soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 22 (2019) / Rubrik "Thema" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/638/1147.pdf


Daniel Sanin:

Konsum und Sucht als gesellschaftliche Systemeigenschaften sowie individuelle Denkformen der Distanzierung


1. Einleitung

Die Konstruktionen des Menschen verselbständigen sich und treten ihm als eigenständiges Äußeres gegenüber. Es wirkt daher für uns so, als hätte die menschliche Ordnung den Charakter von Natur, samt unverrückbarer Naturgesetze (vgl. Berger/Luckmann 1980). Vielleicht fällt es uns deswegen schwer, eine menschliche Utopie zu imaginieren, die diesen Namen auch verdiente. Was die Kulturindustrie zuhauf produziert, sind dagegen Dystopien, samt damit einhergehender Ergötzung an Zerstörung und Verstümmelung. Können wir uns eine herrschaftsfreie Gesellschaft vorstellen? Eine ohne Geld, ohne Karriere, ohne Besitz? Ich kann diese zentralen Fragen hier nicht beantworten, aber ich möchte mich einem spezifischen Aspekt widmen, den sogenannten Suchterkrankungen und ihrer Behandlung, um anhand dieses Feldes zu kritisieren, wie in der gegebenen Wirklichkeit das menschliche Potential vergeudet wird: dadurch, dass, anstatt gemeinsam und kooperativ an konkreten Problemen zu arbeiten, Spaltungen und Trennungen produziert und konstruiert werden, die Herrschaftsstrukturen stärken. Das erscheint mir gerade für die Soziale Arbeit wichtig, da sie mit dem Konzept der Parteilichkeit antritt, sich mit und für Marginalisierte einzusetzen. Es gibt „im Mainstream der Sozialen Arbeit […] wohl niemanden […], der bzw. die sich als unkritisch verstanden wissen will“, meint Ulrike Eichinger (2012: 11). Werden aber die gesellschaftlichen Bedingungen nicht grundsätzlich genug analysiert, kann sich dieser Anspruch hinter dem Rücken der Akteur_innen sogar in sein Gegenteil verkehren.


2. Herangehensweise der Kritischen Psychologie

Die Kritische Psychologie trat an mit dem Anspruch, die vorherrschende Psychologie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das erschien notwendig, da die klassische Psychologie auf drängende Fragen der Menschen keine Antworten hatte und sich im Anspruch, Naturwissenschaft zu sein, in Formeln und Datenbergen vergrub. (Leider hat sich daran nicht wirklich viel verändert.) Es fehlte der Psychologie ein Grundbegriff des Psychischen und so verzettelte sie sich in lauter Einzelwissenschaften wie Entwicklungspsychologie, Gemeindepsychologie, allgemeine Psychologie, differentielle Psychologie, Wirtschaftspsychologie usw. usf. Das Unterfangen der Kritischen Psychologie kulminierte in der Grundlegung der Psychologie von Klaus Holzkamp (1985). Hier wurden die zentralen Erkenntnisse aus Anthropologie, Geschichte, Soziologie, Ethnologie, Biologie usw. systematisch zusammengetragen und weiterentwickelt.

Aus kritisch-psychologischer Perspektive ist die Einbeziehung der gesellschaftlichen Strukturen und ihrer Bedeutungen unumgänglich: Menschliches Handeln bezieht sich immer auf gesellschaftliche Strukturen bzw. ist ohne diese nicht vollständig erfassbar (vgl. Holzkamp 1985: 358ff.). Die Bezugnahme in der Kritischen Psychologie geschieht dabei nicht direkt auf die bloßen Strukturen, sondern auf jeweils spezifische Bedeutungen, die für mein Handeln jeweils von mir als Prämissen genommen werden. Das Ganze darf mensch sich nicht rationalistisch vorstellen, als würde ich mir jeweils bewusst meine Prämissen wählen. In einigen Fällen mag das durchaus so sein, doch gerade wo es um spontanes oder automatisiertes Handeln geht, ist die Prämissenwahl eben auch automatisiert oder gar unbewusst. Die Prämissenwahl kann im Nachhinein erst rekonstruiert werden. Durch die Analyse der Prämissen werden die persönlichen Gründe der jeweiligen Person, die im Kontext der alltäglichen Lebensführung ihren Sinn ergeben, sichtbar (vgl. Holzkamp 1996). Dadurch wird es dem Subjekt potentiell möglich, sich bewusst zu den Gründen zu verhalten.

Entgegen klassischen psychologischen (und oft genug auch soziologischen) Erklärungsansätzen, die meist bedingungstheoretisch argumentieren, also solcherart, dass bestimmte Bedingungen identifiziert oder postuliert werden, die ursächlich Konsequenzen oder Ergebnisse erklären sollen, haben wir es bei der Kritischen Psychologie mit einem begründungstheoretischen Ansatz zu tun: Menschliches Handeln ist nicht bedingt, sondern begründet. Eine Bedingungsanalyse ist in der Begründungsrekonstruktion zwar ein fixer und notwendiger Bestandteil, allerdings kommt auch die Bedeutungsebene zum Tragen, also die dem Subjekt zugewandte Seite der Bedingungen. Dadurch, dass die Bedeutungen je mir zugewandt sind, kann auch nur ich darüber Auskunft geben.1


2.1 Handlungsfähigkeit

Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich seine „Natur“ bzw. Umwelt selbst schafft. Die „Natur“ des Menschen ist somit immer seine Gesellschaft. Die vorfindlichen Bedingungen, in denen ein Mensch seine Handlungen plant und setzt, können so hingenommen oder bei Bedarf verändert werden. Das nennt die Kritische Psychologie die „doppelte Möglichkeit der Nutzung und Erweiterung von Handlungsräumen“ (Holzkamp 1985: 354). Nun finden wir uns historisch jedoch in einer spezifischen Situation wieder, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsform. Diese spezifische Situation und deren Interpretation haben für die Entwicklung der kritisch-psychologischen Begriffe Folgen:

„Die […] objektiven gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die wir voraussetzen müssen, um deren Bedeutungsaspekt herausheben zu können, werden dabei von uns als die antagonistischen Klassenverhältnissen der bürgerlichen Produktionsweise konkretisiert.“ (ebd.: 357, Herv. entf.)

Der zentrale Begriff ist hier antagonistisch. Die menschliche Gesellschaft muss sich reproduzieren, es muss also für Nahrung, Infrastruktur usw. gesorgt werden. Im Kapitalismus beruht die gesellschaftliche Reproduktion jedoch auf eben gegensätzlichen Grundlagen: der gesellschaftliche Reichtum wird zwar von den meisten Menschen geschaffen, die Besitzverhältnisse sind jedoch ungleich verteilt und so müssen die meisten Menschen einen Teil ihrer Lebenszeit in Form von Lohnarbeit den sogenannten Arbeitgeber_innen zur Verfügung stellen. Dafür bekommen sie so viel an Lohn, dass es für die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft auf jeden Fall reicht.

Die Grundlage unserer Gesellschaft ist somit antagonistisch und nicht solidarisch. Die in der Kritischen Psychologie unterstellte doppelte Möglichkeit des Umgangs mit gesellschaftlichen Bedingungen – deren Akzeptanz oder Veränderung – verändert sich unter diesen Umständen: Bei bloßer Nutzung der Handlungsräume lasse ich auch das kapitalistische Herrschaftssystem unangetastet und beteilige mich so auch an der Unterdrückung anderer implizit und/oder explizit. Um diese Besonderheit der doppelten Möglichkeit begrifflich präzisieren zu können, wurde das Begriffspaar restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit eingeführt.2 Mit restriktiver Handlungsfähigkeit ist das Handeln unter den gegebenen Herrschaftsbedingungen mit Inkaufnahme der eigenen Absicherung auf Kosten anderer gemeint; mit verallgemeinerter jenes Handeln, das eine Verbesserung der Handlungsbedingungen für mich und andere (potentiell alle anderen) zum Ziel hat.

Es handelt sich hier um ein Spannungsfeld: Sich auf eine radikale Suche nach Ursachen zu machen– z.B. warum es eigentlich die Suchthilfe in dieser Form braucht, warum es die Unterscheidung zwischen „Drogen“, Medikamenten und Genussmitteln gibt, an was ich hier eigentlich mitwirke etc. –, hat auch bedrohliche Aspekte hinsichtlich der eigenen (wie prekär auch immer gestalteten) Absicherung unter herrschenden Bedingungen (was dem Pol der restriktiven Handlungsfähigkeit entspräche). Diesbezüglich müssen sich auch die Suchtberater_innen bzw. -therapeut_innen an die Nase greifen, die vom Suchtdispositiv, also dem Komplex aus Begrifflichkeiten, Instrumenten, Institutionen, Berufsgruppen, gesellschaftlichen Diskursen und Gesetzen, insofern profitieren, dass es ihren Job erst notwendig macht und die Legitimation für ihre Eingriffe und Maßnahmen liefert, die von unterstützend bis bevormundend reichen.

Für Betroffene ist eine Diagnose oft etwas Konkretes, Entlastendes; sie löst zwar nicht ihre Probleme, ist aber etwas, das ihnen Zugänge zu bestimmten Leistungen ermöglicht, sie ist ein Code, der auch nach außen verwendet werden kann, um sich gegen moralisierende Zuschreibungen oder Anklagen zu wehren etc. Für Individuen, deren Aufgabe es ist, Menschen zu verwalten, bietet die Diagnose eine Rechtfertigung für eine Vielzahl an Interventionen. Für die (noch) nicht Diagnostizierten bietet das Label Sucht eine willkommene Abgrenzungsmöglichkeit zum anormalen Bereich (krank, kriminell usw.).3 Die Interessen an einer Beibehaltung der Diagnose Sucht sind also vielfältig und unter den herrschenden Bedingungen auch durchaus nachvollziehbar. Es kann somit auch mein (verdrängtes) Interesse sein, „Süchtige“ mittels Psychologisierung und Pathologisierung auf der individualisierten Position zu halten.

Verallgemeinerte Handlungsfähigkeit hingegen könnte in jenen Momenten festgestellt werden, wo zwei oder mehrere Menschen sich anhand eines Problems den Bedingungen zuwenden, die dieses Problem als solches erst entstehen lassen und auf eine kooperative Lösung hinarbeiten, die potentiell allen zugutekommt bzw. zumindest nicht auf Kosten von jemandem geht. Ein Teil der Bedingungsanalyse ist die Kritik der vorherrschenden Denkformen hinsichtlich eines Themenkomplexes. Schauen wir uns nun einige Denkformen der Drogenhilfe an.


3. Ideologiekritik und Analyse der Denkformen in der Drogenhilfe

Kontrollverlust, unwiderstehlicher Drang zu konsumieren, Dosissteigerung/Toleranzentwicklung, Weitermachen trotz Schaden, Unterordnung von allem anderen unter das Eine, Entzugserscheinungen – das sind die bis zur Erschöpfung heruntergebeteten Symptome einer klinischen Sucht, die das Mantra des Drogenhilfebereichs bilden (vgl. dazu z.B. den Diagnosekatalog ISD; Dilling/Freyberger, 2012: 77f.). An anderer Stelle habe ich (2015) bereits herausgearbeitet, dass die Definition dieser Sucht ein historisch-kulturelles Produkt ist und dabei auf schon lange vorhandenes Wissen zurückgegriffen werden kann (vgl. z.B. Spode 1997; Legnaro 1982; Kappeler 1991; Amendt 1984; Behr 1980). In der klinischen Praxis jedoch wird ganz positivistisch an das „Problem“ herangegangen: Dort die_der suchtkranke Patient_in/Klient_in, hier die Expert_innen. Es gibt also eine ganz klare Grenze. Auf der einen Seite: normal, ausgeglichen, einschlägig gebildet; auf der anderen Seite: gestört, dysfunktional, mit Mängeln behaftet. Pathologisierung ist also auch eine Technik der Distanzierung und Abgrenzung. Das kann durch Anamneseverfahren, Standard-Fragebögen, Aufnahmeprocedere, Diagnoseverfahren etc. noch verstärkt und unterstützt werden. Wir sehen hier aber nur die mikrosoziologische Spiegelung (Goffman 2001) eines gesamtgesellschaftlichen Prozesses. Wer aus dem Bereich des „normalen“ Konsums herausfällt, landet in Reparatureinrichtungen, z.B. ambulanten und stationären Drogeneinrichtungen (vgl. Sanin 2015: 134ff.; sowie Sanin 2016: 138ff.), wird dort „repariert“ oder einfach verwahrt (zur Ambivalenz der Substitutionsbehandlung siehe Tiapal/Sanin 2016). Das „Zentrum“4 der kapitalistischen Gesellschaft nimmt der Bereich des „normalen Funktionierens“ ein, der von der Lohnarbeit und der Wertakkumulation bestimmt wird. Der Kinder- und Jugendbereich ist dem vorgelagert und dient der Vorbereitung auf die Verwertung, der Altenbereich ist dem nachgelagert, gerät aber immer mehr unter Druck, sich länger dem Verwertungszusammenhang zu unterwerfen.

Menschen, die es – obwohl im erwerbsfähigen Alter – nicht schaffen, produktiv zu sein, also an der Mehrwertproduktion mitzuwirken, sollen durch Reparaturschleifen (Beratung, Psychotherapie, Kur, Coaching, Umschulung, Arbeitsmarktreintegrationsprojekte u.ä.m.) zur Teilnahme am Arbeitsmarkt gebracht werden, oder in Werkstätten so tun, als ob. Wenn keine Produktivität im Sinne der kapitalistischen Beanspruchung erreichbar ist, wird geschaut, dass diese Individuen so wenig wie möglich den Normalbetrieb stören. Auch hier findet also die Distanzierung statt.


3.1 Sucht als System

Im „normalen“ Zentrum der kapitalistischen Gesellschaft geht es um Wachstum (Dosissteigerung), Profitmaximierung (Unterordnung von allem anderen unter das Eine), Konsum (unwiderstehlicher Drang), Einsparungen, um den Profit zu steigern (Weitermachen trotz Schaden). Die geltenden Gesetzmäßigkeiten folgen nur einer Logik, jener der Mehrwertsteigerung, also der Wertproduktion. Ob dadurch unsere Existenzgrundlage, die Natur, zerstört wird, zählt ebenso wenig wie die unzähligen Menschenleben, die dafür geopfert werden: ermordete Gewerkschaftsführer, ausgebeutete Kinder in Steinbrüchen in Indien (vgl. Mück-Raab 2017), die steigenden Zahlen an psychischen Erkrankungen inklusive Burnout in den westlichen Zentren (z.B. o.A. 2019). Unserem gesamten Gesellschaftssystem, dem Kapitalismus, kann die Suchtdiagnose gestellt werden: Kontrollverlust, unwiderstehlicher Drang zu konsumieren, Dosissteigerung/Toleranzentwicklung, Weitermachen trotz Schaden, Unterordnung von allem anderen unter das Eine, Entzugserscheinungen – alle Symptome sind vorhanden.

In der Dynamik von normal/abnormal gibt es für die normale Position einen entscheidenden Vorteil: Sie ist die markierende Position, die selbst unmarkiert bleibt. Das „Kranke“ oder „Gestörte“ des gesellschaftlichen Ganzen gerät somit aus dem Blick, welcher sich auf Einzelpersonen oder bestimmte Gruppen heftet. Für diese werden dann Modalitäten, Interventionen, Einrichtungen, Instrumente geschaffen, die die Wiedereingliederung in den Normalbetrieb zum Ziel haben oder zumindest dessen Schutz vor Störungen.


3.2 Humanismus als Abwehr von Selbstfeindschaft

Wenden wir uns nun dem prävalenten Menschenbild zu, das in der Suchthilfe vorherrscht. Ich definiere es als das humanistisch-pathologisierende, da sich in ihm eine akzeptierende und verstehende Zuwendung zur Person mit der Grundannahme einer vorliegenden psychischen Störung bzw. Erkrankung vereint. Dieses humanistische Menschenbild konnte in der Suchtarbeit erst mit der HIV/Aids-Krise in den 1980er Jahren etabliert werden. Diese Erkrankung verschob die hochriskant Konsumierenden vom caritativ-moralischen Betreuungsterrain aufs medizinische. Durch den unermüdlichen Einsatz und das Lobbying von Expert_innen und Betroffenen ist es gelungen, „Sucht“ in der Drogenpolitik als Krankheit zu platzieren (vgl. z.B. Hari 2015: 419ff.). In der medizinischen Forschung gab es zwar schon länger den Blick auf Drogenkonsument_innen als Kranke, in der Gesellschaft und ihren Verwaltungsorganen allerdings blieb das moralische Urteil dominant. Durch diesen pathologischen Blick war es möglich, die teilweise durchaus extremen Handlungen mancher Drogenkonsument_innen (in selbst- wie auch fremdschädigendem Sinne) weg von der Beurteilung als moralische Schwäche, fehlendem Willen, schlechtem Charakter etc. hin zu einer krankheitsbedingten Erklärung zu verschieben.

Die Klient_innen der Drogenhilfe brauchen dem entsprechend keine moralische Verurteilung, bestrafende Ausgrenzung oder Korrekturmaßnahmen aus dem Bereich der „schwarzen Pädagogik“ (vgl. besonders drastisch Vandreier 2012: 21), sondern Verständnis für ihre psychischen Probleme und konkrete medizinische, sozialarbeiterische und psychologische Hilfestellungen. Gleichwenig wie mensch jemandem mit einem Beinbruch sagt, er solle sich nicht so haben und gefälligst gehen, ging es nun darum, die Behandlung für die suchtkranke Person zu finden, die für diese auch passt und von ihr angenommen werden kann.

Die paradigmatische Verschiebung fand somit von einer harten, disziplinierenden hin zu einer weichen, verstehenden Haltung statt. Es ist wichtig, diese Haltung als zentrale Säule des Selbstverständnisses der akzeptierenden Suchthilfearbeiter_innen zu verstehen. Die sogenannte akzeptierende Drogenhilfe versteht sich als expliziter Gegenentwurf zur damals dominanten repressiv-unterdrückenden Drogenhilfe. Es ging darum, den Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, nicht das Problem (Stöver 2000: 38). Es muss hervorgehoben werden, dass die humanistisch-pathologisierende Haltung zwar eine Verbesserung gegenüber der disziplinierend-repressiven darstellt, sie fußt allerdings nicht auf einer subjektwissenschaftlichen Sicht, wie sie beispielsweise von der Kritischen Psychologie vertreten wird. Die Kritische Psychologie geht davon aus, dass der Mensch immer begründet handelt. Das heißt nicht, dass einer_m die eigenen Gründe immer klar sind, im Gegenteil, oft sind diese verdrängt oder auch in Gewohnheitshandlungen automatisiert aufgehoben. Bei der humanistisch-pathologisierenden Haltung können jedoch wahlweise Handlungsgründe angenommen werden oder auch nicht. Wenn z.B. davon ausgegangen wird, dass bei dem_der Klient_in eine psychische Krankheit oder eine Suchterkrankung vorliegt, erübrigt sich die Suche nach tieferliegenden Gründen. Die Pathologisierung – also das Ersetzen der Analyse des Prämissen-Begründungs-Handlungszusammenhangs durch die Annahme einer handlungssetzenden Instanz, in diesem Fall einer Krankheit – schneidet somit den Prozess der intersubjektiven Verständigung ab: Es ist mir völlig klar, warum du so handelst, nämlich, weil du krank bist (auch wenn dir das selber vielleicht nicht klar ist – was auch zu deiner Krankheit passt) (vgl. Markard 2009: 189).

Den gleichen Effekt finden wir beim bedingungszentrierten Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens. Es handelt sich hierbei sozusagen um die soziologische Variante des Abschneidens von Begründungen: die Bedingungen prägen den Menschen, er ist Produkt der gesellschaftlichen/sozialen/kulturellen Umstände. Für das klassische Bild der süchtigen Person, bzw. noch klarer des „Junkies“, wären das z.B. ein desintegriertes, dysfunktionales Elternhaus, eine „problematisches“ Umgebung (Armut, Bildungsferne, Kriminalität), schlechte Erfahrungen in der Schule/gescheiterte Schulkarriere, missglückter Einstieg ins Berufsleben, „falscher“ Freund_innenkreis, Traumatisierungen, Stigmatisierungen etc. Die Person wird hier tendenziell implizit und/oder explizit als passiv angesehen, sie ist ein reaktives Produkt ihrer gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen.

Dieser theoretischen Grundannahme der Helfer_innen entspricht auf Handlungsebene das Konzept der Parteilichkeit. Damit ist gemeint, dass die Helfenden zu Unterstützer_innen und Fürsprecher_innen der als Opfer wahrgenommenen Klient_innen werden.


4. Interaktionen aus Positionen heraus vs. Interaktionen in Lebenslagen

Kommen wir nun von der Ebene der Ideologiekritik zu jener der unmittelbaren Interaktionen. Auch auf der Ebene der Interaktion von Klient_innen und Berater_in/Ärzt_in wird durch diverse Abläufe und Instrumente eine klare Trennung vollzogen zwischen mir, Expert_in, professionell, gesund, normal, und den Klient_innen, süchtig, gestört, krank. Zum einen habe ich eine berufliche Sozialisation durchlaufen, die mir eine Rolle bzw. eine Distanzierung durch Professionalität liefert. Zweitens arbeite ich in einer Drogeneinrichtung, die ja extra wegen der „Problemlagen“ der „Süchtigen“ geschaffen wurde. Drittens bin ich ausgestattet mit Denkformen und dazugehörigen Instrumenten (z.B. Diagnosen, Tests), welche meine Wahrnehmung der Personen und die Interaktion mit ihnen leiten und strukturieren. Eine Beratungsstelle ist – in Anlehnung an Goffman (2003: 99ff.) – eine Szene, die handlungsleitend ist. Wenn ich mich in eine Drogenhilfeeinrichtung begebe, ist das schon ein gewisses Zugeständnis an die „Wahrheit“ (der Expert_innen bzw. des Diskurses), nämlich, dass ich ein Drogenproblem habe und mich nun an Fachleute wende, die selber keines haben, aber im Umgang damit fachkundig sind und wissen, was (mit mir) zu tun ist. Alles wirkt schlüssig und wahr – und es funktioniert. Gleichzeitig bildet diese Herangehensweise für die Berater_innen einen Schutz vor der Selbstreflexion der eigenen Funktion in einem gesellschaftlichen Ablauf. Sie unterdrückt die Wahrnehmung von Parallelen, z.B. in Bezug auf die eigenen Konsumgewohnheiten, Gefühlsmodulationen und „Süchte“.


4.1 Sucht als Normalität

Peter Cohen (2009: 62) definiert Sucht als eine starke Bindung. Bindung wiederum begreift er als eine zutiefst menschliche Potenz. Extrem formuliert könnte gesagt werden: ohne Bindung kein Mensch. Je wichtiger die Bindung, desto mehr wird sie geschützt und verteidigt, auch bei negativen Konsequenzen. Eine Bindung kann sich darüber hinaus mit allem und jedem bilden, unter anderem auch mit „Drogen“. Welche Bindungen bzw. welche Intensitäten als problematisch, krank, gestört usw. angesehen werden, ist eine historisch-kulturelle Frage. Diese sehr offene Definition ist so gut wie unbekannt. Warum? Nun, eine Erklärung könnte sein, dass sie sich schwer als Passepartout in mannigfaltige Funktionszusammenhänge spannen lässt – anders als der Diagnosenkatalog der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die International Classification of Diseases (ICD). Cohens Definition ist gewissermaßen dialogisch und somit antibürokratisch. Das führt uns zur zweiten möglichen Erklärung ihrer Unbekanntheit, nämlich dass hier die Bedingungen mit eingerechnet werden – also kein Sprechen von „Sucht“ ohne ein Sprechen von Gesellschaft mehr möglich ist.

Ebenfalls so gut wie unbekannt sind die meines Erachtens wichtigsten psychologischen Experimente zu „Sucht“, die Rattenpark-Experimente. Ausgangspunkt war hier die sogenannte Expositionstheorie, also die Annahme, dass ein Kontakt mit einem potenten „Suchtmittel“, klassischerweise ein Opiat wie Diacetylmorphin (Heroin), unweigerlich in eine „Suchtspirale“ führt und das betreffende Subjekt abhängig macht. Wir begegnen dieser Theorie im weitverbreiteten Glaubenssatz „Einmal Heroin, immer Heroin.“ oder auch im Mythos, dass „Alkoholiker_innen“ nicht mal eine Rumkugel essen könnten, ohne wieder rückfällig zu werden (was nicht heißt, dass das nicht auch vorkäme). In der klassischen Psychologie werden solche Forschungen fast immer mit Ratten durchgeführt, was Heinrich Wottawa zur Aussage inspirierte, dass über die Psychologie der Ratte in der psychologischen Forschung wesentlich mehr bekannt sei, als über jene des Menschen (mit Ausnahme der Psychologiestudent_innen). Es gibt wohl dutzende Untersuchungen, die mittels verschiedener Designs anschaulich zeigen, wie schnell und stark Ratten von einer Opiatlösung abhängig werden, was sie alles für deren Erreichung tun, wie sehr sie unter Entzug leiden, was sie alles vernachlässigen usw.

Allerdings ist auch schon seit den 1960er Jahren bekannt, dass bei „Sucht“ – zumindest beim Menschen – soziale Faktoren eine (wie auch immer geartete) Rolle spielen (vgl. z.B. Zinberg 1984). Dies zum Anlass nehmend dachte der kanadische Psychologe Bruce Alexander (2008: 193ff.) darüber nach, inwiefern die hässlichen und reizarmen Laborkäfige auch einen Einfluss auf das Verhalten von Ratten haben. Das war der Beginn der Rattenpark-Experimente, in denen er mit seinem Team in einem liebevoll gestalteten, „artgerechten“ Rattenpark versuchte, einige klassische Suchtexperimente zu reproduzieren. Schon süchtig gemachte Nager setzte er z.B. in den Park und bot ihnen zwei Trinklösungen an: eine opiathaltige und eine mit bitterem Wasser, damit beide gleich schmecken. Und siehe da: die Ratten bevorzugten das bittere Wasser. Notiz am Rande: keines der großen psychologischen Journals wollte den Artikel veröffentlichen, obwohl alles einwandfrei durchgeführt worden war. Daher sind die Rattenpark-Experimente marginalisiertes Wissen geblieben (siehe auch Slater 2010: 224f.).


4.2 Position und Lebenslage

Wenn wir also Cohens Definition und Alexanders Experimente ernst nehmen, müssen wir fragen, in welcher Art von Gesellschaft wir leben, was die bestimmenden Werte, was die grundlegenden funktionalen Gesetzmäßigkeiten sind, nach denen sie sich reproduziert. So können wir schlüssig zur eingangs referierten Suchtdefinition rückschließen, welche – auf die gesellschaftliche Ebene angewandt – die soziokulturelle Trennung von normal/gestört, süchtig/nicht süchtig, gesund/krank – ins Absurde hebt.

Was bleibt, sind unterschiedliche Lebenslagen und Positionen, wobei ersteres in der Kritischen Psychologie die umfassende Situation einer Person meint, während zweiteres die gesellschaftliche Funktion benennt, z.B. den Beruf. Holzkamp (1985: 358) hält diesbezüglich fest:

„Von ‚meinem‘ Standort aus ist meine unmittelbare Lebenslage, ‚in‘ der ich mich ‚schon immer‘ finde, und in der ich mein Leben praktisch bewältigen muss, meine ‚primäre‘, unhintergehbare und universelle Daseinsrealität. Die Realisierung einer gesellschaftlichen Position, etwa in dem ich ‚arbeiten‘ gehe, ist für mich demgegenüber zeitlich und räumlich eingeschränkt, einerseits eine bestimmte Ausprägungsform meiner Lebenslage, in der andererseits meine individuelle Lebenspraxis durch meine Eingebundenheit in gesellschaftliche Anforderungsstrukturen überschritten ist. Die gesamtgesellschaftlichen Bezüge meiner individuellen Existenz […] sind mir weder universell noch partiell unmittelbar gegeben, sondern ‚manifestieren‘ sich lediglich auf unterschiedliche Weise in meiner Lebenslage/Position.“

An Holzkamp anschließend wurde das Konzept der alltäglichen Lebensführung entwickelt (vgl. ausführlich Bader/Weber 2016). Damit kann das jeweils konkrete Leben aus der subjektiven Perspektive heraus verstanden bzw. analysiert werden und konkrete Probleme können aus der Perspektive des Subjekts – unter Einbezug der (vermittelten) gesellschaftlichen Strukturen – aufgeschlüsselt werden. Menschliches Handeln ist immer begründet, auch wenn sich mir mein eigener Handlungsgrund verbirgt. Hier kommen unbewusste Dynamiken ins Spiel, Gründe, die verdrängt werden müssen, da sie bedrohlich sind.

In der Kritischen Psychologie wird davon ausgegangen, dass die Kooperation die zentrale Handlungsbereitschaft des Menschen darstellt. Verkürzt formuliert heißt dies: Ohne Kooperation keine gesellschaftliche Reproduktion und ohne diese kein Mensch. Ein Problem stellt jedoch die Herrschaft dar, zum einen als System, das eben nicht den Menschen und seine Entfaltung, sondern Wertakkumulation als Maß der Dinge hat; zum anderen als zwischenmenschliches Verhältnis. In den gesellschaftlichen Institutionen wie Familie, Schule, Betrieb usw. zeigt sich dieses Prinzip als konkrete Herrschaft von Menschen über Menschen, also Eltern über Kinder, Pädagog_innen über Schüler_innen, Chefs über Angestellte usw. Diese Aufzählung fortsetzend können wir auch sagen: Mediziner_innen und psychosoziales Personal über Klient_innen. Diese Hierarchie und das damit verbundene Herrschaftsverhältnis wird in der Regel ausgeblendet und verdrängt. Die Kooperation, die die Interaktionen hier ermöglicht, ist keine volle, da sie von ungleichen Prämissen ausgeht und diese auch nicht auflösen will – es handelt sich hier um bloße Zusammenarbeit. Meine privilegierte Expert_innenposition geht auf Kosten der unterprivilegierten der Klient_innen bzw. Patient_innen. Diese Hierarchie ist aber nicht natürlich bzw. durch das So-Sein der jeweiligen Akteur_innen bedingt. Sie ist historisch gewachsen und in einem aktuellen gesellschaftlichen Zusammenhang funktional.

Dieses Wissen ist uns zwar nicht in dieser Tragweite bewusst, trotzdem erahnen wir die potentiellen Möglichkeiten, dass es anders sein könnte. Wenn ich als Betroffene_r in eine Beratungsstelle komme, macht es für mich einen großen Unterschied, ob ich eine Begegnung von Subjekt zu Subjekt habe (intersubjektive Beziehung) oder von Expert_in zu Kranker_m (instrumentelle Beziehung). Es macht einen großen Unterschied, ob die Person mir gegenüber davon überzeugt ist, dass ich im Kontext meiner alltäglichen Lebensführung sinnvoll und begründet handle, oder ob sie davon ausgeht, dass ich gestört bin und somit irrational agiere. Weiters ist es von größter Bedeutung, ob die Person die Prämissen ihres Handelns anhand der Offenlegung ihrer Position und ihrer Interessen mit mir klärt. Somit habe ich potentiell die Möglichkeit, die Handlungsgründe der Person nachzuvollziehen.


4.3 Praxis der Drogenhilfe

Die zugrundeliegende schiefe Machtkonstellation wird durch humanistische Konzepte verschleiert, mithilfe welcher je ich als Expert_in meine „gute“ Position vor mir und anderen rechtfertigen kann. Dies entspricht in der Kritischen Psychologie eindeutig dem Modus der restriktiven Handlungsfähigkeit, da die Absicherung meiner Handlungsfähigkeit auf der Unterdrückung von anderen fußt. Diese Zustimmung zu herrschenden Zuständen und Abläufen wird abgespalten und verdrängt durch die schon erwähnten Denkformen und Instrumente (humanistisch-pathologisierende Grundhaltung, Diagnosen, Abläufe etc.), da ich ja (in der Regel) nicht absichtlich andere unterdrücken will. Durch meine Zustimmung zu den herrschenden Verhältnissen – konkret: an meinem Arbeitsplatz – wird mir ein eingeschränkter und temporärer Zugriff auf die (konkreten) Bedingungen gewährt. Das bedeutet, dass ich die Infrastruktur nutzen (Räume, Materialien, Kommunikationsmittel u.ä.) und bestimmte Entscheidungen treffen kann.

Wenn wir das anhand der Drogenhilfe durchspielen und uns vorstellen, dass ein_e neue_r Klient_in zum Erstgespräch kommt, könnte das so aussehen: Ich konnte mir selber den Termin mit der betreffenden Person vereinbaren; ich kann in der Exploration über die notwendigen Punkte hinaus eigene Felder/Themen erfragen; ich kann entscheiden, ob ich die notwendigen Dokumente gleich oder zu einem späteren Zeitpunkt einhole; ich kann entscheiden, welcher der institutionell möglichen Schritte als nächstes folgt usw. Insgesamt bin ich also zwar handlungsfähig, aber nur solange ich die herrschenden Bedingungen nicht gefährde. Um in diesem Rahmen zu bleiben, ist es sozusagen naheliegend, auch die hilfesuchende Person in diesen Rahmen einzupassen. Optimaler Weise ordnet sich die Person dem suchtmedizinischen bzw. humanistisch-pathologisierenden Dispositiv unter: Sie bekennt sich süchtig; sie erkennt die Expertise der Ärzt_innen/psychosozialen Mitarbeiter_innen an; sie stimmt der Behandlung und ihren Rahmenbedingungen zu etc. Wenn es bei dieser Unterwerfung/Einpassung zu Problemen kommt, ist es die vorgesehene Pflicht der psychosozialen Mitarbeiter_in (und ggf. der medizinischen Mitarbeiter_in), die übertretende Person über die gesetzten Grenzen zu informieren bzw. sie daran zu erinnern und ggf. zu disziplinieren (z.B. durch eine Verwarnung oder ein Hausverbot). Die Übertretungen werden tendenziell ursächlich der Persönlichkeit, Erkrankung oder Störung zugeschrieben. Auch dadurch wird wieder eine Distanzierung von der eigenen Involviertheit in die Struktur als solche erreicht. Das Selbstbild der psychosozialen Mitarbeiter_in (bzw. auch der Mediziner_innen) ist also, dass man sich für eine Randgruppe engagiert, was aufgrund von deren Spezifika (Persönlichkeit, Krankheit, Störung) sehr schwierig sein kann. Aber das wird in Kauf genommen, da es ja ein Dienst am Anderen ist. Durch diese gedankliche Konstruktion ergibt das ganze Drogenhilfesystem einen Sinn und so ist es mir möglich, die Bedingungen als notwendig zu betrachten. Somit kann ich leichter im restriktiven Modus handlungsfähig bleiben.


5. Fazit

Auf einer oberflächlichen Ebene diene „ich“ somit meinen Interessen; auf einer tieferen jedoch verletze ich sie: „Der restriktiven Handlungsfähigkeit liegt der Versuch der Kontrolle über Menschen zugrunde, während die verallgemeinerte Handlungsfähigkeit der Versuch einer gemeinsamen Kontrolle über die Lebensbedingungen ist.“ (Holzkamp 2012: 31) Wenn ich jedoch einen anderen Menschen instrumentalisiere, ist sie_er aus einem Bündnis der gemeinsamen Kontrolle über die Lebensbedingungen ausgeschlossen. Hierin besteht die Selbstfeindschaft der restriktiven Handlungsfähigkeit. Diesen Tatbestand anzuerkennen, wäre der erste Schritt, um sich bewusst ins Verhältnis dazu zu setzen. Was konkret daraus für die Praxis Sozialer Arbeit folgt, müsste in diesem Sinne gemeinsam, also die hier geschilderten Denkformen und Abspaltungsmechanismen reflektierend, erarbeitet werden. Spannende Anregungen bietet hier z.B. der Empowerment-Ansatz in der Drogenhilfe (vgl. Bröring/Schatz 2008) welcher impliziert, dass das Empowerment der Einen mit einem Machtverlust der Anderen einhergeht. Solange wir aber nicht bereit sind, die Machtverhältnisse und unsere Position darin ernsthaft zu thematisieren und zur Disposition zu stellen, können wir uns noch so kritisch fühlen – ohne es wirklich zu sein, da wir unser Handeln doch in den Dienst der herrschenden Verhältnisse stellen.


Verweise
1 Eine kritisch-psychologische Begründungsanalyse kann also immer nur vom jeweils subjektiven Standpunkt aus erfolgen. Eine subjektwissenschaftliche Untersuchung ist daher recht aufwändig, da die Forscherin (also die Kritische Psychologin) nicht alleine ein Subjekt beforscht bzw. interpretiert, deutet etc., sondern dieses zur Mitforscherin wird und die Begründungsanalyse somit gemeinsam erfolgt. Die kritisch-psychologische Forschung ist auch für die Betroffenen selbst aufwändig. Zum einen hinsichtlich methodischer Aspekte (Diskussion, Auseinandersetzung, Verschriftlichung, Analyse, Korrektur usw.) und zum anderen hinsichtlich persönlicher Aspekte: Menschen mit Konsumproblemen (oder anderen) haben eher selten Interesse an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung ihrer selbst, sondern eher konkrete und unmittelbare Hilfestellungen im Sinne. Vandreier (2012: 65ff.) beschreibt diese Schwierigkeit recht anschaulich.
2 Es handelt sich hier nicht um „Zustände“, die erreichbar wären, sondern um ein Analyseinstrument konkreter Situationen und Problemlagen.
3 Die Originalarbeit zum Themenkomplex „süchtig durch labeling“ stammt von Becker (1997).
4 Ich orientiere mich hier an einem gewissermaßen topologischen Modell, das ich in „Funktion und Entstehung der Diagnose ‚Abhängigkeitssyndrom‘ im Kapitalismus aus kritisch-psychologischer Sicht“ (2015) entwickelt habe. Dem entsprechend bildet das „normale“ Funktionieren das Zentrum der gesellschaftlichen Abläufe, während das anormale an die Ränder gedrängt wird.


Literatur

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Amendt, Günter (1984): Sucht Profit Sucht. Frankfurt/Main: Zweitausendeins.

Bader, Kurt/Weber, Klaus (Hg.) (2016): Alltägliche Lebensführung. Texte Kritische Psychologie 6. Hamburg: Argument.

Becker, Howard (1997): Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. Simon & Schuster: New York.

Behr, Hans-Georg (1980): Weltmacht Droge. Das Geschäft mit der Sucht. Wien: Econ.

Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/Main: Fischer.

Bröring, Georg/Schatz, Eberhard (Hg.) (2008): Empowerment and Self-Organisations of Drug Users. Experiences and lessons learnt. Amsterdam: Foundation Regenboog AMOC, Correlation Network.

Cohen, Peter (2009): Die nackte Herrscherin. Die moderne Neurowissenschaft und das Konzept der Abhängigkeit. In: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, 32 (3/4), S. 61–70.

Dilling, Horst/Freyberger, Harald (Hg.) (2012): Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. Bern: Huber.

Eichinger, Ulrike (2012): Einleitung: Kritische Psychologie trifft kritisch(-materialistische) soziale Arbeit. In: Eichinger, Ulrike/Weber, Klaus (Hg.): Soziale Arbeit. Texte Kritische Psychologie 3. Hamburg: Argument, S. 7–14.

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Über den Autor

Mag. Daniel Sanin
mag.danielsanin@gmail.com

Klinischer und Gesundheitspsychologe, langjährige Tätigkeit im Suchthilfebereich, Fort- und Weiterbildungen im Bereich der Kritischen Psychologie.
www.danielsanin.at