soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 21 (2019) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort Feldkirchen
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/623/1095.pdf


Ruth Hechtl:

Über Inter*Kinder und Jugendliche

Forschungsdesiderate und Möglichkeiten Sozialer Arbeit


Sichtbarkeit und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt schreiten in der Gesellschaft ständig voran. Immer mehr LGBT*I*Q Personen outen sich, gleichzeitig sehen sich viele mit Stigmatisierungs- und Diskriminierungserfahrungen konfrontiert. Vor allem Intergeschlechtlichkeit unterliegt nach wie vor einer systematischen Pathologisierung und Medikalisierung. Intergeschlechtliche Menschen werden im Säuglings- und Kleinkindalter immer noch unter Bezugnahme auf das vermeintliche Kindeswohl fremdbestimmten irreversiblen und invasiven Eingriffen zur Geschlechtsnormierung unterzogen. Es handelt sich hierbei um Menschenrechtsverletzungen. Folgend wird mit Rekurs auf aktuelle Studien aufgezeigt, mit welchen Annahmen die Behandlungsnotwendigkeit von Intergeschlechtlichkeit seitens der Medizin begründet wird, und dass Genitaloperationen die nach wie vor gängige Behandlungspraxis darstellen.

Bezüglich der Lebenswelten intergeschlechtlicher Kinder und Jugendlicher bestehen enorme Forschungsdesiderate. In diesem Artikel werden unter Bezugnahme auf die recherchierte Literatur Herausforderungen, aber auch Chancen auf Sichtbarkeit und Akzeptanz, die Inter*Kindern und Jugendlichen in ihrer Lebenswelt erwachsenen können, beleuchtet. Möglichkeiten Sozialer Arbeit werden ausgelotet, Betroffene zu unterstützen und zu einem reformierten gesellschaftlichen Umgang mit Intergeschlechtlichkeit beizutragen.


1. Intergeschlechtlichkeit, Intersexualität, Disorders of Sexual Development, Inter* – Begriffsdefinitionen

Intergeschlechtliche Menschen sind Personen, die sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale in sich vereinigen. Ihr körperliches Erscheinungsbild ist vielfältig, es gibt nicht den intergeschlechtlichen Menschen. Intergeschlechtlichkeit charakterisiert eine „geschlechtliche Variabilität und Vielfalt“ (Remus 2015: 65), die die gesellschaftliche Norm der Zweigeschlechtlichkeit durchbricht.

„Dies manifestiert sich z.B. im Hinblick auf sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Muskelmasse, Haarverteilung oder Gestalt sowie im Hinblick auf primäre Geschlechtsmerkmale wie innere und äußere Genitale und/oder die chromosomale und hormonelle Struktur.“ (Ghattas 2013: 10)

Intergeschlechtlichkeit kann pränatal, nach der Geburt, in der Pubertät oder erst im Erwachsenenalter diagnostiziert werden. Intergeschlechtliche Menschen bilden nicht zwingend ein drittes Geschlecht ab, sondern weisen sehr vielfältige Identitäten auf. So fühlen sich einige eher als Mann oder Frau, andere wiederum sehen sich als außerhalb der engen zweigeschlechtlichen Ordnung (vgl. Remus 2015: 65).

Von der Medizin werden diese „natürliche[n] Varianten menschlichen Lebens“ (Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. o.J.) als behandlungsbedürftig unter den Begriff Intersexualität subsumiert. Intersexualität ist „ein medizinischer Sammelbegriff“ (Gregor 2015: 18) für „eine Vielzahl von Diagnosen, bei denen sich das äussere [sic!] Geschlecht entgegen dem Chromosomensatz oder den inneren Geschlechtsorganen entwickelt“ (Zehnder 2016: 18). Der Begriff Intersexualität wird insbesondere aufgrund seiner negativ-pathologisierenden Konnotation von vielen Betroffenen abgelehnt. Zudem wird er aufgrund seiner begrifflichen Nähe zur Transsexualität sowie zur Hetero-, Homo-, Bisexualität oder anderen Formen des menschlichen Begehrens als irreführend empfunden. Abgewiesen wird auch der aktuelle englischsprachige medizinische Begriff der Disorders of Sexual Development (DSD) (dt.: Störung der geschlechtlichen Entwicklung) (vgl. Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. o.J.; Remus 2015: 64).

Dennoch bezeichnen sich viele intergeschlechtliche Menschen „als Ergebnis der intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, den medizinischen und sozialen Realitäten“ (Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. o.J.) selbstbewusst als intersexuell. Weitere Selbstbezeichnungen intergeschlechtlicher Menschen sind: intersex, inter*, Hermaphrodit, Herm, Zwitter etc. (vgl. Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V. o.J.; Gregor 2015: 18). Als wertschätzender und emanzipierender Begriff findet Inter* zunehmend Verbreitung. Ghattas (2013: 11) definiert Inter* als einen „Schirmbegriff, der sich aus der deutschen intergeschlechtlichen Community heraus entwickelt hat und der als ein emanzipatorischer und identitärer Überbegriff die Vielfalt intergeschlechtlicher Realitäten und Körperlichkeiten bezeichnet“. Im menschenrechtskonformen, entpathologisierenden Diskurs findet sich neben Inter* insbesondere der Begriff Intergeschlechtlichkeit wieder (vgl. Ghattas 2013: 11). So wird der Begriff von der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM) sowie von Selbsthilfegruppen und mittlerweile vermehrt auch in den (Sozial-)Wissenschaften verwendet (vgl. z.B. Tillmans 2015; Gregor 2012, 2015). Nach Gregor (2012: 95) bietet der Terminus „wegen der fehlenden Belastung durch historische Einschreibungen das Potential, alle möglichen Subjektivierungsentwürfe betreffender Personen mitzumeinen“.


2. Medizinischer Umgang mit intergeschlechtlichen Menschen – kritische Reflexionen

Gleichwohl ein intergeschlechtlicher Körper in den meisten Fällen keine unmittelbaren gesundheitlichen Probleme oder lebensbedrohlichen Auswirkungen hervorruft, werden Menschen, deren körperliche Verfasstheit nicht dem als männlich oder weiblich assoziierten Geschlecht entspricht, aus medizinischer Perspektive pathologisiert. Ihre körperliche Varianz gilt als behandlungsbedürftig und behandlungsfähig. Lange war die Meinung vorherrschend, dass es sich bei Intergeschlechtlichkeit um einen psychosozialen Notfall handle. Auch gegenwärtig sind die chirurgischen und hormonellen Eingriffe zumeist medizinisch nicht indiziert. Oftmals wird die Behandlungsnotwendigkeit soziologisch begründet. Zu den ärztlichen (wie auch elterlichen) Annahmen zählen: gesellschaftliche Stigmatisierung aus Angst vor der Vielfalt menschlicher Körper und Geschlechter, soziale Exklusion und soziale Ungleichheit. Auch werden weitere Annahmen wie psychische Probleme, das Entwickeln einer gestörten Geschlechtsidentität oder potenziell erhöhtes Tumorrisiko der Gonaden als Argumente zur medizinischen Durchsetzung von körperlicher Zweigeschlechtlichkeit genannt. Um ihren Körper einem der beiden Geschlechter der binären Geschlechterordnung zuzuordnen, wurden und werden intergeschlechtliche Menschen, sofern die Intergeschlechtlichkeit erkannt wird, im Säuglings- und Kleinkindalter unter Bezugnahme auf das vermeintliche Kindeswohl irreversiblen und invasiven Eingriffen zur Geschlechtsnormierung unterzogen. Dieses Behandlungskonzept wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erarbeitet und Optimal Gender Policy genannt (vgl. Agius 2016: 17; Sabisch 2016: 1f.; Remus 2015: 65f.; Hechler 2014: 47; Sabisch 2014: 55; Zehnder 2010, zit. n. Zehnder 2016: 18). Gemäß diesem Konzept wird nach umfassenden diagnostischen Analysen das für das intergeschlechtliche Kind augenscheinlich günstigste und gesellschaftlich anerkannte Geschlecht gewählt. Der Körper wird operativ der Normvorstellung angepasst und das Kind einem Erziehungsgeschlecht – männlich oder weiblich – zugewiesen (vgl. AWMF 2016: 5; Remus 2015: 66). „In neun von zehn Fällen werden dabei weibliche Körper geformt, da diese Operationen medizinisch einfacher umzusetzen sind.“ (Nordt/Kugler 2018: 21)

Operativ werden dabei jene Geschlechtsmerkmale entfernt, die nicht zum Zuweisungsgeschlecht passen, das Erscheinungsbild der Genitalien ‚korrigiert‘ und/oder die Urinier- und Reproduktionsfunktion der weiblichen bzw. männlichen Norm entsprechend angeglichen. Die Kohabitationsfähigkeit wird mittels genitalverändernder Operationen hergestellt. Darin zeigt sich der heteronormative Aspekt des medizinischen Behandlungskonzepts. Beispielsweise wird eine als zu groß angesehene Klitoris reduziert, eine Scheide angelegt oder die bestehende gedehnt, Harnröhren verlegt (vgl. Klöppel 2016: 3; Remus 2015: 65–67; Zehnder 2010, zit. n. Zehnder 2016: 18). Butler hält hierzu treffend fest: „Hier wird die Idealität einer geschlechtsspezifischen Morphologie buchstäblich dem Fleisch eingraviert.“ (Butler 2009: 92)

Neben den Operationen an den äußeren Genitalien werden in den meisten Fällen die Gonaden entfernt, die zum einen Keimzellen wie Spermien oder Eizellen und zum anderen lebenswichtige Hormone produzieren. Durch die Gabe von künstlichen Hormonen sollen die hormonellen Veränderungen der Pubertät zur Manifestation der erfolgten Geschlechtszuweisung besser gesteuert werden (vgl. Kolbe 2010: 166, zit. n. Remus 2015: 67). Damit wird deutlich, dass es sich hierbei um Eingriffe handelt, die das Leben der betroffenen Kinder grundlegend und endgültig prägen. Sie erleben die medizinischen Behandlungen oft als traumatisierend und gewaltvoll, mit enormen physischen wie psychischen lebenslangen Folgen. Potenzielle Auswirkungen sind postoperative Komplikationen und Folgeeingriffe, eine mögliche Minderung oder gar der Verlust der sexuellen Sensibilität und Erregbarkeit sowie ein möglicher Verlust der körpereigenen Hormonproduktion und der Fortpflanzungsfähigkeit wie auch physische und psychische Schädigungen infolge der zumeist lebenslangen Hormonersatztherapie. Die Behandlung mittels Vaginalplastik wird von den Betroffenen mit sexualisierter Gewalt gleichgesetzt (vgl. Sabisch 2016: 2; Hechler 2014: 47f.; Zehnder 2011: 254–256, zit. n. Tillmanns 2015: 10; Zehnder 2009: 26f.).

Nach wie vor gibt es keine Regelung, die die medizinischen Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern verbietet.1 Bei Minderjährigen, bei denen keine Einsichts- und Urteilsfähigkeit vorliegt, erteilen die Obsorgeberechtigten (meist die Eltern) stellvertretend die Einwilligung in die medizinischen Maßnahmen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um Notfallmaßnahmen, sondern um Einwilligungen in Genitaloperationen kosmetischen Charakters mit irreversiblen Folgen (vgl. Remus 2015: 67f.). Eltern stimmen den Operationen im Säuglings- und Kindesalter zu, da sie die gesellschaftliche Tabuisierung von Intergeschlechtlichkeit und die Normen der Zweigeschlechterordnung zumeist verinnerlicht haben (vgl. Nordt/Kugler 2018: 21).

Rechtlich sind die Geschlechtsoperationen an Kindern problematisch, da es sich um Eingriffe in höchst persönliche Rechte handelt (vgl. Zehnder 2009: 28). Der Deutsche Ethikrat weist darauf hin, dass irreversible medizinische Maßnahmen zur Geschlechtszuordnung „einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Wahrung der geschlechtlichen und sexuellen Identität und das Recht auf eine offene Zukunft und oft auch in das Recht auf Fortpflanzungsfreiheit“ (Deutscher Bundestag 2012: 58) darstellen. Betroffenenverbände, Selbsthilfegruppen und Menschenrechtsorganisationen sprechen in dem Kontext von Menschenrechtsverletzungen und Beschneidungen der persönlichen Integrität (vgl. Deutscher Bundestag 2012: 4; Zehnder 2009: 26f.). Folglich „können Eltern eigentlich nicht an Stelle eines Kindes einwilligen.“ (Zehnder 2009: 28)

Auch ethisch sind Geschlechtsoperationen, die medizinisch nicht indiziert sind, problematisch. Sie verstoßen gegen die Prinzipien der Autonomie und des Nicht-Schadens (vgl. Zehnder 2009: 28). In der Resolution „Das Recht der Kinder auf körperliche Unversehrtheit“ fordert der Europarat deshalb seine Mitgliedstaaten auf, „sicherzustellen, dass niemand in der Kindheit unnötiger medizinischer oder chirurgischer Behandlung ausgesetzt wird, die kosmetisch statt gesundheitlich lebenswichtig ist“. (Parlamentarische Versammlung des Europarates 2013, zit. n. IVIM/OII Deutschland 2013) Das EU-Parlament verabschiedete in weiterer Folge die „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. Februar 2017 zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in den Bereichen psychische Gesundheit und klinische Forschung (2016/2096(INI))“. Die Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Menschen werden darin ausdrücklich als Intersex-Genitalverstümmelungen (IGM) bezeichnet, die ebenso wie Female Genital Mutilation (FGM) „zu verhindern, zu verbieten und zu bestrafen“ (Europäisches Parlament 2014–2019, zit. n. Zwischengeschlecht.info 2017) sind (vgl. Zwischengeschlecht.info 2017).

Die geschlechtsverändernden Operationen an intergeschlechtlichen Menschen werden mittlerweile auch von medizinischer Seite zunehmend kontrovers diskutiert (vgl. Tillmanns 2015: 10). So wurden seit 2005 verschiedene Revisionen medizinischer Leitlinien vorgenommen, um Genitaloperationen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern zu begrenzen (vgl. Klöppel 2016: 3). In der aktuellen Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. wird betont, dass man in den letzten Jahren dazu übergegangen sei, das Kind möglichst früh und altersadäquat über seine Intergeschlechtlichkeit aufzuklären und an Entscheidungsprozessen hinsichtlich der Vornahme von hormonellen und/oder chirurgischen Maßnahmen zu beteiligen, um eine bestmögliche Lebensqualität zu gewähren (vgl. AWMF 2016: 4f.).

Trotz dieser Entwicklungen stellen kosmetische Genitaloperationen an intergeschlechtlichen Kindern die nach wie vor gängige und keinesfalls eine rückläufige Behandlungspraxis dar. Dies ist das Ergebnis der quantitativen Studie von Klöppel (2016) Zur Aktualität kosmetischer Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter. Es gab zwar Veränderungen bei den zugrunde gelegten Diagnosen. Doch welche Begründung auch immer für die Genitaloperationen an Kindern benutzt wird: alle Eingriffe, die der Selbstbestimmung der Behandelten entzogen sind, sind grundsätzlich kritisch zu sehen (vgl. Klöppel 2016: 59–62). Auch die erst kürzlich veröffentlichte Follow Up‐Studie über die Häufigkeit normangleichender Operationen „uneindeutiger“ Genitalien im Kindesalter von Hoenes/Januschke/Klöppel (2019) „offenbart eine erschreckende Unfähigkeit der Medizin für eine echte Abkehr von einer normativen, paternalistischen und gewaltsamen Behandlungspraxis“ (IVIM/OII Deutschland 2019).


3. Über die Lebenswelten von Inter*Jugendlichen – Herausforderungen

Die Zunahme an Protesten gegen die medizinische Behandlungspraxis geht seit den 1990er-Jahren mit einem deutlichen Anstieg an biografischen Selbstzeugnissen und wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Intergeschlechtlichkeit einher (vgl. Tillmanns 2015: 13–18). Allerdings sind die Lebenswelten von intergeschlechtlichen Menschen unterschiedlichen Alters aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nach wie vor wenig erforscht; repräsentative Langzeitstudien fehlen (vgl. Lenz/Sabisch/Wrzesinski 2012: 41f.). Erhebliche Forschungsdesiderate bestehen vor allem in Bezug auf die Lebenswelten und Menschenrechtssituation von Inter*Kindern und Jugendlichen und Inter*Menschen, die nicht operiert worden sind.

Tatsächlich liefern die großen repräsentativen Studien zu den Lebenswelten von Jugendlichen in Deutschland keinerlei Aussagen über die spezifischen Lebenssituationen von inter* (wie auch trans* und genderqueeren) Jugendlichen. Vielmehr basieren diese Studien auf der Annahme heteronormativ-zweigeschlechtlicher Identitäten. In den Studien, die sich speziell mit den Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und, am Rande, von trans* Jugendlichen befassen, finden sich zu inter* Jugendlichen keine Daten (vgl. Focks 2014: 3). Auch in der Coming-out Studie des Deutschen Jugendinstituts e.V. (2015) zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland sind inter* Jugendliche nicht adressiert (vgl. Krell/Oldemeier 2015: 10). Die neue Ausgabe des Magazins Impulse des Deutschen Jugendinstituts (2018) mit dem Titel „Jung und queer“ fokussiert auf der Grundlage verschiedener sozialwissenschaftlicher Studien zwar die Lebenssituation von LGBT*Q Jugendlichen. Intergeschlechtliche Jugendliche werden jedoch auch darin nicht explizit in den Blick genommen (vgl. Deutsches Jugendinstitut 2018).

In der Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur Intersexualität werden Ergebnisse von unterschiedlichen Befragungen zur Erfassung der Lebenswirklichkeit und Lebensqualität von intergeschlechtlichen Menschen zusammengefasst. Das Gesamtergebnis der Studien zeigt, dass der überwiegende Teil der daran teilgenommenen Personen Erfahrung mit medizinischen Behandlungen hat, wobei die Aufklärung über die Diagnose und die Behandlungsmaßnahmen und deren Risiken sowie die Selbstbestimmungsmöglichkeit bezüglich der Eingriffe oftmals als unzureichend kritisiert werden und diese auch negativen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit Betroffener haben können (vgl. Deutscher Bundestag 2012). Die Proband*innen in diesen Studien sind jedoch hauptsächlich im Erwachsenalter und der Fokus der Befragungen liegt im medizinischen und rechtlichen Bereich. Die spezifische Situation intergeschlechtlicher Jugendlicher mit Blick auf alle für sie relevanten Lebensbereiche wird nicht thematisiert (vgl. Focks 2014: 6). Auch wird die Zuständigkeit der Medizin vom Deutschen Ethikrat grundsätzlich nicht infrage gestellt (vgl. Klöppel 2012).

Erwähnenswert in dem Kontext ist die im Zeitraum von Mai bis September 2013 durchgeführte Untersuchung von Focks (2014). Es handelt sich hierbei um eine Literatur- und Studienrecherche, kombiniert mit Praxiserkundungen und Gesprächen mit Expert*innen, die „zu den Lebenswelten und Unterstützungsangeboten für trans*, inter* und genderqueere Jugendliche im In- und Ausland“ befragt wurden (vgl. Focks 2014: 6f.). Basierend auf den Interviews mit den Expert*innen beschreibt Focks die Lebenssituation von Jugendlichen als durch einen hohen Normierungsdruck gekennzeichnet. Jugendliche, die die Geschlechtergrenzen überschreiten, müssen sich in einer zweigeschlechtlich strukturierten Gesellschaft erst zurechtfinden. Die Suche nach der eigenen Identität stellt in einer Gesellschaft, in der die Frage nach der geschlechtlichen Identität – männlich oder weiblich – nach wie vor eine große Rolle spielt (z.B. in Fragebögen und Formularen, in Anredeformen, in Umkleidekabinen und Toiletten, im Sport(-unterricht), Konsum etc.), eine enorme Herausforderung dar. Die Jugendlichen selbst, aber auch ihre Umwelt müssen erst einen Weg finden, mit der Irritation sozialer Normen umzugehen (vgl. Focks 2014: 8). Ghattas, einer der interviewten Experten, weist darauf hin, dass die Erfahrungen und Lebenswege von inter* Jugendlichen und Kindern sehr variieren. Neben der individuellen Vielfalt hängen diese insbesondere davon ab, ob überhaupt bzw. wann DSD diagnostiziert wurde (vgl. Ghattas in: Focks 2014: 9).

„Für die einen ist es erst in der Pubertät Thema, für andere bereits bei der Geburt, wenn sie mit Operationswünschen konfrontiert werden von Ärzt*innen oder/und Eltern. Und dann stellt sich, abgesehen von den körperlichen Sachen, noch die Frage[,] ob sie mit dem zugewiesenen Geschlecht glücklich sind oder nicht.“ (Ghattas in: Focks 2014: 9)

Je nach körperlicher Beschaffenheit und geschlechtsidentitärer Verfasstheit sind die Lebenswege und -erfahrungen unterschiedlich. In der Pubertät und Adoleszenz kommt es zu Verunsicherungen und Belastungen insbesondere dann, wenn sich bei Personen, die nicht von Geburt an diagnostiziert sind, erst später körperliche Features entwickeln oder wenn intergeschlechtliche Jugendliche mit dem zugewiesenen Geschlecht nicht zurechtkommen (vgl. Ghattas in: Focks 2014: 9).

Intergeschlechtliche wie auch LGBT*Q Jugendliche müssen sich ihrer geschlechtlichen Identität bzw. sexuellen Orientierung erst sicher werden. Neben dem inneren und gegebenenfalls dem äußeren Coming-out sind sie gleichzeitig aber auch mit alterstypischen Entwicklungsaufgaben konfrontiert (vgl. Gaupp 2018: 7f.). Dabei machen inter* Jugendliche (wie auch trans* und genderqueere), so die Ergebnisse von Focks Studie, permanent die Erfahrung von Diskriminierung, Exklusion und Menschenrechtsverletzungen, vor allem im Bereich der Schule und der beruflichen Ausbildung sowie in Vereinen und in der Kirche — insbesondere am Land. Es handelt sich hierbei um Bereiche, wo viele Menschen zusammenkommen und es hegemoniale Geschlechterkonzepte gibt. Jugendliche, die in ihrer körperlichen und/oder geschlechtsidentitären Verfasstheit anders sind, optisch oder in ihrem Verhalten von den vorherrschenden Geschlechterkonstruktionen abweichen, werden diskriminiert (vgl. Focks 2014: 8–12).

Auch im Hilfesystem kann es zu Diskriminierung, Exklusion und Menschenrechtsverletzungen kommen. Im Kontext des Gesundheitssystems kritisieren die von Focks interviewten Expert*innen, dass die medizinischen Behandlungen zu wenig individuell ausgerichtet sind, dass es zu wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten bezüglich der hormonellen und/oder chirurgischen Maßnahmen sowie zu wenig Aufklärung beispielsweise über die Folgen gibt. Die Expert*innen nennen jedoch nicht nur das Gesundheitssystem, sondern auch das Sozialwesen, wo es Abwehr und Unwissenheit geben kann. Das Wissensdefizit zeigt sich, wenn das Inter*-, Trans*- und Genderqueer-Sein lediglich als medizinisches oder psychisches Problem oder gar als Erziehungsfehler der Eltern gesehen wird. Zudem gibt es für die betroffenen Jugendlichen und ihre Angehörigen häufig keine Unterstützungsmöglichkeiten, ein niedrigschwelliges und akzeptierendes Beratungsangebot fehlt (vgl. Focks 2014: 12f.).

Die von Focks interviewten Expert*innen betonen, dass es selbst in Einrichtungen, die speziell auf die Vielfalt der sexuellen Orientierung ausgerichtet sind, wie z.B. schwul-lesbischen Jugendzentren, zu Diskriminierungen und Ausgrenzungen kommen kann. Insbesondere inter*, aber auch trans* und genderqueere Jugendliche werden in solchen Konzeptionen oft nicht mitgedacht. Häufig fehlt auch das spezifische Wissen zu Geschlechterpluralität und binäre Klischees werden reproduziert. Folglich bleiben inter* Jugendliche von diesen Einrichtungen fern. Aus Focks Studie geht deutlich hervor, dass es für inter* (wie auch trans* und genderqueere) Jugendliche wichtig ist, dass sie nicht nur in schwul-lesbischen-bisexuellen Kontexten mitbenannt werden, sondern dass für sie eigene Räume und partizipative und unterstützende Angebote geschaffen werden (vgl. Focks 2014: 15f.).


4. Über die Lebenswelten von Inter*Kindern – Chancen auf Sichtbarkeit und Akzeptanz

Geschlechtsverändernde Genitaloperationen an nicht-einwilligungsfähigen Kindern werden von medizinischer Seite häufig mit alltagsweltlichen Argumenten begründet.

„Also der Klassiker ist: ‚Überlegen sie doch, ob sie ihr Kind nicht operieren lassen, denn, wenn es dann in den Kindergarten kommt, und dann weiß es nicht welches Klo es benutzen soll oder dann sehen auch die anderen, dass da was anderes ist.‘ Also statt darauf zu pochen, dass im Kindergarten aufgeklärt wird, wird das Kind dann entsprechend zugerichtet.“ (Ghattas in: Focks 2014: 14)

Aufgrund der unangefochtenen Meinungshoheit der Medizin über Intergeschlechtlichkeit fällt es Eltern von inter* Kindern schwer abzuschätzen, was im Sinne des Kindeswohls das Richtige ist (vgl. Ghattas in: Focks 2014: 14). Dass solche Annahmen empirisch nicht belegt sind, zeigt eine von Krämer (2013, zit. n. Sabisch 2014: 56) durchgeführte und von Sabisch (2014) erneut analysierte Befragung von drei Müttern, deren Kinder offen intergeschlechtlich aufwachsen. Die Studie verdeutlicht, dass entgegen der vorherrschenden medizinischen und elterlichen Annahme eine offen gelebte Intergeschlechtlichkeit im Kindesalter keine umfassende Stigmatisierung oder Diskriminierung des Kindes mit sich bringen muss. Kinder, die von sich selbst behaupten, „ich bin beides“ oder „mal bin ich Mädchen, mal Junge“, können Akzeptanz und Unterstützung erfahren. Ein doing inter* ist im Alltag möglich und geht nicht notwendigerweise mit sozialer Exklusion einher. Dies gilt für das nähere soziale Umfeld genauso wie für Institutionen wie Kindergarten und Schule. Die Kinder der interviewten Mütter empfinden ihren Körper als Bereicherung und können eine intergeschlechtliche Identität entwickeln, die sie als „Besonderheit und Gewinn“ (Krämer 2013: 78, zit. n. Sabisch 2014: 59) erfahren. Darin werden sie seitens der Familie, der Erzieher*innen und Lehrer*innen sowie anderer Kinder bestärkt (vgl. Sabisch 2014: 55–59).

Das Alltagserleben dieser Kinder verdeutlicht, dass die Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit keinesfalls so rigide funktioniert, wie von Ärzt*innen und Eltern häufig angenommen wird, und dass das binäre Geschlechtersystem nicht immer auf die gleiche Weise bedeutsam und wirkmächtig ist. Die Bedeutsamkeit von Geschlecht als soziale Ordnungskategorie kann je nach sozialem Kontext variieren. Darin zeigt sich der von Hirschauer (1994, 2001, zit. n. Sabisch 2014: 59) formulierte Ansatz vom Undoing Gender (vgl. Sabisch 2014: 59).

Alle von Krämer befragten Mütter berichteten allerdings von einer anfänglichen Unsicherheit des sozialen Umfelds, die aus der Unwissenheit über Intergeschlechtlichkeit resultiere. Insofern besteht die wichtigste Aufgabe der Eltern von inter* Kindern und Jugendlichen darin, den Menschen „Brücken zu bauen“ (eine Mutter in: Sabisch 2014: 59), um zur Veralltäglichung von Intergeschlechtlichkeit beizutragen und die Flexibilisierung der Geschlechterordnung voranzutreiben (vgl. Sabisch 2014: 59). Die Ergebnisse der Befragungen zeigen, dass das Kindeswohl nicht durch die Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit mittels kosmetisch-chirurgischer Maßnahmen gefördert werden kann, sondern vielmehr durch die positive Einstellung und das wertschätzende Verhalten des sozialen Umfeldes zur Intergeschlechtlichkeit des Kindes (vgl. Sabisch 2016: 1f.).


5. Soziale Arbeit

Wie deutlich geworden ist, handelt es sich bei Intergeschlechtlichkeit nicht um ein medizinisches Problem. Es geht nicht um Krankheit, sondern es geht um das Kindeswohl, die geschlechtliche Selbstbestimmung und darum, dass Intergeschlechtlichkeit angst- und diskriminierungsfrei gelebt werden kann. Insofern ist das Thema für die Soziale Arbeit relevant (vgl. Hechler 2016: 176f.; Zehnder 2009: 26).

Die Soziale Arbeit hätte als „Analytikerin sozialer Probleme, als lösungs- und ressourcenorientierte Disziplin und als in sich interdisziplinär angelegtes Handlungsfeld“ (Zehnder 2016: 19) viele Möglichkeiten: Sowohl in der kritischen Auseinandersetzung mit relevanten sozialen und Gender & Diversity betreffenden Fragestellungen in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit, in der Erforschung der Lebenswelten und Menschenrechtssituation insbesondere von Inter*Kindern und Jugendlichen wie auch in der Beratungsarbeit in Beratungsstellen oder Krankenhäusern können wertvolle Beiträge geleistet werden.

Lange Zeit war von einem psychosozialen Notfall die Rede, wenn ein Kind intergeschlechtlich geboren wurde. Ein psychosoziales, niedrigschwelliges und akzeptierendes Beratungsangebot für intergeschlechtliche Menschen, deren Eltern, Verwandte oder nahe Bezugspersonen gibt es bis heute kaum. Aufgrund der erheblichen Auswirkungen, die die medizinische Behandlungspraxis auf die Lebensqualität der inter* Personen haben kann, besteht ein grundlegender Bedarf spezialisierter beratender Strukturen im Kontext von Intergeschlechtlichkeit in Ergänzung zur Psychotherapie und der Selbsthilfe (vgl. Tillmanns 2015: 10f.). Der Bedarf an einem professionellen und spezialisierten Beratungsangebot für die Eltern ist nicht nur in der entscheidenden Phase direkt nach der Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes gegeben, sondern besteht schon davor, beispielsweise um Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden. Insofern ist es im Falle von Intergeschlechtlichkeit wichtig, Eltern wie auch das medizinische Personal dafür zu sensibilisieren, dass Intergeschlechtlichkeit keine Krankheit oder Störung ist, den Zugang zu interdisziplinärer Beratung und Unterstützung zu gewährleisten und vermehrt qualifizierte interdisziplinäre Kompetenzzentren entstehen zu lassen.

Zehnder (2016: 19) weist darauf hin, dass die Soziale Arbeit im Bereich Intergeschlechtlichkeit als Vermittlerin zwischen den Fronten sowie als anwaltschaftliche Vertretung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fungiert. Sie kann im Sinne eines Case-Management-Ansatzes die verschiedenen Interessen und Perspektiven gegeneinander abwägen, Alternativen aufzeigen, Hilfe zur Selbsthilfe anstoßen und Betroffene miteinander in Kontakt bringen (vgl. Zehnder 2016: 19). So stellt der Kontakt beispielsweise zu Selbsthilfegruppen oder Inter*-Peergroups eine wichtige Ressource dar. Vor allem für intergeschlechtliche Kinder ist es wichtig, mit anderen intergeschlechtlichen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zusammenzukommen (vgl. Hechler 2016: 181). Diesbezüglich betont Hechler (2016: 181), dass für viele Inter* gerade das Kennenlernen von anderen Inter* ein „enorm wichtiger, stärkender und hilfreicher Selbstermächtigungsprozess“ ist und dazu beiträgt, sich als Inter* zu begreifen und einen positiven Bezug auf Intergeschlechtlichkeit zu entwickeln. Auch Ghattas (in: Focks 2014: 21) hebt für inter* Menschen die Bedeutung von nicht-medizinischen und nicht-pathologisierenden Selbsthilfegruppen hervor. Eine solche Selbsthilfegruppe zu gründen oder in eine solche zu gehen, sieht er als eine Form von Emanzipation und Aktivismus.

Von zentraler Bedeutung ist es auch, sozialarbeiterisches und pädagogisches Personal in Institutionen wie Kindergärten und Schulen sowie in der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit und der Beratung für die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt durch entsprechende Fortbildungen oder Ratgeber für die Praxis zu sensibilisieren. Als ein aktuelles Beispiel kann die Handreichung Murat spielt Prinzessin, Alex hat zwei Mütter und Sophie heißt jetzt Ben (2018) genannt werden, die vom Sozialpädagogischen Fortbildungsinstitut Berlin-Brandenburg und der Bildungsinitiative Queerformat herausgegeben wurde. Nordt/Kugler weisen in diesem Dokument in Bezug auf Kinder in Kindertageseinrichtungen darauf hin, dass es wichtig ist, dass intergeschlechtliche Kinder „[…] – insbesondere im Hinblick auf traumatisierende Operationserfahrungen – sensibel darin unterstützt werden müssen, ein positives Körpergefühl aufbauen zu können“, und allen Kindern durch eine geschlechtsbewusste und inklusive Pädagogik „einen Raum anzubieten, wo sie sich frei von Geschlechterstereotypen entwickeln können“. (Nordt/Kugler 2018: 21) Durch die Thematisierung von Geschlechtervielfalt mit Kindern bzw. Jugendlichen können die gesellschaftliche Tabuisierung und Diskriminierung von Lebensformen jenseits der normativen bipolaren Geschlechterordnung überwunden sowie ein Beitrag zur Sichtbarkeit von Lebensrealitäten intergeschlechtlicher Menschen sowie zur Wertschätzung von gesellschaftlicher Pluralität geleistet werden.

Fachkräfte können dies durch eine inklusive Gestaltung von Einrichtungen unterstützen sowie durch entsprechende pädagogische Materialien. Aufklärungsteams, die Kindergärten, Schulen und außerschulische Einrichtungen besuchen und aus einer Betroffenenperspektive heraus die eigene Lebensgeschichte schildern, fördern die Empathie gegenüber der geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt (vgl. Klocke/Salden/Watzlawik 2018: 27).

Neben dem Fördern von Inklusion, Empowerment und Emanzipationsprozessen ist eine zentrale Aufgabe der Sozialen Arbeit, Schutz vor Diskriminierung, Gewalt und Kindeswohlgefährdung zu bieten. Dies bezieht sich im Kontext von Intergeschlechtlichkeit auch auf medizinische Eingriffe, Pathologisierung und Alterisierung. Insofern ist es wichtig, durch Öffentlichkeitsarbeit, umfassende Aufklärungsarbeit und Menschenrechtsarbeit die Verschiebung der medizinischen Definitionsmacht auf die Betroffenen als die eigentlichen Expert*innen voranzutreiben, um geschlechtliche Selbstbestimmung zu ermöglichen (vgl. Hechler 2016: 179–182).

„Die Definitionsmacht darüber, wer eine Person ist und wer sie*er sein möchte, ist ohne Einschränkungen in die Hände der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen selbst zu legen. Es ist ganz prinzipiell bei allen Menschen darauf zu achten, dass diese sich ihr Geschlecht selbst wählen dürfen, und zwar jederzeit, und auch immer wieder neu. Weder die Eltern(teile) noch Mediziner*innen noch Jurist*innen sollten das Geschlecht eines Kindes definieren und festlegen.“ (Hechler 2016: 179)

Mit der Verschiebung der Definitionsmacht auf die Kinder, Jugendlichen, Erwachsenen selbst geht nicht nur für Inter* eine Entlastung einher, sondern auch für das gesamte Umfeld wie beispielsweise Eltern, Ärzt*innen und Peers (vgl. Hechler 2016: 179f.). Diese Verschiebung ist nicht nur förderlich für die Wertschätzung, Liebe, Akzeptanz und Unterstützung des Kindes durch die Eltern und nahen Bezugspersonen, die unabdingbare Voraussetzungen sind, um das Kindeswohl zu sichern. Sie ist auch förderlich für einen reformierten gesellschaftlichen und damit medizinischen und rechtlichen Umgang mit Intergeschlechtlichkeit.

Dieser konkretisiert sich nicht in einem dritten Geschlechtseintrag „divers“ für „einen medizinisch eng definierten Personenkreis“, sondern vor allem im „Verbot uneingewilligter oder nicht vollständig informierter geschlechtsverändernder kosmetischer medizinischer Eingriffe, insbesondere an Kindern“, in der Abschaffung des „Geschlechtseintrag[s] bei Geburt“ oder der „Geschlechtsregistrierung gänzlich“ (vgl. IVIM/OII Deutschland 2018).


Verweise
1 Malta ist weltweit das erste und einzige Land, in dem seit 2015 ein gesetzliches Verbot der fremdbestimmten kosmetischen Genitaloperationen an Kindern gilt (vgl. Heide 2018).


Literatur

Agius, Silvan (2016): Menschenrechte und intergeschlechtliche Menschen. Themenpapier. Herausgegeben von der Organisation Intersex International Europe e. V. (OII Europe). https://oiigermany.org/wp-content/uploads/2017/02/COHR_DE_INTER.pdf (11.10.2018).

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Über die Autorin

Ruth Hechtl
r.hechtl@fh-kaernten.at

Ausbildung: Studium Deutsche Philologie und Italienisch (Lehramt an höheren Schulen) (Mag.a phil.), Doktoratsstudium der Philosophie im Fach Deutsche Philologie (Dr.in phil.). Hochschullehre im Studiengang Soziale Arbeit der FH Kärnten.
Schwerpunkte: Gender & Diversity sowie Italienisch.