soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 22 (2019) / Rubrik "Thema" / Standort Feldkirchen
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/636/1143.pdf


Hubert Höllmüller:

Sucht ist keine Krankheit


Gewidmet: Walter und Phillip


1. Einleitung

„Nach den Erkenntnissen der Endorphinforschung und vergleichbarer biologischer Forschung zu den Suchtphänomenen an Alkohol und Cannabis kann heute der Krankheitscharakter der Sucht nicht mehr bezweifelt werden. Für die Substitutionsbehandlung kann daraus die Berechtigung abgeleitet werden, als medizinischer Umgang mit einem Krankheitsphänomen zu gelten.“ (Springer o.J.: 37)

„Sucht selbst jedenfalls ist vielmehr auf der Ebene der sozialen Lebensführung als auf der von Krankheiten anzusiedeln.“ (Kamphausen 2009: 271)

Die Soziale Arbeit hat in der Suchthilfe in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts hauptsächlich Tagesgeschäft zu leisten. Es gilt immer noch, Lokal- und Regionalpolitiker*innen davon zu überzeugen, dass Drogenabhängige Unterstützung benötigen und auch verdienen, dass es Maßnahmen zur harm reduction braucht und dass nur eine hohe Anzahl an Substitutionen – als gesundheitspolitische Maßnahme und nicht als Therapie – die Rate der Drogentoten durch Überdosierung und verunreinigte Substanzen reduzieren kann. Notwendig wären Maßnahmen wie Spritzentausch und Safer-use-Aufklärung, erneute Anläufe für Konsumräume, Informationskampagnen über lebensgefährliche Substanzen aus dem Internet. In der Realität wird allerdings ausschließlich die Gebetsmühle „Sucht ist eine Krankheit“ eingesetzt, weil Krankheit die Solidargesellschaft zur Unterstützung verpflichtet. In erster Linie handelt es sich um eine negative Position, weil sie mit der Unterstellung einhergeht, dass Sucht ein Laster oder Persönlichkeitsdefekt ist. Das erscheint sinnvoll und notwendig, weil in unserer Gesellschaft als Common Sense immer noch das vormoderne Paradigma gilt, dass Sucht eben ein Laster sei, für welches die jeweilige Person selber verantwortlich ist; und wenn Sucht mit Leiden einhergeht, sei die betroffene Person selber schuld. Wer aber selber schuld ist, hat auch keine Hilfe verdient bzw. muss von der Gesellschaft ausgeschlossen werden (zumindest durch Ignoranz), damit nicht andere davon befallen werden.

Allerdings bewirkt diese Gebetsmühle eine ontologische Setzung. Abhängigkeit wird so zu einem naturwissenschaftlichen Faktum aus der Medizin übertragen. Damit wurde und wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die über die Schleife „Sucht ist Krankheit – ist sehr schwer heilbar – ist eine sehr schwere Krankheit – ist noch schwerer heilbar“ im gesellschaftlichen Diskurs. Es wird so ein Monument errichtet, das Sucht zur allgegenwärtigen Gefahr erklärt. Wolf (2003: 107) hält diesbezüglich fest: „Andererseits wird das Krankheitskonzept von einigen Befürwortern nur deshalb anerkannt, um die Finanzierung der Interventionen im Suchthilfesystem zu sichern oder um kostengünstigere Reaktionsmöglichkeiten auf die Sucht zu ermöglichen.“ Der Pragmatismus, mit dem Krankheitskonzept wesentliche Ressourcen zu eröffnen, die den Betroffenen zu Gute kommen, bringt die Frage mit, wie sehr damit nachhaltige und dauerhafte Lösungen aus der Sicht der Betroffenen ermöglicht werden. Diese Frage allerdings hat im Suchtdiskurs der letzten Jahrzehnte wenig Aussicht auf Beantwortung:

„Unterschiedliche empirische Ergebnisse, aber auch unterschiedliche moralische Prinzipien sowie die unterschiedliche Gewichtung von Werten bestimmen das Konfliktpotential des geführten Suchtdiskurses. Die Vermischung von Fakten mit Werten und Prinzipien verhindert zudem eine rationale Auseinandersetzung […]. Die Integration von wissenschaftlichen Ergebnissen in ein bestimmtes Wertungssystem wird vor allem im Zusammenhang mit einem Krankheitsverständnis von Sucht deutlich. Der heutige Krankheitsbegriff ist immer noch an einen bestimmten, aus der Aufklärungsepoche stammenden Freiheitsbegriff gebunden. Sucht wird als Verlust von Freiheitsgraden verstanden. Diese Art des Freiheitsverlustes, der zu den bekannten konsumatorischen Zwangshandlungen führt, wird nicht als rationale und freiwillige Entscheidung eines Individuums anerkannt.“ (Wolf 2003: 219)

Einer der Kernpunkte ist also die Frage nach der Autonomie der Betroffenen. Ich verwende in diesem Beitrag die Begriffe Sucht und Abhängigkeit gleichbedeutend, auch wenn diese eine unterschiedliche Geschichte haben: „Durch die inflationäre Verwendung des Begriffes [Sucht, Anm. HH] und seine Mehrdeutigkeit wird in der Medien- und Wissenschaftssprache im Zusammenhang mit stoffgebundenen Suchtformen, anstelle von Sucht, der Begriff der Abhängigkeit verwendet.“ Wolf, 2003: 19) Die mit dem Begriff der Abhängigkeit teilweise verbundene Absicht, die Sicht auf Drogenkonsument*innen neutraler werden zu lassen, scheint nicht aufgegangen zu sein.

Neben dem Krankheitsverständnis sind zahlreiche davon abweichende Modelle entstanden: Sucht als Lebensstil (vgl. Szazs und Fingarette, zit. nach Wolf 2003: 13–124), als Erklärungsprinzip (vgl. Herwig-Lempp 1994; Frohnenberg 2000), als deep learning (Lewis: 2015) oder strong bonding (Cohen 2009), als disorder of choice (Heyman 2009) oder als cognitive distortion (Beck 2009). Um dies mit meinen eigenen Forschungsergebnissen zu ergänzen: Sucht als Denkfehler, angelehnt an das Konzept der kognitiven Verzerrung. Diese abweichenden Modelle widersprechen alle der Vorstellung eines absoluten Freiheitsverlusts.

„My main practical problem with current medical involvement with addiction is that people who are diagnosed as addicted are made more powerless to manage their life than other clients of medical treatment. Addiction medicine will often take over, and decide about intervention without the client […]. Medical practice […] empowers an oppressive regulatory kind of treatment. Modern neurological theories about addiction tend to maintain or strengthen this oppression by transforming theories about addiction into a ‚brain disease‘“. (Cohen 2009: 1)

Die Suchtmedizin entmündigt der Beschreibung entsprechend die Betroffenen, doch aus der Sicht der Sozialen Arbeit ist relevant, dass ihre Prinzipien des Empowerments und der Partizipation auch in diesem Kontext zu gelten haben. Es sind die Betroffenen, die das Definitionsrecht haben, was in welchem Ausmaß an ihrem Konsum ein Problem, eine Belastung oder ein unerträglicher Zustand ist. Die deutschsprachige Literatur zur Frage der Autonomie von Drogenkonsument*innen im letzten Jahrzehnt müsste viel stärker ausgeprägt sein.


2. Ein Beispiel für den Versuch, den Diskurs über Sucht in seiner Gesamtheit abzubilden

Julia Wolf legte 2003 an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen ihre Dissertation mit dem Titel Auf dem Weg zu einer Ethik der Sucht. Neurowissenschaftliche Theorien zur Sucht und deren ethische Implikationen am Beispiel der Alkohol- und Heroinsucht vor. Sie versucht, einen breiten Diskurs über Abhängigkeit und Sucht abzubilden. Dass sie dies aus der Perspektive der Biologie macht, macht die Untersuchung meines Erachtens für die Sozialen Arbeit als Außensicht besonders interessant.

Wolf beginnt mit dem soziologischen Befund, dass die Einnahme psychoaktiver Substanzen ein generelles Phänomen von Gesellschaften ist: „Psychoaktive Substanzen wurden wahrscheinlich in nahezu allen Kulturen als Medizin, als Entspannung, für rituelle Zwecke oder zur Steigerung der Ausdauer und zur Bekämpfung von Hungergefühlen und noch vielem mehr genutzt.“ (Wolf 2003: 5) Die Nutzung wurde und wird zwar gesellschaftlich reglementiert, aber unterliegt „nicht unbedingt einer Risikoeinschätzung über die Wirkungsweise der Substanzen auf den Körper“ (ebd.: 5). Die kulturellen, moralischen und gesetzlichen Regelungen bestimmen zwar jeweils klar, wer wann wo wieviel von bestimmten Substanzen konsumieren soll oder darf, aber welche eventuellen Risiken eine einzelne Substanz für den Körper birgt, wird dabei wenig beachtet. Ein österreichisches Beispiel für diese fehlende Risikoeinschätzung, wenn auch wenig erforscht, sind die arsenic eaters of styria: Mit dem Abbau von Arsen entwickelte sich vor einigen Jahrhunderten auch ein illegaler Konsum, der sich vermutlich bis in die 1970er Jahre des letzten Jahrhunderts zog (vgl. Brugner 2018).

Wolf verwendet für ihre Darstellung unterschiedlicher Modelle den Begriff der Denkstile nach Fleck. Sie grenzt ihn vom Paradigma-Begriff von Kuhn ab. Der Vorteil des Denkstil-Konzepts ist, dass widersprechende Denkstile in den Wissenschaften lang nebeneinanderstehen können und nicht, wie im Konzept von Kuhn, ein Paradigma das andere ablöst. Sie kategorisiert fünf Denkstile, die Sucht unterschiedlich definieren:

  1. Sucht als Krankheit
  2. Sucht als erlernte Verhaltensweise
  3. Sucht als relativer und gesellschaftlich bedingter Begriff (Erfindung)
  4. Sucht als moralische Verfehlung, Sünde
  5. Sucht als deviantes, gesetzeswidriges Verhalten (vgl. Wolf 2003: 24)

Auch wenn Wolf damit nicht alle Konzepte abbildet, zeigt sie doch klar, dass Sucht als Krankheit eine von mehreren Konzeptionen ist, die sich im argumentativen Diskurs von anderen unterscheiden lässt. Während die Krankheitsdefinition sich auf physiologische „Wahrheiten“ beruft, schlagen, so Wolf,

„Vertreter der sozialwissenschaftlichen Seite […] einen entdramatisierten Umgang mit der Sucht als mögliche Lebensweise vor oder suchen die Ursachen der Sucht in der Gesellschaft. Das Problem wird hier in der Sichtweise (in der Einstellung und Reaktionsweise) und nicht im Wesen des Phänomens der Sucht gesehen. Sucht kann gemäß dieser Definitionen kein Wesen per se besitzen.“ (Wolf 2003: 23)

Wolf (2003: 56) benennt einige methodologische und technische Herausforderungen, die eine Suchtforschung auf Basis des Krankheitskonzepts mit sich bringt: Sind psychische Phänomene, wie z.B. das craving, eindeutig neuronalen Prozessen zuzuordnen? Was bedeutet „neuronales Korrelat“? Können Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragen werden und in wieweit können Laborbedingungen oder klinische Bedingungen alltägliche Situationen abbilden? Sind empirisch nachgewiesene physiologische, biochemische und morphologische Modifizierungen Ursache oder Folge einer Sucht bzw. welche Wechselwirkungen bestehen? Das medizinische Konzept der Krankheit ist eindeutig das dominante und in der Suchhilfe kaum hinterfragt. Dagegen positionieren sich andere Konzepte als Gegenmodelle und stellen die Krankheitsperspektive in Frage. Kritisiert wird zum Beispiel, dass einzelne Aspekte der Krankheitskriterien nicht plausibel sind oder nur eingeschränkt im Bereich der Sucht gültig sein können wie z.B., dass die Betroffenen abweichende Erfahrungen und Selbstsichten aufweisen und sie nicht automatisch Behandlungsnotwendigkeit artikulieren. Wenn es in der Praxis der Suchthilfe um Verantwortungsübernahme geht, wird das Krankheitsparadigma als ungeeignet und unflexibel betrachtet, es ist interkulturell nicht gültig und das zu Grunde liegende Verständnis von psychischem Erleben wird als normativ bezeichnet (vgl. Wolf 2003: 101).


2.1 Denkstil versus Paradigma

Wolf kommt nach ihrer historischen Analyse zum Schluss, dass sich Suchtvorstellungen eher als unterschiedliche Denkstile begreifen lassen und die Modellierung als Paradigma nach Kuhn dem nicht entspricht:

„Meiner Ansicht nach wird der historische Suchtdiskurs und seine postulierten radikalen Neuerungen stark überbewertet. So lassen sich gerade auch heute noch viele Elemente der historischen Interpretation von Sucht in den heutigen Denkstilen wiedererkennen. […] Die Autoren fanden im Umgang mit süchtigen Menschen moralische wie auch medizinische Attitüden bei Laien und professionellen Helfern.“ (Wolf 2003: 65)

Nach wie vor also wird Schuld zugewiesen und die verdorbene Persönlichkeit beschworen, die einfach nicht anders will. Wichtig dabei ist, dass dies nicht nur für den Common Sense gilt, sondern auch für die Akteur*innen des Hilfesystems, und zwar aller Professionen.


2.2 Der pragmatische Krankheitsbegriff und seine Kritik

Der Krankheitsbegriff kann über die Erschließung von Ressourcen hinaus eine pragmatische Seite haben. Ihn in Anschlag bringend, müssen Fragen nach Autonomie und Verantwortung gar nicht mehr gestellt werden und das Ganze beruht dann

„lediglich auf der Übereinkunft einer Gruppe von Fachleuten […]. Dieser Krankheitsbegriff ist, wie Rohan es ausdrückt, als eine Art von Working Label für die klinische Praxis zu betrachten (Rohan in: Klein 1992, S. 13). Der Begriff von Krankheit wird hier nicht mehr ontologisch, sondern rein handlungsanleitend verstanden. Der [sic!] Working Label dient als Grundlage von Interventionen zur Veränderung bzw. Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes von suchtkranken Menschen, d.h. in diesem Sinne hilfsbedürftigen Menschen. Der Krankheitsbegriff wird also lediglich zur Begründung und rechtlichen Legitimation von Behandlungsverfahren benutzt.“ (Wolf 2003: 99–100)

Dieser Pragmatismus mag auf den ersten Blick Vorteile haben, aber der negative Effekt ist die legitimierte Passivität der Krankenrolle und die mögliche Übernahme von Merkmalen der Krankheit, die vor der Zuschreibung noch nicht vorhanden waren. Selbststigmatisierung und Verlust von Autonomie und Wahlfreiheit werden durch ein pragmatisches Krankheitsverständnis in Kauf genommen, um das eigene Handeln nicht hinterfragen zu müssen.


2.3 Akzeptierend oder akzeptanzorientiert – Unterschiedliche Begriffe, unterschiedliche Modelle

„Für Vertreter sogenannter liberaler Modelle, wie das der Akzeptanz, setzt sich der Drogenkonsument zunächst neue Werte. Er schätzt die Erlebnisse durch Drogen höher ein, als seine eigene Gesundheit. Der Konsument entwickelt nach dieser Auffassung ein neues Wertesystem, das sich mit dem seines sozialen Umfeldes nicht deckt und deshalb auf Kritik stößt. Andere, selbstgesetzte Werte sollten nach Meinung des akzeptanzorientierten Ansatzes in einer demokratischen Gesellschaftsordnung toleriert werden. [...] Aus dem Prinzip der Menschenwürde werden die Selbstbestimmung, der Respekt vor Differenz und ein Gebot für Hilfe, vor allem bei Gefahr einer Verelendung von süchtigen Menschen, abgeleitet.“ (Wolf 2003: 113)

Hier möchte ich auf eine unausgesprochene kleine Verschiebung von akzeptierend zu akzeptanzorientiert hinweisen. Akzeptanz in der Drogenhilfe besitzt eine Klarheit, die mit dem Beiwort der Orientierung relativiert wird. Es lässt sich an Akzeptanz orientieren, ohne eine einzige klare Position einzunehmen und damit im professionellen Handeln weiterhin anderen Grundsätzen zu folgen. Die meisten Konzepte der Drogenhilfe haben diese Verschiebung mitvollzogen.


2.4 Ethische Fragen

Wolf möchte eine Ethik der Sucht entwickeln und stellt deshalb einen Fragenkomplex zusammen, der ihres Erachtens am Anfang einer solchen Ethik stehen sollte:

„1. (a) Welche Rechte und Bedürfnisse kann ein süchtiger Mensch gegenüber der Gesellschaft geltend machen?
(b) Welche Verantwortung kommt ihm rechtlich und moralisch zu?
(c) In welchem Grad besitzt ein süchtiger Mensch Autonomie und Handlungsfreiheit? […]
2. (d) Welche Verantwortung soll die Gesellschaft gegenüber süchtigen Menschen übernehmen?
(e) Sind wir verpflichtet, uns und andere vor den Wirkungen und Folgen der Drogen zu schützen?
3. (a) Welche Verhaltens- und Erlebniszustände können in unserer Gesellschaft als wünschenswerte Daseinszustände erachtet werden?
(b) Wie bewerten wir psychische Erlebensweisen?
(c) Was bedeuten die Verbesserung eines psychischen Zustandes und die in der Therapie vorgegebenen Ziele? […]
4. (b) Welches Menschenbild läßt sich als Grundlage von Therapiemaßnahmen und Therapiezielen erkennen?“ (Wolf 2003: 159)

Dieser Fragenkatalog, den Wolf in ihrer Arbeit selber nicht beantwortet, könnte als Reflexionsinstrument für die gesamte Drogenhilfe Gültigkeit haben. Herwig-Lempp (1994) formuliert eine ethische Perspektive, die einzelne dieser Fragen berücksichtigt. Er wendet sich dagegen, dass drogenkonsumierenden Menschen ihre Autonomie abgesprochen wird. Für ihn ist das eine Entmündigung. Er betont, dass es eine Frage der Perspektive ist, ob Personen als abhängig oder als autonom angesehen werden:

„Die Frage, ob sie als abhängige oder autonome Menschen betrachtet werden, entscheidet sich danach, welches Verhalten sie an den Tag legen und mit welcher Definition es übereinstimmt. Hinzu kommt, daß die solchermaßen von außen, ‚aufgrund wissenschaftlicher Kriterien‘ etikettierten Drogenkonsumenten diese Definitionen und Konzepte selbst übernehmen sollen (d.h. in der Terminologie der Berater und Therapeuten sollen sie ‚Krankheitseinsicht‘ zeigen). Sie werden dann ihre Wirklichkeit selbst anhand dieser Einteilung in Abhängige und Nicht-Abhängige interpunktieren und, sofern ihr Verhalten mit der Definition für ‚abhängig‘ übereinstimmt, darunter leiden.“ (Herwig-Lempp 1994: 140)


2.5 Und die Suchthilfe?

Klar ist für Wolf, dass bei der Verelendung von Drogenkonsument*innen ein Hilfegebot vorliegt, „Hilfeleistungen müssen jedoch nicht notwendigerweise an eine Krankheitsdefinition anknüpfen und können auch mit Rekurs auf andere Konzepte stattfinden.“ (Wolf 2003: 119–120)

Problematisch sind in der Suchthilfe „unreflektierte Therapeutenwerte“ und die daraus resultierenden Konflikte mit den Werten der Betroffenen, widersprüchliche Interessen von Gesellschaft, den Professionellen der Suchthilfe und den Einzelnen, ungeklärte Fragen der Rauschkultur und Konsumkompetenz, die Finanzierbarkeit von nichtmedizinischen Unterstützungen, Wirkungsfragen und die unterschiedlichen Auffassungen von Therapieerfolgen sowie die unterschiedlichen Gesetzgebungen im europäischen Kontext (vgl. Wolf 2003: 145).

In ihrer Diskursanalyse nimmt Wolf eine deutlich kritische Position ein, die sie aus der Perspektive einer nach ethischen Grundlagen suchenden Biologie klarer formulieren kann als die Soziale Arbeit.

„Durch die Einengung der Sucht auf ein medizinisch-pragmatisches Verständnis geht viel an Erklärungspotential verloren, was wiederum zu Defiziten im Suchtdiskurs führen kann. Der gegebene Diskussionsrahmen erscheint mir daher zu wenig reflektiert und zu eng abgesteckt zu sein, um die entstandenen Probleme und Fragen überhaupt beantworten und auflösen zu können.“ (Wolf 2003: 87)


3. Die konstruktivistische Antwort der Sozialen Arbeit und ihre Unklarheiten

Herwig-Lempp publizierte 1994 Von der Sucht zur Selbstbestimmung, Drogenkonsumenten als Subjekte, in dem er mit Hilfe des Konstruktivismus die Konstruiertheit von Abhängigkeit nachzuweisen versucht. Er verwendet dafür den Begriff Erklärungsprinzip von Bateson, um die Austauschbarkeit mit dem Autonomiebegriff zu begründen. Denn ein Erklärungsprinzip erklärt nichts, sondern ordnet bestimmte Phänomene, um damit umgehen zu können (vgl. Herwig-Lempp 1994: 58–60).

In seinem erkenntnistheoretischen Kapitel stellt er die konstruktivistische Perspektive dar und zeigt auch das Dilemma, in das er sich damit manövriert:

„Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Es soll ebenso wenig behauptet werden, Drogenabhängigkeit sei ein Erklärungsprinzip, wie versucht werden soll, die vorzustellenden Ansätze für den Umgang, die Beratung und Therapie von Drogenkonsumenten seien die einzig richtigen und ‚wahren‘. Insofern wird versucht, in der konstruktivistischen Grundhaltung konsequent zu sein, selbst wenn dies sowohl schwerfällt als auch schwer zu verstehen ist, da wir gewohnt sind, uns an Aussagen über eine objektive Realität zu orientieren. Dieses Modell soll lediglich bestehenden Modellen […] gleichberechtigt gegenübergestellt werden.“ (Herwig-Lempp 1994: 10)

Herwig-Lempp verweist, wenn auch nicht ausdrücklich, auf die Grundproblematik des Konstruktivismus, dass er sich – auf sich selbst angewandt – selber aus dem Diskurs nehmen muss. Tatsächlich behauptet er, im Widerspruch zum obigen Zitat, dass Drogenabhängigkeit ein Erklärungsprinzip ist und tatsächlich versucht er in seiner Arbeit darzulegen, dass akzeptierende Drogenarbeit die richtige sei.

Es fällt meines Erachtens nicht schwer zu verstehen, dass der Konstruktivismus jede objektiv verstandene Realität aushebeln kann und dass wir trotzdem gewohnt sind, „uns an Aussagen über eine objektive Realität zu orientieren.“ (Herwig-Lempp 1994: 10) Herwig-Lempp relativiert damit seine kritische Position: Er möchte nicht die scheinbar objektive Realität des Krankheitsmodells konstruktivistisch dekonstruieren und er möchte auch nicht ein anderes Realitätsmodell konstruieren, eines, das im Sinne der Betroffenen besser „funktioniert“. Er gesteht zu, dass es nicht falsch oder schlecht ist, „ganz selbstverständlich und ohne nachzudenken von der Existenz einer objektiven Wirklichkeit und wahren Erkenntnis aus[zu]gehen“ (Herwig-Lempp 1994: 50). Er sieht seine kritische Position eher wie ein kleines Blitzlicht, das kurz aufflackern darf. Wie es weitergeht bleibt allerdings offen.

Wenn aber besagte objektive Wirklichkeit nicht zielführend ist, zum Beispiel, um für möglichst viele Betroffene ein etwas besseres Leben zu ermöglichen, was dann? Dann liegt eine Antwort in der radikalen Umdeutung: „Gehe ich aber davon aus, daß es diese objektive, mich in meinen Handlungen leitende Wirklichkeit nicht gibt bzw. sie mir nicht zugänglich ist, so gibt es auch keinen Grund mehr, daran zu verzweifeln oder darüber zu resignieren.“ (Herwig-Lempp 1994: 55) So lässt sich jedes Elend zum Verschwinden bringen. (Allerdings bleibt die Frage, für wie lange.) Der andere Ausweg ist für Herwig-Lempp, nicht nur „unsere Wirklichkeitsauffassung als relativ zu erleben, sondern wir können uns aufgrund dieser Annahme auch die ‚Erlaubnis‘ geben, andere Sichtweisen und Auffassungen zunächst auszuprobieren und, sofern sie geeignet sind, einzunehmen“ (Herwig-Lempp 1994: 57–58). Herwig-Lempp will sein Modell nicht gegen das Krankheitskonzept positionieren, sondern er möchte nur, dass es daneben Platz hat. Ein Plädoyer für Theorievielfalt soll seinem Zugang gestatten, dem Erklärungsprinzip der Drogenabhängigkeit das der Autonomie gegenüberzustellen. Dieses neue Erklärungsprinzip bedeutet:

„Die Person ist autonom und selbstbestimmt,
- sie stellt selbst Sinn her, bewertet selbst, was sie für gut und richtig befindet,
- sie wählt unter den ihr erkennbaren und ihr zur Verfügung stehenden Alternativen jeweils die aus, die sie für die günstigste hält,
- sie ist selbst für ihr Handeln und seine Folgen verantwortlich, sie hat einen ‚freien Willen‘,
- dies ist der nach unseren kulturellen Maßstäben wünschenswerte, ‚natürliche‘ Zustand.“ (Herwig-Lempp 1994: 68–69)

Dem Ganzen stehen „nur“ die in der Gesellschaft geltenden Wirklichkeitsauffassungen gegenüber. Das Elend von einem Teil der Drogenkonsumierenden liegt für Herwig-Lempp nicht in ihrem psychischen Erleben oder ihrem Selbstbild, sondern in der gesellschaftlichen Reaktion auf ihren Konsum:

„Erst Illegalisierung und Kriminalisierung bringen ‚Junkies‘ hervor, wie wir sie heute auf der Szene sehen. Sie bringen Schwarzmarkt, horrende Preise, die Notwendigkeit diese zu finanzieren und damit Kriminalität, Prostitution und die Erschwerung sozialer Kontakte mit sich. Und vor allem die Verunreinigung des Stoffes, die Unsicherheit über seine Zusammensetzung, die damit verbundene Gefahr der Überdosierung (und des daraus möglicherweise folgenden ungewollten ‚goldenen Schusses‘), die gesundheitlichen Gefahren.“ (Herwig-Lempp 1994: 100)

So sehr dieser Befund nachvollziehbar und belegbar ist, so sehr idealisiert sein Erklärungsprinzip die menschliche Autonomie.


3.1 Akzeptierende Drogenarbeit

Für die Drogenhilfe folgt aus dem Modell der Autonomie, dass es Programme von niederschwelligen und akzeptierenden Formen der Drogenhilfe braucht, um das Abstinenzparadigma abzulösen. Es braucht eine Vielfalt unterschiedlicher Angebote wie medikamentengestützte Entzugsmöglichkeiten auch ohne nachfolgende Therapie und ambulante Entzugs- und Therapieangebote neben den Langzeiteinrichtungen. Die gesellschaftliche Ausgrenzung der Betroffenen muss Schritt für Schritt überwunden werden und das weiterhin notwendige Hilfssystem muss als Ausdruck einer Normalisierung integraler Bestandteil der Sozialen Arbeit werden (vgl. Herwig-Lempp 1994: 100–101). Die akzeptierende (und nicht akzeptanzorientierte) Drogenarbeit gibt den Adressat*innen ihre Entscheidungsfreiheit zurück und verknüpft Unterstützung nicht mehr mit der Bereitschaft zur Anpassung:

„Die Frage der Abhängigkeit wird in der Akzeptierenden Drogenarbeit eher peripher, auf jeden Fall nicht als entscheidend betrachtet. Gleichzeitig wird der Begriff (und damit das dahinterstehende Konzept) der ‚Abhängigkeit‘ bzw. ‚Sucht‘ nicht ganz verworfen, wohl aber eingeschränkt.“ (Herwig-Lempp 1994: 104)

In der Folge rekurriert Herwig-Lempp affirmierend auf Stöver (1990), dem entsprechend Menschen mit vielen Abhängigkeiten problemlos leben und deshalb bei einem weiten Drogenbegriff Drogenabhängigkeit ein Normalverhalten darstellt. Auf der Ebene des professionellen Handelns ist Herwig-Lempp entsprechend deutlich: er konzediert, dass Abhängigkeit ein reales Phänomen und Problem sein kann, ohne es zu pathologisieren, sondern es als Gegenkonzept zu normalisieren.

„Dieses Konzept der Autonomie, d.h. der ‚Drogenkonsumenten als Subjekte‘, geht davon aus, daß das Verhalten der sogenannten ‚Abhängigen‘ nicht mehr als sinnlos und damit krank, unnatürlich und behandlungsbedürftig eingestuft wird, sondern daß man voraussetzt, daß es aufgrund individueller Entscheidungen im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgewählt wird, d.h. daß es Sinn macht für diese Person.“ (Herwig-Lempp 1994: 141)

Menschen haben gute Gründe für ihr Konsumverhalten, auch wenn es negative bis katastrophale Effekte mit sich bringt.

Auch Frohnenberg (2000) nimmt eine konstruktivistische Position ein, um die gängigen Positionen zur „Drogenabhängigkeit auf ihren Nutzen zu überprüfen sowie die eigene Haltung gegenüber Drogenkonsumenten zu hinterfragen“ (Frohnenberg 2000: 7). Er will erreichen, dass Drogenkonsumierende nicht mehr als hilflose Objekte gesehen werden, sondern als autonome und selbstbestimmt handelnden Menschen. Er vertritt das Konzept einer akzeptierenden Drogenarbeit, sehr ähnlich dem von Herwig-Lempp. Auch er sieht – konstruktivistisch begründet –, dass mit der Autonomie den Betroffenen auch Verantwortung wieder zurückgegeben wird. In einer Rezension von Frohnenbergs Buch fasst Loviscach zusammen, dass akzeptierende Drogenhilfe nicht in die Beliebigkeit führt, sondern im Gegenteil durch das Prinzip der Verantwortung eine höhere Verbindlichkeit erreicht:

„Konsequenterweise ist auch den Konsumenten die volle Verantwortung für ihre Lebensweise zu übertragen, wobei ihnen jedoch geholfen werden muss. ‚Erst wenn ihnen bewußt ist, daß sie selbst die Konstrukteure ihrer Überzeugungen sind, können sie die volle Verantwortung für diese übernehmen und müssen den ‘selbstgewählten‘ Lebensweg akzeptieren oder können versuchen, andere Wege zu gehen.‘“ (Loviscach 2001: 1)


3.2 Unklarheit 1: Konstruktivismus und Systemtheorie

Der Konstruktivismus kommt aus einem sehr handlungsbezogenen Kontext. Wenn Handlungsoptionen nicht zielführend sind oder außerhalb der eigenen Möglichkeiten liegen, kann die Frage gestellt werden, ob die Realität nicht eine andere sein könnte. Aber die Frage lautet nicht, ob es diese eine Realität gibt, sondern ob sie eine andere sein könne. Der Konstruktivismus wird nicht eingesetzt, um eine Vorstellung von Realität generell zu verabschieden, sondern um von einer – weniger hilfreichen – Realität zu einer anderen – hilfreicheren – Realität zu gelangen. Es ist also beides notwendig: Konstruktivistische Zwischenschritte, um das Handlungsspektrum zu erweitern, und eine Realismus-Annahme, die wieder handlungsfähig macht.

Diese Realismus-Annahmen lassen sich im Konzept operational geschlossener, Sinn prozessierender Systeme nach Luhmann (1999) theoretisch rückbinden. In einer Selbstbeschreibung solcher mit Sinn prozessierenden Systeme wird mit der Unterscheidung von System und Umwelt beobachtet. Was aus dem System heraus entsteht, also konstruiert wird, ist System, und was in der Umwelt liegt, ist Umwelt. Aber beide Beobachtungen sind Systembeobachtungen von systeminternen Inhalten. Operational geschlossen kommt das System nie aus sich heraus und die Umwelt nie ins System hinein. Auf der materiellen Ebene kann die tatsächlich außerhalb des Systems liegende Umwelt das System zwar stören, beeinträchtigen und auch zerstören, aber nicht auf der Ebene der Systemoperationen. Die Komplexität des Systems garantiert, dass dies für das System nie beobachtbar wird, was sein Erliegen zur Folge hätte. Die Annahme der operationalen Geschlossenheit meint eben, dass jede Systemoperation systemintern erzeugt wird, auch, wenn der Inhalt dieser Operation sich mit etwas befasst, das außerhalb des Systems liegt. Der Konstruktivismus kann diese unauflösbare Verbindung mit dem Realismus nicht thematisieren, weil er dann – für sich selbst nämlich – als widersprüchlich und inkonsequent gelten müsste – genauso im Übrigen wie der Realismus. Eine systemtheoretische Perspektive kann dies allerdings schon (vgl. Höllmüller 2020).


3.3 Unklarheit 2: Der Aspekt der Selbstbehandlung auf Grund innerer Belastung

„Die Hauptmotivation Drogen zu nehmen mag für den einen der Genuss sein, wohingegen für eine andere Person eher der Aspekt des Ausschaltens negativer Gefühle im Vordergrund steht.“ (Cohen 2011: 1)

Neben der auf Autonomie beruhenden Suche nach neuen Erfahrungen wird in den konstruktivistischen Konzepten kaum darauf eingegangen, dass ein an sich selbst wahrgenommener Mangel oder eine Belastung der Grund für Konsum und Abhängigkeit sein kann. Es kann eben auch darum gehen, negative Gefühle auszuschalten. Holden (2012) spricht hier ganz medizinisch von Depression oder der Unfähigkeit, mit der Welt zurecht zu kommen: „At best, addiction is a maladaptive response to an underlying condition, such as depression or a nonspecific inability to cope with the world.“ (Holden 2012: 1) Abhängigkeit ist dann die fehlerhafte oder zumindest unangepasste Antwort. Dieses zugrundeliegende Defiziterleben ist für die Soziale Arbeit als Gegenstand zumindest gleich bedeutsam wie Probleme, die aus einem missverstandenen Genuss resultieren.

„Each of these people, Lewis argues, had a particular ‘emotional wound’ the substance helped them handle, but once they started using it, the habit itself eventually became self-perpetuating and in most cases ultimately served to deepen the wound.“ (Miller 2019: 2)

Lewis (2015) spricht, schärfer noch, von emotionalen Wunden, die mit dem Konsum von Drogen behandelt werden sollen, wobei dieses Verhalten sich als ungeeignete Selbstbehandlung fortsetzt und dann oft diese Wunden noch vertieft. Selbst die konstruktivistische Kritik des Krankheitskonzepts scheint das innere Erleben nicht einbeziehen zu können, sondern beschränkt sich nur auf äußere Zuschreibungen, die die Autonomie beeinträchtigen können. Auch wenn auf der professionellen Handlungsebene mit der Akzeptanz durchaus auf die negativen Folgen eingegangen wird:

„Die Verelendung und Unerreichbarkeit vieler Konsumenten von illegalen Drogen gaben den Anstoß zu diesem Ansatz (der Akzeptanz), der sich vor allem gegen Sanktionen und eine staatliche Bevormundung richten sollte. Stöver betrachtet Drogenkonsum in diesem Sinne als differenzierte Konsumentscheidung zum Zwecke des Genusses oder der Selbstmedikation“. (Wolf 2003: 112)

Das Schlüsselwort Selbstmedikation, das sicherlich nicht wieder die medizinische Perspektive einführen soll, fasst meines Erachtens die Grundfrage für die Soziale Arbeit zusammen: Wenn der Ausgangspunkt für Konsum und eventuell daraus folgende Abhängigkeit eine schwere Belastung ist, dann ist diese schwere Belastung das Ziel der Hilfe und Unterstützung – und nicht der Konsum und die Abhängigkeit.


4. Das Beispiel des ambulanten Opiatentzugs (2005)

Dass in der Sozialen Arbeit auch eigenständige Projekte möglich sind, soll folgendes Beispiel dokumentieren, auch wenn es wie viele andere Innovationen nicht weiter aufgegriffen wurde. Im Sommer 2004 startete im Graz das Arbeitstrainingsprojekt für Drogenkonsumierende Jugendliche „pilot“. Aus diesem entwickelte sich ein ambulantes Entzugsprojekt, weil zahlreiche Teilnehmer*innen den Wunsch nach einem körperlichen Opiatentzug hatten. Aus elf Interessent*innen wurden acht ausgewählt. Unter fachärztlicher Aufsicht wurde innerhalb von zwanzig Tagen ein „blinder“ Entzug auf einer nahegelegenen Alm durchgeführt. Vier Personen brachen den Entzug ab und zwei die daran anschließende Kurzzeittherapie. Im Arbeitstrainingsprojekt wurde auf Grund der Ergebnisse ab 2005 ein eigenes Entzugs- und Therapiemodul als fixer Bestandteil des auf ein Jahr laufenden Arbeitstrainings geplant. Es kam allerdings zu keiner Umsetzung mehr, weil das finanzierende Arbeitsmarktservice das Projekt beendete.

In der Begleitforschung (vgl. Höllmüller 2005 und 2006) wurden drei Paradigmen beobachtet, die für die Betreuer*innen handlungsanleitend waren: Das Paradigma der Charakterschwäche, das Paradigma der Krankheit und das Paradigma des Denkfehlers:

„Dieses Paradigma (des Denkfehlers) ermöglichte den BetreuerInnen, eine wohlwollende freundliche Beziehung aufzubauen, ohne dabei eine paternalistische Haltung einzunehmen. Das Verständnis, dass die TeilnehmerInnen in einem entsprechend gestalteten Umfeld ihre Problematiken selber neu definieren müssen, ermöglichte weitreichende entscheidungstheoretische Kommunikationsmodelle, die Beziehungen auf ‚gleicher Augenhöhe‘ schaffte. Die Rückgabe der Verantwortung an die TeilnehmerInnen bedeutete unter diesem Paradigma nicht, seine eigenen Interventionen auf die beziehungslose Ebene von Vorgabe, Kontrolle und Sanktion zu reduzieren.“ (Höllmüller 2005: 104)

Dabei war bemerkenswert, dass diese drei Paradigmen nur implizit beobachtbar waren, aber nicht ausdrücklich formuliert wurden. Und sie bestanden nebeneinander im Sinne von Denkstilen:

„All three paradigms existed at the same time in professional practice. The more touching a situation was experienced, the more likely it was that regression occurred, which means that they stepped back from the third to the second and then to the first paradigm.“ (Höllmüller 2006: 341)


5. Abschluss

Es mag provokant klingen zu behaupten, dass Sucht keine Krankheit ist. Die Theoriebildung dazu ist allerdings durchaus ausgereift. Ob in wissenschaftlichen Communities Diskurse entstehen, ist schwer steuerbar, aber wenn Sucht und Abhängigkeit für die Soziale Arbeit wieder Thema werden sollen, ist es wichtig, an bestehende alternative Konzepte anzuknüpfen. Ob Sucht eher emotional, als tiefe Bindung, modelliert wird, ob eher kognitiv orientiert als deep learning, ob als kognitive Verzerrung oder Denkfehler – diese Zugänge berücksichtigen im Unterschied zum Lebensstilkonzept und zur Vorstellung vom Erklärungsprinzip (zumindest auch) den Grundaspekt einer Selbstmedikation, also einer Selbstbehandlung auf Grund von Belastungen und negativen Gefühlen. So haben diese Konzepte eine Problemperspektive. Ressourcenorientiert formuliert, haben sie eine Selbstfürsorgeperspektive. Abhängigkeiten müssen somit nicht pathologisiert werden, um einen Hilfeanspruch zu begründen. Dies sollte für eine progressive Soziale Arbeit aber umso relevanter sein, denn

„[m]edicalizing addiction has not led to any management advances at the individual level. The need for helping or treating people with addictions is not in doubt, but a social problem requires social interventions.“ (Holden 2012: 1)


Literatur

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Über den Autor

FH-Prof. Mag. Dr. Hubert Höllmüller
h.hoellmueller@fh-kaernten.at

Professur am Studiengang Soziale Arbeit der FH Kärnten, Schwerpunkt Kindheit/Jugend, internationaler Koordinator, Forschungen zur Kinder- und Jugendhilfe in Österreich und Slowenien und zum Westsaharakonflikt. Aktuelle Publikationen: Niederschwelligkeit in der Sozialen Arbeit (Hg. mit Helmut Arnold) Juventa 2017, Erasmus goes Westsahara (Hrsg. mit Lisa Bebek und Franziska Syme) Drava Verlag 2019, Kritik des reinen Konstruktivismus, Wochenschauverlag 2020, in Vorbereitung.