klimawandels in den armen Regionen dieser Welt und den damit mitbedingten internationalen Migrations- und Fluchtbewegungen.
Pfeifer-Schaupp (2005: 17ff.) differenziert zwischen sechs Dimensionen der Globalisierung: die ökonomische, politische, technologische, ökologische, kulturelle und zivilgesellschaftliche Globalisierung. Diese Dimensionen sind miteinander verschränkt und bedingen sich teilweise auch wechselseitig. Alle genannten Dimensionen beinhalten Herausforderungen, aber auch Handlungspotenziale für die Soziale Arbeit.
2.2 Zentrale globale Herausforderungen und ihre Relevanz für die Soziale Arbeit
2.2.1 Unkontrollierbarkeit globaler Risiken
Beck unterscheidet in Weltrisikogesellschaft (2007b) zwischen ökologischen Krisen, globalen Finanzkrisen und terroristischen Gefahren und untersucht die Beziehung zwischen diesen unterschiedlichen „Logiken“, wie er es nennt (ebd.: 37). Seiner Ansicht nach ist die die Moderne leitende Idee der Kontrollierbarkeit entscheidungsbedingter Nebenfolgen und Gefahren gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse fragwürdig geworden. Der Mangel an Kontrollierbarkeit und die Unbestimmbarkeit von Risiken führen zu einer „Reflexivität der Ungewissheit“, die gemeinsam mit einem zusehends kosmopolitisch werdenden Alltag der Menschen auf einen umfassenden „Meta-Wandel“ der Gesellschaften des 21. Jahrhunderts verweist (ebd.: 41). Die Menschen überall auf der Welt spüren die Folgen dieses Meta-Wandels in ihrem konkreten Alltag, in den komplexer werdenden Anforderungen der psychosozialen Lebensbewältigung und manchmal auch im Kampf ums nackte Überleben. Dort, auf der Ebene der unmittelbaren Alltags- und Risikobewältigung, findet sich auch die vornehmliche Handlungsebene der Sozialen Arbeit.
2.2.2 Klimawandel
Der Klimawandel und die damit verbundenen ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Folgen bieten zwar Anlass zur Sorge, aber bisweilen gibt es auch Grund für verhaltenen Optimismus. Immerhin endete die UN-Klimakonferenz im polnischen Katowice im Dezember 2018 mit der Bekräftigung der beteiligten Industrie- und Schwellenländer, ihre Treibhausgasemissionen mit dem Ziel zu verringern, den Anstieg der Erderwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen – verglichen mit dem Wert vor der Industrialisierung (vgl. Zeit online 2018). Zur Erreichung dieses Zieles braucht es ein radikales Umdenken, eine grundlegende Änderung der Lebensweisen vor allem in den westlichen Konsum- und Wegwerfgesellschaften sowie die Bereitschaft, zugunsten einer gerechteren Verteilung von Wohlstand und Lebensqualität den eigenen Konsum zu reduzieren (vgl. Zimmermann 2016: 27).
Hier kann Soziale Arbeit mit Bildungsangeboten, aber auch mit konsequenter Bewusstseins- und Öffentlichkeitsarbeit mitwirken. Da aber die Lebenswelten und Lebenslagen der Menschen immer mehr von den Auswirkungen der Klimaveränderungen betroffen sind (in den Ländern des Südens weitaus dramatischer als in den Industrieländern, die die Hauptverursacher dieser Folgen sind), ist die Profession gut beraten, vermehrt ökologische Aspekte in ihr Denk- und Handlungsspektrum aufzunehmen. Im internationalen Diskurs gibt es dazu interessante anknüpfungsfähige Konzepte von environmental social work, ecological social work und green social work, wo soziale Gerechtigkeit um den Aspekt der Umweltgerechtigkeit erweitert wird (vgl. Dominelli 2012). Im deutschsprachigen Raum hat v.a. Wendt (2010) mit dem ökosozialen Ansatz eine ökologische Perspektive in den Fachdiskurs eingebracht.
2.2.3 Vorherrschaft neoliberaler Ideologien
Was die eingangs angeführte Vorherrschaft der Ideologie des Neoliberalismus im wirtschaftlichen und politischen Weltgeschehen betrifft, so bezeichnet Beck (2007a: 26) diesen Aspekt der Globalisierung als „Globalismus“. Damit ist die Auffassung verknüpft, dass der Weltmarkt politisches Handeln verdrängt oder ersetzt. Der Markt soll vor dem Zugriff des Staates geschützt, der Sozialstaat durch Privatisierung und Ökonomisierung neoliberal transformiert werden. Diese Tendenz hat weitreichende Konsequenzen für den Wohlfahrtsstaat, für Fragen der sozialen Sicherheit (und damit in vielen Ländern auch des Überlebens) und für die Soziale Arbeit.
Einsparungen im Bereich der Sozialpolitik werden von politisch Verantwortlichen sehr oft mit fiskalischen Begründungen vorgeführt. George (2010: 15) lässt das Argument „Das können wir uns nicht leisten“ mit dem Hinweis auf die sogenannte Bankenrettung unmittelbar nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 nicht gelten. Damals wurden weltweit innerhalb weniger Tage hunderte Milliarden Euro aus zum Teil nicht nachvollziehbaren öffentlichen Quellen aufgetrieben, und bis 2010 wurden mehr als 12.000 Milliarden Euro – in Ziffern: 12.000.000.000.000 – in die internationalen Finanzinstitutionen gepumpt. Blom (2017: 140) konstatiert in diesem Zusammenhang: „Die Finanzkrise 2008 öffnete vielen Menschen die Augen dafür, dass Gier die eigentliche Triebfeder der Wirtschaft ist und dass Politiker und Konzerne unter einer Decke stecken.“
Diese Koalition zwischen Wirtschaft und Politik hat Chomsky eindrucksvoll in seinem Requiem für den amerikanischen Traum (2017) analysiert. Er beschreibt darin einen Teufelskreis, in dem die Konzentration von Reichtum zur Konzentration von Macht führt. Politische Parteien geraten dabei zunehmend in die finanzielle Abhängigkeit von Großunternehmen. Deren so erzielte politische Macht schlägt sich in der Folge in Gesetzen nieder, die wiederum die Konzentration von Reichtum unterstützen (ebd.: 13). Im Zuge dieses Prozesses werden gesetzliche und politische Maßnahmen, die den Arbeitnehmer_innen bisher einen gewissen Schutz gewährt haben, ausgehöhlt. Gleichzeitig werden die Einflussmöglichkeiten von Gewerkschaften (für Österreich müsste man auch die Sozialpartner hinzufügen) auf Entscheidungsprozesse an den Schnittstellen zwischen Staat und Privatwirtschaft eingeschränkt (ebd.: 76). Diese Strategie zur Aushöhlung von Demokratie und Zivilgesellschaft ist zurzeit in einigen Ländern Europas sowie weltweit beobachtbar.
Diese Entwicklung bedeutet auch eine Unterminierung der Sozialen Arbeit, die Gefahr läuft, zum Handlanger einer politischen Order zu werden, die mit einer neoliberal gesteuerten Sozial-, Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik auf dem Rücken der Schwächsten der Gesellschaft die großzügigen Subventionen und Steuererleichterungen für Großbetriebe und internationale Konzerne abzufedern versucht. Dabei ist kritisch festzuhalten, dass die Soziale Arbeit dem Räderwerk der Ökonomisierung nicht nur passiv ausgesetzt ist, sondern dessen Prinzipien auch selbst reproduziert. In Österreich sind diesbezügliche betriebswirtschaftlich-bürokratisch ausgerichtete Handlungslogiken schon seit Jahren zu beobachten (vgl. Spitzer 2011: 63ff.).
2.2.4 Weltweite Fluchtbewegungen
Laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR 2018) befanden sich 2017 weltweit 68,5 Millionen Menschen auf der Flucht, davon sind 40 Millionen sogenannte Binnenvertriebene. Dabei hält sich die überwiegende Mehrheit aller Flüchtlinge weltweit (86%) in sogenannten Entwicklungsländern auf (vgl. Luft 2016: 13). Im internationalen Vergleich ist die politisch und medial hochstilisierte, sogenannte Flüchtlingskrise in Europa geradezu lachhaft. Um ein Beispiel zu nennen: Uganda, ein ostafrikanisches Binnenland mit mehr als 40 Millionen Einwohner_innen, das zu den ärmsten Ländern der Welt zählt, beherbergt 1,4 Millionen Flüchtlinge aus den krisengeschüttelten Nachbarländern (vgl. UNHCR 2018).
Menschen, die vor Konflikten, Verfolgung oder schweren Menschenrechtsverletzungen aus ihrer Heimat fliehen, gehören überall auf der Welt zum Kernklientel Sozialer Arbeit. Dabei sehen sich Sozialarbeiter_innen vielfach mit asylpolitischen, gesetzlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen konfrontiert, die fachlich angemessene Formen der Unterstützung von Flüchtlingen kaum zulassen (vgl. Scherr 2015). Hier ist die Profession herausgefordert, einerseits Wege zur Einflussnahme auf die Flüchtlingspolitik im eigenen Land zu finden und sich andererseits länderübergreifend zu vernetzen, beispielsweise im Zusammenhang mit der Abschiebung von Menschen mit negativem Asylbescheid.
2.2.5 Internationale Migration, transnationale Sozialräume und umkämpfte Identitäten
Neben Flucht als erzwungener Migration gibt es vielfältige Formen internationaler Migration, die in der Migrationsforschung unter dem Begriff der Transmigration subsumiert werden. Singuläre Mobilität (Umzug von Land A in Land B) existiert zwar nach wie vor, in der Praxis dominieren aber vermehrt neue Formen zirkulärer Mobilität. Durch diese Migrationsformen entstehen transnationale soziale Räume, die zwar in den Strukturen der Nationalgesellschaften verankert sind, aber eigenständige soziale, kulturelle, ökonomische und politische Strukturen herausbilden (vgl. Hamburger 2018: 1015). Beispielsweise leben Familien über mehrere Staaten verteilt, interagieren aber dennoch miteinander (über Transport- und digitale Kommunikationswege) und unterstützen einander (z.B. durch Geldüberweisungen) (vgl. Rehklau/Lutz 2018: 242).
Im politischen Diskurs steht die Frage der sogenannten Integration im Vordergrund; diese wird in der Regel verkürzt als interkulturelle Einbahnstraße gesehen, als Assimilation und Anpassungsleistung aufseiten der Zugewanderten. Auf der Ebene der Individuen und des Gemeinwesens ist es Aufgabe der Migrationssozialarbeit, interkulturelle Bewältigungsherausforderungen und Konflikte zu bearbeiten, aber es geht dabei auch um die gesellschaftspolitische Frage, wie eine Gesellschaft mit kultureller und sprachlicher Diversität umgehen möchte. Diese Fragestellung hat derzeit in vielen Ländern der Welt, insbesondere in Europa, eine hohe identitätspolitische Brisanz mit starken gesellschaftlichen Spaltungstendenzen. Von rechtsorientierten Parteien wird Migration – vor allem verstanden als Zuwanderung von Menschen nicht-westlicher Herkunft – als Bedrohung für die eigene kulturelle Identität und den eigenen nationalen Wohlstand interpretiert.
Der Nährboden einer solchen Politik findet sich in der Angst und Wut bei Teilen der Bevölkerung – einer gefährlichen sozialpsychologischen Kombination. Die Menschen haben Angst vor einer unsicheren Zukunft, davor, keinen Job zu bekommen oder ihn zu verlieren, davor, dass es den eigenen Kindern schlechter gehen wird als ihnen selbst. Gleichzeitig sind sie wütend auf ein ungerechtes System, das Wohlhabende begünstigt und die Chancen für Zu-kurz-Gekommene minimiert (vgl. George 2010: 194). Das macht sie anfällig für simple Erklärungsmuster und pauschale Sündenbockzuschreibungen. Die Härte des Marktes und der Konkurrenz, in Kombination mit politischer Agitation, führt schließlich dazu, dass sich die Verunsicherten und Ausgeschlossenen gegen andere (Flüchtlinge, Ausländer, Moslems) zusammenschließen (vgl. Winterfeld 2015: 469).
Dass die durch Migration und Globalisierung bedingte Herausbildung hybrider und dynamischer Kulturen und pluralisierter kultureller Identitäten eine Bereicherung für eine Gesellschaft darstellen kann, ist aktuell nur ein Randthema im Diskurs um Zuwanderung und Integration (vgl. Welsch 2017). Soziale Arbeit kann hier eine wichtige Rolle spielen, um vermehrt auf diesen Aspekt hinzuweisen.
2.2.6 Urbanisierung und ländliche Armut
Rapide Urbanisierung ist eines der wichtigsten Entwicklungsphänomene in der modernen, globalisierten Welt, mit vielfältigen sozialen und sozioökonomischen Implikationen (vgl. Zimmermann 2016: 40ff.). Im Jahr 2007 lebte erstmals mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten und für 2050 wird dieser Anteil auf 66% prognostiziert (ebd.). Zentrale Herausforderungen für die Praxis urbaner Sozialarbeit sind die damit einhergehenden sozioökonomischen Segregationsprozesse, eine überproportionale Zunahme von Armut, (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Gewalt und Kriminalität sowie die zunehmende Herausbildung von Slums.
Gleichzeitig müssen sich soziale Dienstleistungen vermehrt auf den ländlichen Raum konzentrieren, der durch Landflucht demographisch ausgehöhlt wird und infrastrukturell und versorgungstechnisch vernachlässigt ist. In vielen Ländern stellt ländliche Armut in Kombination mit Phänomenen wie Land Grabbing, Enteignung und Vertreibung durch Großgrundbesitzer sowie sozialstruktureller Ungleichheit (z.B. zwischen Männern und Frauen) eine große Herausforderung für die Soziale Arbeit dar.
2.2.7 Systematische Menschenrechtsverletzungen und politische Gewalt
Auch internationaler Menschenhandel, grenzüberschreitende Zwangsprostitution, über das Internet organisierte Kinderpornographie, moderne Formen der Sklaverei und ausbeuterischer Kinderarbeit sowie weltweite Geschäfte mit illegalen Drogen gehören als Negativseite zu den Folgen der Globalisierung – mit denen sich Sozialarbeiter_innen zu beschäftigen haben. In einigen Ländern tragen auch Korruption und organisierte Kriminalität zur Verschärfung von sozialen Problemen und zu Menschenrechtsverletzungen bei. Schließlich seien bewaffnete Konflikte und politische Gewalt genannt, die die Soziale Arbeit vor besondere Herausforderungen stellen.
Die Arbeit in Kriegsgebieten und Post-Konflikt-Gesellschaften erfordert nicht nur je spezifische fachliche und ethische Voraussetzungen, sie bringt auch besondere Gefahren für die sozialberuflich Tätigen mit sich (vgl. Spitzer/Twikirize 2014). In einigen Ländern dieser Welt riskieren Vertreter_innen der Profession ihren Job (und manchmal auch ihr Leben), wenn sie öffentlich Kritik an den politisch Mächtigen üben und gesellschaftliche Missstände und vom Staat geduldete oder ausgeübte Menschenrechtsverletzungen anprangern. Hier kann die Rückendeckung durch internationale Fachverbände, die Einfluss auf UN-Gremien haben und Druck auf Regierungen ausüben können, hilfreich sein, wenn auch nur begrenzt.
2.2.8 Tiere als Objekte von Massenproduktion und globale Wasserarmut
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass es neben der Spezies Mensch weitere Lebewesen gibt, die sich im Zuge der Globalisierung eindeutig auf der Verliererseite befinden. Der Mensch, der sich die Natur zum Untertan macht, hat die Tiere einer umfassenden Produktionslogik unterzogen. Die Maschinerie tagtäglicher, millionenfacher Grausamkeit gegenüber Tieren in Form von industrieller Massentierhaltung, internationalen Tiertransporten und ethisch fragwürdigen Tierversuchen vollzieht sich dabei im Verborgenen (vgl. Precht 2016). Die Öffentlichkeit will auch gar nichts über die Hintergründe dessen wissen, was auf den Teller kommt. Während tiergestützte Praxisansätze sich in Theorie und Praxis Sozialer Arbeit zunehmender Beliebtheit erfreuen, bleiben tierethische Reflexionen meines Wissens im Fachdiskurs völlig ausgespart. Vielleicht wäre die Perspektive der Tierethik der oben erwähnten Verschränkung von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit noch hinzuzufügen.
Auch diesbezüglich ist eine globale Interdependenz zu verzeichnen: Der in vielen Ländern steigende Fleischkonsum trägt nicht nur zur globalen Klimaerwärmung bei (durch den Ausstoß des Treibhausgases Methan bei Rindern), sondern bedeutet auch einen gigantischen Verbrauch an Trinkwasser (für die Tiere selbst sowie für intensive künstliche Bewässerung von Futterpflanzen). Gleichzeitig haben fast 750 Millionen Menschen auf der Erde keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser (vgl. Zimmermann 2016: 35). Wasserarmut stellt in vielen Regionen der Welt ein zunehmend wichtiger werdendes Handlungsfeld für die Soziale Arbeit dar (vgl. Dominelli 2012: 155ff.).
2.2.9 Was steht auf dem Spiel? Alles?
Blom (2017) ortet angesichts der geschilderten globalen Herausforderungen (die Auflistung ließe sich sicherlich noch fortsetzen) ein „systemisches Versagen“ im Zusammenhang mit einer kollektiven Selbstüberschätzung und Realitätsverweigerung, das möglicherweise zu einem „neuerlichen, katastrophalen Bruch des zivilisierten Lebens und der Menschlichkeit“ (ebd.: 104) führen könnte. Der Autor beantwortet die titelgebende Frage seines Buches Was auf dem Spiel steht lapidar mit „Alles“ (ebd.: 219). Das mag einigermaßen kulturpessimistisch klingen, doch das Studium aktueller Erkenntnisse der Klimaforschung in Kombination mit der Lektüre seriöser Tagesmedien, was die globalen politischen Entwicklungen betrifft, macht nicht unbedingt hoffnungsfroh. Und dennoch: Das ‚Prinzip Hoffnung‘ bildet die Grundlage für das Ausloten von Handlungsoptionen angesichts globaler Bedrohungsszenarien, sei es auf der individuellen Ebene staatsbürgerlicher Einflussmöglichkeiten und global vernetzter Solidarität (und wenn es nur das Unterzeichnen von Internet-Petitionen ist) oder auf der professionellen Ebene sozialberuflicher Praxis und politischen Handelns.
Ich leite an dieser Stelle zu einem Überblick über maßgebliche internationale Akteur_innen und Strategiepapiere Sozialer Arbeit über.
3. Internationale Soziale Arbeit: ein Überblick
3.1 Internationale Fachorganisationen
Die drei wichtigsten internationalen Fachorganisationen Sozialer Arbeit sind die International Federation of Social Workers (IFSW), die International Association of Schools of Social Work (IASSW) und der International Council on Social Welfare (ICSW). IFSW fungiert als internationaler Berufsverband, IASSW ist die internationale Vertretung der Ausbildungsstätten Sozialer Arbeit und ICSW versteht sich als internationaler Dachverband für nationale und internationale Wohlfahrtseinrichtungen, NGOs und Einrichtungen der Zivilgesellschaft. Während IFSW und IASSW einen eindeutigen Fokus auf professionelle Soziale Arbeit haben, tritt ICSW interdisziplinärer auf und ist auch für Laienmitglieder offen (vgl. Healy/Hall 2009). Die Gründung aller drei Organisationen geht auf die erste internationale Konferenz Sozialer Arbeit im Juli 1928 in Paris zurück (ebd.). Alle drei verfügen über internationale Netzwerke mit Zweigniederlassungen auf allen Kontinenten. Neben globalen Fachkonferenzen, die alle zwei Jahre stattfinden, und der gemeinsamen Formulierung internationaler Dokumente und Standards (s.u.) konzentriert sich die anwaltschaftliche und politische Tätigkeit dieser Organisationen in erster Linie auf die Zusammenarbeit mit Organen und Gremien der UNO. Die IASSW verfügt seit 1947 über einen Konsultativstatus bei der UNO, IFSW seit 1959 und ICSW seit 1972 (vgl. Mama 2012: 118).
Darüber hinaus seien noch zwei weitere, weniger bekannte internationale Fachvertretungen genannt: das International Consortium for Social Development (ICSD), das sich maßgeblich aus Akteur_innen der Sozialen Arbeit (hauptsächlich Ausbildungsstätten) zusammensetzt, sich inhaltlich aber auf soziale Entwicklung konzentriert, sowie die Global Social Service Workforce Alliance, die sich als Plattform für Sozial- und Gesundheitsberufe mit dem Ziel der Unterstützung vulnerabler Bevölkerungsgruppen weltweit versteht. Alle genannten Organisationen verfügen über umfangreiche Websites mit vielen Detailinformationen und weiterführenden Links.
3.2 Internationale Dokumente und Strategiepapiere
IFSW und IASSW haben in ihrer Wirkungsgeschichte eine Reihe von Dokumenten und Statements herausgegeben sowie internationale Standards für die Profession und Disziplin Soziale Arbeit formuliert (nachzulesen in IFSW 2015). Einige davon sollen hier kurz vorgestellt werden.
Für die Ausbildungsebene sind die Global Standards for the Education and Training of the Social Work Profession (2004) bedeutsam. Darin finden sich nicht nur Ausbildungsrichtlinien, Standards für Praktika und zentrale Inhalte eines Kerncurriculums Sozialer Arbeit, sondern auch Richtlinien für die Handhabung kultureller und ethnischer Diversität sowie Geschlechtergerechtigkeit in Ausbildungsprogrammen (vgl. IFSW 2015: 31ff.).
Im Statement of Ethical Principles (2004) werden zentrale professionsethische Prinzipien für Soziale Arbeit formuliert, mit Bezugnahme auf internationale Völkerrechtskonventionen und den Grundsätzen der Menschenrechte, der Menschenwürde und der sozialen Gerechtigkeit (ebd.: 25ff.). 2018 brachten IFSW und IASSW einen neuen, je eigenen Ethikkodex heraus, beide unter dem Namen Global Social Work Statement of Ethical Principles (vgl. IASSW 2018 und IFSW 2018).
In der erwähnten Publikation von IFSW (2015) finden sich weitere Richtlinien und Positionspapiere, beispielsweise für die Arbeit mit Flüchtlingen, Menschen mit Behinderung, alten Menschen, indigenen Volksgruppen usw. Das professionspolitisch vielleicht bedeutsamste, von IASSW, ICSW und IFSW gemeinsam publizierte Strategiepapier ist die Global Agenda for Social Work and Social Development (2012). Dieses Dokument wurde als Beitrag der Sozialen Arbeit zur sogenannten Post-2015-Agenda formuliert, womit das zeitlich befristete Ende der Millennium Development Goals (MDGs) gemeint war. Es wurde im März 2012 der UNO in New York vorgelegt und offiziell angenommen (vgl. Lombard 2016: 6). Die vier Kernelemente der Globalen Sozialarbeitsagenda lauten im Original:
Hier finden sich einige konzeptuelle Antworten auf viele der oben skizzierten globalen Herausforderungen unserer Zeit: die Förderung sozialer und wirtschaftlicher Gleichberechtigung (wobei sich das Plural im Englischen auf so unterschiedliche Bereiche wie soziale Sicherheit, Arbeit, Gesundheit, Bildung und Gender bezieht), die Anerkennung von Menschenwürde und des Wertes des Menschen an sich, die Arbeit in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit sowie die Stärkung der Anerkennung der Bedeutung menschlicher Beziehungen. So abstrakt diese Formulierungen auch sein mögen, so bedeutsam sind sie in ihrer Tragweite für die internationale Agenda. Im September 2015 wurde von den Mitgliedstaaten der UNO die Agenda 2030 mit dem Titel Transformation unserer Welt verabschiedet (vgl. Vereinte Nationen 2015). Die darin ausformulierten Sustainable Development Goals (SDGs), als Nachfolgemodell der MDGs, verstehen sich als für alle Unterzeichnerstaaten gültige Strategie zur globalen Bekämpfung von Armut, Ungleichheit und Umweltzerstörung.
Eine vergleichende Analyse zwischen der Global Agenda for Social Work and Social Development und den 17 SDGs zeigt eine große Kompatibilität in der Ausformulierung einzelner Ober- und Detailziele (vgl. Lombard 2016). Mit anderen Worten: Das transformative Potenzial der Sozialen Arbeit findet in der Agenda 2030 als für Regierungen verbindlichem UN-Dokument eine große Entsprechung. Daraus folgt, dass erstens die Akteur_innen der Profession darüber Bescheid wissen und zweitens Mittel und Wege für konkrete Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten gefunden werden müssen. Hier sind vor allem die Ausbildungsstätten mit entsprechend ausgerichteter Lehre, die Fachverbände als politisches Sprachrohr Sozialer Arbeit sowie die Wohlfahrtsorganisationen in der sozialpolitischen Praxis gefordert.
3.3 Die globale Definition Sozialer Arbeit
Manchmal ist es für Berufsangehörige, Studierende und Lehrende einer Zunft hilfreich, wenn man sich auf eine international anerkannte Definition dessen berufen kann, was man praktiziert, studiert oder lehrt. Die seit 2014 gültige, von IFSW und IASSW verabschiedete Global Definition of Social Work enthält einige wichtige Anhaltspunkte zur Beantwortung der in diesem Beitrag dargestellten globalen gesellschaftlichen Herausforderungen. Hier ist die Definition im Original:
„Social work is a practice-based profession and an academic discipline that promotes social change and development, social cohesion, and the empowerment and liberation of people. Principles of social justice, human rights, collective responsibility and respect for diversities are central to social work. Underpinned by theories of social work, social sciences, humanities and indigenous knowledge, social work engages people and structures to address life challenges and enhance wellbeing.“ (IFSW 2015: 19)
In dieser Definition finden sich wesentliche Kategorien für eine Standortbestimmung Sozialer Arbeit, u.a. sozialer Wandel, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Entwicklung – wobei die Konkretisierung des Terminus Entwicklung als sustainable development eine Möglichkeit wäre, auch eine ökologische Dimension abzubilden. Die Einbeziehung indigenen Wissens ist eine weitere relevante Kategorie, die professionstheoretisch nicht nur für die Soziale Arbeit in den Ländern des Südens bedeutsam ist (vgl. Straub 2015), sondern auch für die Lebenswelten autochthoner Minderheiten und für die oben dargestellte Realität von Gesellschaften, die von ethnischer Diversität und kultureller Hybridität gekennzeichnet sind.
In einem abschließenden Schritt werden einige dieser Kategorien aufgegriffen und vor dem Hintergrund des politischen Mandats der Profession auf die zentrale Frage in diesem Beitrag umgelegt: Was ist die Rolle der (internationalen) Sozialen Arbeit bei der Bewältigung globaler Herausforderungen?
4. Soziale Arbeit als Akteurin sozialen Wandels und nachhaltiger Entwicklung: eine Vision
Das 21. Jahrhundert zeitigt eine Reihe von globalen Herausforderungen und Risiken, die die Grundlagen des weltgesellschaftlichen Zusammenlebens und die ökologische Basis unseres Planeten bedrohen. Angesichts der prognostizierten Folgen des Klimawandels, der immer größer werdenden Schere zwischen Arm und Reich sowie des Zusammenspiels einer neoliberal verengten Wirtschaft und nationalistischer Politik stellt sich die Frage: Was können wir tun?
Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass Soziale Arbeit für all die in diesem Beitrag genannten gesellschaftlichen Herausforderungen auf dem Globus zuständig ist – schon gar nicht alleinzuständig. Wie eingangs bemerkt, beschäftigen sich Sozialarbeiter_innen in erster Linie mit den negativen Folgen der Globalisierung in Form von prekären Arbeitsverhältnissen, Armut und sozialer Desintegration, vorwiegend auf der Mikroebene von Individuen, Familien und Gruppen. Hin und wieder gelingt es auch, das Interventionsspektrum auf die Mesoebene von Kommunen und Institutionen zu erweitern. Aber dort, wo Entscheidungen getroffen werden, auf der Makroebene gesellschaftlicher und politischer Gestaltungsprozesse, kommt der Profession momentan kaum Relevanz zu – geschweige denn auf einer internationalen Ebene.
Um die Überbrückung dieser Kluft zwischen Mikro- und Makroebene geht es zentral in einem international anerkannten Theorieansatz der Sozialen Arbeit – dem sogenannten social development approach (vgl. Lombard 2014), der im deutschsprachigen Raum als soziale Entwicklung bezeichnet wird (vgl. Homfeldt/Reutlinger 2009). James Midgley, ein Pionier dieses Ansatzes, beschreibt in seinen zahlreichen Publikationen (z.B. Midgley 2009 und 2010) Soziale Arbeit als social change agent, also als Akteurin sozialen Wandels. Diese Rolle kann die Soziale Arbeit nur einnehmen, wenn sie entschieden eine politische Position einnimmt und bestehende Herrschafts- und Machtverhältnisse einer kritischen Reflexion unterzieht. Einflussnahme auf und Kritik an politischen Instanzen, um bestimmte Zustände zu ändern, begründet sich aus dem Professionsstatus, dem damit verbundenen Professionswissen sowie der Berufsethik der Sozialen Arbeit. Das professionelle Mandat der politischen Einmischung resultiert aus der Bezugnahme auf normative Prinzipien der Menschenrechte und der sozialen Gerechtigkeit, wie sie in der internationalen Definition angeführt sind.
Allerdings scheint der Sozialen Arbeit nicht nur zunehmend die Basis zum politischen Einspruch zu fehlen, sondern auch das Interesse (oder der Mut?), entsprechende herrschaftskritische Positionen einzunehmen (vgl. Kessel 2016). Das zeigt sich vor allem in aktuellen Debatten um die Versorgung von Flüchtlingen – nicht nur in Österreich, Deutschland und Europa, sondern weltweit. Gerade im Handlungsfeld der Flüchtlingshilfe wird deutlich, wie sehr politische und rechtliche Rahmenbedingungen die fachlichen Möglichkeiten und ethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit einschränken.
Die Vision einer politisch starken Sozialen Arbeit erstreckt sich auf unterschiedliche Gesellschaftsebenen – lokal, kommunal, national, europäisch, global – und auf ihre fachlichen Teilbereiche; dazu gehören Ausbildung, Praxis, Berufspolitik, Forschung, Theorieentwicklung, Berufsethik und internationale Vernetzung. Soziale Arbeit kann mit einem robusten politischen Mandat und guten Konzepten einen wichtigen Beitrag zu sozialem Wandel und einer nachhaltigen Entwicklung leisten. Von Nachhaltigkeit kann aber nur gesprochen werden, wenn wirtschaftliches Wachstum die doppelte Bedingung von Sozial- und Umweltverträglichkeit erfüllt, um nicht in einen zerstörerischen Gegensatz von Entwicklung zu geraten (vgl. Nuscheler 2012: 186). Hier kann Soziale Arbeit eine wichtige Monitoring- und Advocacy-Funktion einnehmen, v.a. was die kurzsichtige, in der Regel auf Legislaturperioden beschränkte Sicht der Politik betrifft.
Für eine nachhaltige Zukunft braucht es eine globale intergenerationale Gerechtigkeitsperspektive, in der die Rücksicht auf „ein unbekanntes Anderes eine grundlegende, eine im Grunde zivilisatorische Herausforderung“ (Winterfeld 2015: 473) darstellt. Dieses unbekannte Andere betrifft zukünftige Generationen – die Kinder der heutigen jungen Generation und deren Nachfahren. Eine globale Entwicklung, in der mit dem Planeten Erde nachhaltig umgegangen wird und die Menschenrechte universell respektiert werden, ist gesellschaftspolitische Zukunftsmusik. Der Grundton dafür muss heute gelegt werden. Soziale Arbeit wird im globalen Orchester zur Erreichung dieser Vision ihren Beitrag liefern müssen.
Literatur
Bauman, Zygmunt (2005): Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition.
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Über den Autor
FH-Prof. Mag. Dr. Helmut Spitzer
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