soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 22 (2019) / Rubrik "Thema" / Standort Linz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/639/1149.pdf


Charlotte Sweet & Franz Schiermayr:

Was Sucht findet

Eine post-postmoderne Annäherung


1. Einleitung

In einer zunehmend komplexen, post-postmodernen Welt navigieren Individuen oftmals, ohne ein konkretes Ziel anvisieren zu können. Die Eindeutigkeit früherer Epochen scheint abgelöst worden zu sein von Ambiguitäten verschiedenster Art. Technologien sind so anspruchsvoll komplex, dass die Prinzipien, auf denen ihre Funktionalität basiert, kaum erfasst werden können. Kommunikation ist so vielfältig, dass Bedeutungen punktuell und zudem rasant abwechseln, wodurch Kommunizierende intellektuell massiv gefordert sind. Individuelle Lebenskonzepte sind mannigfach möglich, bedingen aber eine Vielzahl an tiefgreifenden Entscheidungen, deren Konsequenzen unberechenbar bleiben.

SystemtheoretikerInnen sprechen vom Navigieren beim Driften (vgl. Simon/Weber 2004). Dieses Driften von einem Lebensfragment zum anderen scheint ein Hauptmerkmal der post-postmodernen Ära zu sein. Anders als in der Postmoderne wird nicht nur dekonstruiert, werden etablierte Narrative nicht nur in Frage gestellt, sondern es herrscht ein Bewusstsein für Bedeutungsvielfalt und Wahlfreiheit bei gleichzeitiger Akzeptanz von intersubjektiven Fiktionen. Darüber hinaus besteht massive Unsicherheit: Wem oder was glauben, wie interpretieren, wie das eigene Selbst einordnen, wo es doch in viele Fragmente zerfällt, sobald eine Entscheidung getroffen werden muss.

Die Neurowissenschaft hat erkannt, dass das menschliche Gehirn Entscheidungen aufgrund größtenteils unbewusster Abwägung vieler verschiedener, oft gegensätzlicher Stimmen in uns selbst trifft. David Eagleman (2010) wies beispielsweise darauf hin, dass die Annahme, ein menschliches Individuum könne frei entscheiden, ob es eine Straftat begehen will oder nicht, eine schlechte Basis für die Gerichtsbarkeit darstellt. Je besser wir eine neurologische oder biologische Grundlage für kriminelles Verhalten verstehen, desto leichter fällt es, dieses Verhalten zu entschuldigen. Da unser Verständnis für die unbewussten Zusammenhänge zwischen Biologie und Verhalten ständig wächst, verringert sich der Anteil dessen, was wir freiem Willen und somit auch der Schuldfähigkeit zuschreiben. Welche Stimme sich im gegebenen Moment im Selbst durchsetzt, unterliegt vielen unbewussten inneren Einflüssen und äußeren Faktoren.

Solche teils gegensätzlich orientierten inneren Stimmen stellen möglicherweise die Grundlage von Bewusstsein dar und bilden die fragwürdige Basis zur Entwicklung von Kohärenz. Rasante Entwicklungen und Veränderungen führen dazu, dass Individuen heute selbst in eigentlich bekannten Lebensbereichen vielfach Neuland betreten müssen. Schon Freud (1919) vermutete, dass es Menschen unheimlich wird, wenn sie sich im Grenzbereich zwischen Bekanntem und Unbekanntem bewegen. Das Überqueren dieses Grenzbereiches stellt Bekanntes in Frage und verursacht durch diese Ambiguität Angst, Beklemmung, tiefe Verunsicherung. Bei Entscheidungen funktioniert die bewusste Stimmenauswahl nicht mehr nach bekannten und erprobten Schemata, vielmehr müssen ständig neue Muster gefunden werden.

Das post-postmoderne Individuum hat also rundum mehr Möglichkeiten, was wiederum bedingt, dass es eine Vielzahl von Entscheidungen trifft, Lebensumstände wechselt, Situationen nicht bewältigt, Unsinnigkeit verstärkt wahrnimmt und akzeptiert, aber dennoch nach seinem individuellen Sinn strebt. Daher sucht ein menschliches Individuum nach Kohärenz, welche es auch in mehrdeutigen Lebenssituationen sinnvoll navigieren lässt.

In diesem Artikel wird erläutert, wie Suchtmittel durch ihre bewusstseinsverändernde Eigenschaft dazu beitragen können, dass Individuen Ambiguität besser tolerieren und hoffen, dass ihre Navigation von Lebensfragment zu Lebensfragment besser gelingt. Wozu werden Suchtmittel eingesetzt im Streben nach Kohärenz? Und wie könnten Beratung und Therapie an ihrer statt die Kohärenzentwicklung und Ambiguitätstoleranz fördern?


2. Zentrale Begrifflichkeiten

Der Kontingenzbegriff stellt in der Systemtheorie eine wesentliche Grundlage für die Beschreibung sozialer Beziehungen dar. Ursprünglich bezeichnete er in der scholastischen Philosophie die Möglichkeit, dass etwas ist oder auch nicht ist (vgl. Luhmann 1984: 184ff.). In der Systemtheorie wird unter Kontingenz verstanden, dass Systeme (und damit auch Menschen) die Möglichkeit haben, prinzipiell überraschend, variabel und unvorhersehbar zu reagieren bzw. zu handeln. Es stehen also sowohl einzelnen Menschen, aber auch ganzen Gesellschaften Kontingenzspielräume zur Verfügung. Allerdings erweitern sich mit der Zunahme von Kontingenz auch die Konfliktpotentiale, wodurch es der Entwicklung von Konfliktlösungsfähigkeiten bedarf. Kontingenz führt also zur Gefahr von Enttäuschung. Damit wird es für Menschen notwendig, sich in der Gestaltung ihres eigenen sozialen Lebens auf Risiken einzulassen (vgl. Willke 2006: 28ff.).

Eugen Bleuler (1911: 266ff.) sprach 1910 erstmalig von Ambivalenz in Hinblick auf die menschliche Psyche und meinte damit zwei sich widersprechende, unverbundene Gefühle, die nebeneinander existieren. Folglich wäre es also möglich, gleichzeitig sowohl positive, wie auch negative Gefühle zu einem Sachverhalt zu erleben. Die aktuelle psychologische Forschung folgt im Wesentlichen dem von Bleuler begründeten Verständnis von Ambivalenz. Dabei stellen die Inkompatibilität verschiedener Gefühle oder Kognitionen und deren gleichzeitiges Auftreten ein zentrales Bestimmungsstück dar. Zusätzlich zeigt sich noch die Bewertung gut/schlecht oder positiv/negativ als ein wesentliches Kriterium von Ambivalenz (vgl. Ziegler 2010: 126f.). Ambivalenz bezieht sich also auf das gleichzeitige Vorhandensein mindestens zweier sich widersprechender, evaluativ inkompatibler Gefühle (vgl. Bleuler 1911: 266ff.).

Unter Ambiguität werden oftmals Vagheit, Unvollständigkeit und Fragmentiertheit verstanden; der Begriff findet ebenfalls Verwendung, wenn von Unstrukturiertheit und Unsicherheit die Rede ist. Liegen widersprüchliche oder inkonsistente Informationen vor oder bestehen Unklarheiten in einer Aussage, lässt sich ebenfalls von Ambiguität sprechen (vgl. Ziegler 2010: 126). In Auseinandersetzung mit den Arbeiten Zygmunt Baumans versucht Matthias Junge (2014) den Unterschied von Ambivalenz und Ambiguität herauszuarbeiten:

„Ambiguität als Vieldeutigkeit ist von Ambivalenz als einer Mehrwertigkeit von Bewertung klar zu unterscheiden. Ambiguität bezieht sich auf ein Klassifikationsproblem, während Ambivalenz durch konkurrierende, das Handeln orientierende Werte und ihre Bewertungen hervorgerufen wird […].“ (Junge 2014: 72)

Kohärenz wird in der Psychologie und Psychiatrie im Zusammenhang mit der Fähigkeit beschrieben, im jeweiligen Kontext konsistent und nachvollziehbar zu denken. Häufiger ist dabei der Begriff der Inkohärenz in Verwendung, welcher vor allem in pathologischen Beschreibungen zu Psychosen oder anderen wahnhaften Störungen Anwendung findet (vgl. Scharfetter 2002: 160ff.). In den Sozialwissenschaften ist der Begriff Kohärenz vor allem durch die Arbeiten von Aaron Antonovsky (1997) geprägt. In seiner Beschreibung des Kohärenzgefühls (sense of coherence – SOC) weist er auf die besondere Bedeutung der Kohärenz als Hauptdeterminante für die Positionierung auf dem Gesundheits-Krankheitskontinuum hin. Antonovsky geht davon aus, dass Menschen ständig mit belastenden Ereignissen und Lebenssituationen konfrontiert werden und diese bewältigt werden müssen. Dazu stehen verschiedenste Widerstandsressourcen zur Verfügung – kulturelle, soziale und materielle Gegebenheiten einer Gesellschaft – wobei die zentral wirksame Kompetenz, welche auch alle anderen Faktoren beeinflusst, das Kohärenzgefühl darstellt (vgl. Antonovsky 1997: 33ff.).


3. Der Übergang zwischen Lebensfragmenten

In der Psychologie spricht man hauptsächlich von Lebensphasen und Lebensübergängen. In diesem Artikel entscheiden wir uns bewusst dafür, den Terminus Lebensfragmente einzuführen. Damit soll nicht nur dem Erleben des Einzelnen in der Post-Postmoderne, sondern auch Erkenntnissen zur Physik der Zeit Rechnung getragen werden. Konkret auf die Physik bezogen heißt das, dass ein Leben nicht als chronologisch fließende Entwicklung begriffen wird, sondern, wie auf der Quantenebene bereits demonstriert, als aneinandergereihte mögliche Ereignisse bzw. granulare Manifestationen von Geschehnissen, deren Abfolge nicht automatisch vorgegeben ist (vgl. Rovelli 2019: 75f.). Für die Individualpsychologie ließe sich daraus ableiten, dass Individuen und ihr Selbst vorübergehende Manifestationen aus einer Amplitude von Wahrscheinlichkeiten sind und dass sie sich auf der Quantenebene ständig reproduzieren. Wenn ihr Bewusstsein dies implizit „weiß“ – und hier könnte die Grenze verschwimmen, die man bisher zwischen bewusst und unbewusst zu ziehen gewohnt war –, dann oszillieren menschliche Individuen zwischen Fragmentation und Kohärenz.

Fragmentation bedeutet in jedem Fall, dass ein Individuum zusammenhängenden Sinn nicht erkennen kann. In der heutigen Welt sind viele traditionell eindeutige Sinnkonzepte unbrauchbar geworden. Präskriptive Moral beispielsweise hat eine starke Tendenz, sich schwer über einen gewissen Kontext hinaus aufrechterhalten zu lassen. Ein Beispiel dafür wäre die Menschenrechtserklärung. Als Produkt demokratischer Revolutionen und zweier Weltkriege braucht sie das Autoritäre als Gegenpol, um klaren Sinn zu ergeben. Laut Artikel 1 sind menschliche Individuen mit Vernunft ausgestattet (vgl. UNO, Art. 1). Implizit wohl deshalb, weil kein anderer ihnen sagen soll, wie sie zu denken haben. Wenn aber diese eine Vernunft als anmaßende Größe ausfällt, dann wird aus Artikel 1 eine sehr mehrdeutige Aussage, die Menschen willkürlich für ihre Zwecke definieren können: Eine Vielzahl von Entscheidungen kann als vernünftig dargestellt werden oder eben nicht. Gibt es aber ein einheitliches Konzept von Vernunft überhaupt? Offensichtlich haben Individuen unterschiedliche Logiken, warum also spricht die Menschenrechtserklärung von einer umfassenden Vernunft?

Die Postmoderne hat bereits eindrücklich illustriert, dass Bedeutung schwer zu fassen ist. Jeder Ausdruck definiert sich einerseits durch Unterscheidung von anderen Konzepten, andererseits durch den ständigen Verweis auf damit verbundene Konzepte. Das Wort Kaffee beispielsweise definiert sich durch Unterscheidung von anderen Heißgetränken (wie etwa Tee) sowie durch Kontextphänomene (To-go-Becher, Milchschaumarten, Wirkungsweisen, soziale Gegebenheiten, in deren Rahmen Kaffee getrunken wird, etc.), sodass eine tatsächliche und eindeutige Bedeutung dieses Wortes nie festzumachen ist. Jacques Derrida kreierte dafür den Begriff différance, mit dem zu fassen versucht wird, wie in der Postmoderne traditionelle Bedeutungs- und Sinnstrukturen aufgeweicht werden (vgl. Derrida 1973: XXIV). Jean-Francois Lyotard (1979) argumentiert, dass postmoderne Individuen nicht mehr an große Narrative glauben und dass sich eine Begrifflichkeit wie Wissen, die sich auf Objektivität gründet, bei näherer Analyse in einem Gewirr von Glaubenssätzen und intersubjektiven Fiktionen scheinbar auflöst.

Die rasante Verbreitung von Informationen, ermöglicht durch neue Technologien, hat dazu beigetragen, dass die Erkenntnisse vieler verschiedener Gruppen und ideologisch unterscheidbarer Ansätze Einzelnen zugänglicher wurden. Da Informationen auf diesem Weg aber zunehmend dekontextualisiert aufgenommen werden, entsteht eine beträchtliche Vielfalt von Interpretationen und Verunsicherung in Bezug auf diese Interpretationen. Post-Ironie ist dort zu bemerken, wo Menschen zahlreiche Inhalte aufnehmen, im vollen Bewusstsein der vielen Narrative, in die diese Informationen eingebettet sind, aber ohne Möglichkeit, die ursprünglichen Narrative mit zu erfassen. Was bleibt, sind der eigene Kontext, die eigene Interpretation und massive Verunsicherung. Wem glauben? Was glauben? Warum nicht wissen? Wozu überhaupt?

Das post-postmoderne Individuum lebt im Bewusstsein dieser Ambiguität, die manchmal individuelle Freiheit und Glück, manchmal aber nur Angst und Zurückschrecken auslöst und damit unheimlich wirkt. Wenn es unheimlich wird, dann empfinden Menschen das als Bedrohung und reagieren mit Panik – sie flüchten, stellen sich tot oder sie kämpfen.


4. Die Bedeutung des Bewusstseins beim Substanzgebrauch in Übergangsprozessen

Das Bewusstsein scheint eine bedeutungsvolle Rolle beim Gebrauch psychoaktiver Substanzen zu spielen. Eben deren bewusstseinsverändernden Wirkungen werden von Konsumierenden als die besondere Attraktion beschrieben. Doch was ist nun das menschliche Bewusstsein und wie lassen sich Funktion und Rolle in der Gestaltung menschlichen Lebens beschreiben? Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen haben sich mit der Beschreibung und Erforschung des Bewusstseins befasst. In der Psychologie werden drei Ebenen des Bewusstseins unterschieden: die grundlegende Ebene des Gewahr-Werdens einer inneren und äußeren Welt, eine Ebene der Spiegelung dessen was uns bewusst ist, und die Ebene des Gewahr-Werdens von uns selbst als reflektierende Individuen (vgl. Zimbardo/Gerrig 2004: 205).

Ciompi (1998: 129) definierte Bewusstsein aus psychiatrischer Sicht folgendermaßen: „Unter Bewusstsein verstehe ich das, was sowohl insgesamt wie in jedem einzelnen Augenblick jeweils gewusst wird.“ Damit konzipiert er Bewusstsein als ein sehr facettenreiches und ständigem Wechsel unterworfenes Phänomen, welches auch Hinweise auf den sozialen Aspekt des Bewusstseins gibt.

Die Neurobiologie wiederum begreift Bewusstsein als Fähigkeit zur Meta-Reflexion, um interne Prozesse und Umweltreaktionen in Bezug zu setzen: „Mit Bewußtsein meinen wir die Fähigkeit, uns unserer eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen, unseres ‚In-der-Welt-Seins‘ gewahr zu werden.“ (Hüther 2011: 115) Blickt man auf die unterschiedlichen Definitionen von Bewusstsein, so liegt der Fokus auf seiner sozialen Funktion, welche erst durch eben dieses Bewusstsein erkannt werden kann. Diese Reflexion von Bezügen oder Beziehungen ist sowohl Funktion von Bewusstsein als auch ausschlaggebend für die Entwicklung dieses Systems. Als Herausforderung in diesem sozialen Bewusstwerdungsprozess wird beschrieben, sich aus einem nahezu paradiesischen Zustand in Einheit mit der Welt herauszulösen und zu einem autonomen, freien und selbständig entscheidendem Ich zu entwickeln, welches die Übergänge zwischen den Lebensfragmenten permanent zu bewältigen hat.

In der modernen Systemtheorie wird dem Bewusstsein ein wesentlicher Stellenwert im Verhältnis zwischen psychischem und sozialem (kommunikativem) System beigemessen. Bemerkenswert sind dabei die Einsichten zur Zeitlichkeit (nicht nur Zeitabhängigkeit) von Bewusstsein. Bewusstsein kann demzufolge nur in der Gegenwart operieren und hat keine Dauer. Es erhält und ersetzt sich fortwährend selbst und dies führt dazu, dass erst durch die Differenz im Nachtrag Erkenntnis entsteht. Auf der sprachlichen Ebene ist dies wiederzuerkennen in Derridas Konzept der différance: auch wenn Derrida eher Sprache als ständiges Verweissystem im Fokus hatte, basiert sein Erkenntniskonzept auf der Unterscheidung. Bennington (2001: 83) beschreibt Derridas Konzept der Bedeutungszuschreibung folgendermaßen: „Jede Spur ist Spur einer Spur. Kein Element ist jemals irgendwo anwesend (auch nicht einfach abwesend): es gibt nichts als Spuren.“

Das Bewusstsein stellt die Basis für die Individualität psychischer Systeme dar, welche sich in einer sozialen Umwelt entwickeln bzw. immer wieder neu definieren (vgl. Luhmann 1984: 354ff.). Wird nun die Zeitorganisation des Bewusstseins realisiert, welches eher quantenphysikalischen Gesetzmäßigkeiten folgt und durch das neurophysiologische System eine Rhythmisierung erfährt, so erhält es eine wesentliche Funktion in der Wahrnehmung und Ordnung von Ereignissen. Da die post-postmoderne Welt zunehmend fragmentiert erscheint und daher zur Fähigkeit der Auswahl herausfordert, ist das Bewusstsein mehr denn je angehalten, fehlende Ordnungen durch Bewusstseinsleistungen zu ersetzen. Es ist also der einzelne Mensch genötigt, eigenständig aus einer gleichzeitig vorliegenden und scheinbar unendlichen Anzahl von Möglichkeiten bzw. Fragmenten zu wählen. Damit ergibt sich die Funktion von Bewusstsein, wie sie schon von Fuchs (2003: 59) beschrieben wurde: „Die Funktion des Bewußtseins ist die Formierung und Inszenierung ordnungsfähiger Zeit.“

Die Systemtheorie beschreibt das Bewusstsein in einigen wesentlichen Operationen als formal identisch mit dem sozialen System. Diese Operationen weisen dieselbe triadische Struktur auf und bedienen sich des Mediums Sprache (vgl. Fuchs 2003: 61ff.).

Die Gestaltung von sozialen Beziehungen stellt eine zentrale Notwendigkeit und Anforderung in der Lebensgestaltung eines jeden Menschen dar. Um mit Menschen in Kontakt zu kommen, ist Bewusstsein erforderlich, welches besonders bedeutungsvoll wird, wenn soziale Strukturen und Normen zunehmend vielfältig oder gar beliebig erscheinen. Die Möglichkeit der Einordnung in vorgegebene Abläufe oder eben das adoleszente Abgrenzen von Tradiertem löst sich auf, wenn sich das Individuum mit einer fragmentierten Realität konfrontiert sieht. Es entsteht die Anforderung, immer wieder neu die vorherrschende Komplexität wahrzunehmen und Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit des Bewusstseins, zu beobachten und zu unterscheiden, bietet den Einzelnen Wahlmöglichkeiten, sich entweder mit sozialen Zumutungen zu arrangieren oder eben diese Akzeptanz zu verweigern. „Man könnte Bewusstsein vor diesem Hintergrund als Begleitmusik kritischer Ordnungsübergänge verstehen“ (Haken/Schiepek 2010: 259).

Die Wahl der Art des Umganges mit sozialen Zumutungen oder Herausforderungen kann offen oder verdeckt geschehen. Damit besteht die Möglichkeit, sich sozial konform zu verhalten, oder die Grenzen der Konformität zu überschreiten und die Freiheitsgrade dieser möglichen Devianz zu genießen. Diese Grenzüberschreitungen müssen nicht zwingend absichtsvoll geschehen, sondern können auch darin begründet sein, dass die Fähigkeit zur momentan gültigen sozialen Konformität in bestimmten Lebensphasen nicht erreichbar erscheint. Um diese Spannungen zu bewältigen, kann die Veränderung von Bewusstseinszuständen (und nicht die Veränderung der Kommunikation als strukturell gekoppeltes System) eine sinnerzeugende Lösungsvariante sein. Die Bewusstseinsveränderung lässt sich möglicherweise durch den Konsum psychoaktiver Substanzen realisieren (vgl. Schiermayr 2015: 21). Mittels einer solche Veränderung des Bewusstseins kann einerseits die scheinbare Auswahl und Ankoppelung an ein angemessenes Lebensfragment erreichbar erscheinen, oder andererseits die Illusion erzeugt werden, auf die Auswahl eines Fragmentes und die damit einhergehende Verantwortungsübernahme verzichten zu können.


4.1 Kontingenz als Grundlage einer gelingenden Lebensgestaltung

Die Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen und Lebensentwürfen sind in einer fortschreitenden Globalisierung zunehmend unbegrenzt. Selbst die beruflichen Entwürfe von Menschen erscheinen unabhängiger von Bildung, Leistung oder Training, wie sich anhand der Entwicklung von Castingshows oder der Übernahme staatstragender Funktionen von Personen, die traditionelle Formalanforderungen nicht mehr erfüllen, erkennen lässt.

Der Begriff Kontingenz meint dabei, dass Menschen bei der Gestaltung sozialer Beziehungen grundsätzlich die Möglichkeit haben, überraschend, unvorhersehbar oder variabel zu reagieren oder zu handeln. Die Wahlmöglichkeit bedeutet jedoch, dass auch anders ausgewählt oder reagiert werden könnte – sie generiert also Ambiguität hinsichtlich der Entscheidung. Um der daraus entstehenden Unsicherheit zu begegnen, haben Menschen im Lauf der Zeit eine große Anzahl von Verfahren entwickelt, mittels derer die Kontingenz von Handlungsalternativen geordnet bzw. beschränket werden soll. Normen, Rollen, Institutionen oder verschiedene Arten von Verträgen sollen dazu dienen, Unsicherheiten zu verringern und einen bestimmten Erwartungshorizont zu etablieren. Gleichzeitig postuliert eine postmoderne Gesellschaft die Auflösung von Sicherheiten und begreift die Wirklichkeit als lediglich virtuelle Darstellung (vgl. Willke 2006: 28ff.). Allerdings scheint das Streben nach gestaltender und fragmentierter Ordnung aus dem Wunsch zu entstehen, sich von Ambivalenz zu distanzieren – führt aber letztlich zu einem Mehr an Ambivalenz. Viele heutige Schwierigkeiten in Verwaltungssystemen scheinen in erster Linie aus Problemen zu resultieren, welche aus vergangenen Problemlösungsaktivitäten hervorgegangen sind. Bestimmte Verwaltungslösungen erzeugen mehr Verwaltung. Es scheint, als würden durch scheinbare Problemlösungen neue Chaos-Gebiete geschaffen, die Relativität der Autonomie unterdrückt und somit Ambivalenz bzw. Kontingenz vermehrt werden (vgl. Bauman 2005: 31f.). Beispielsweise führte die Schulpflicht dazu, dass SchülerInnen, welche mittels der „normierten“ Bildungsgestaltung nicht erreichbar waren, in speziellen Institutionen betreut werden mussten. Dies zog wiederum nach sich, dass Diskriminierung und Ausgrenzung entgegengewirkt werden musste und heute umfangreiche Inklusionsdebatten geführt werden.

Kontingenz bedeutet für ein System Freiheit in den jeweils eigenen Möglichkeiten und führt zu Reaktions- und Verhaltensspielräumen. Allerdings steigt damit auch das Risiko für Enttäuschung und Ambiguität. Dies fordert Fähigkeiten zur Bewältigung von Unsicherheiten und Risiken (vgl. Schiermayr 2015: 29). Um in einer post-postmodernen Zeit mit der angelegten Fragmentierung zu bestehen, scheint es offenbar notwendig zu sein, einen freundschaftlichen Umgang mit Kontingenz zu pflegen. Bauman (2005: 387) hält dazu fest: „Kontingenz bedarf der Freundschaft als einer Alternative zur Irrenanstalt […].“

In der aktuellen post-postmodernen Gesellschaft scheint nun die Steuerbarkeit von Lebensgestaltung aufgrund der zunehmenden technischen Möglichkeiten und der Vernetzung von digitalen Systemen vermehrt von Organisationen oder Unternehmen übernommen worden zu sein. Die individuelle Einflussnahme auf persönliche Entwürfe und Entwicklungen verringert sich und wird durch vorgegebene oder errechnete Auswahlmöglichkeiten determiniert. Die enorme Komplexität wird von Organisationen vorselektiert und die Pluralität von Möglichkeiten steht den Einzelnen nicht mehr zur Verfügung. Erfassen allerdings Menschen dieses hohe Maß an Komplexität in ihrer Umwelt, so verringert sich ihre Erwartungssicherheit in sozialen Situationen: „Überleben in der Welt der Kontingenz und Diversität ist nur möglich, wenn jede Differenz die andere Differenz als notwendige Bedingung der Bewahrung ihrer eigenen anerkennt“ (Baumann 2005: 404). Ein hohes Maß an subjektiv erlebter Kohärenz stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Bewältigung dieses Stresserlebens durch Kontingenz dar.


4.2 Gestaltung von Kohärenz und Sinnzuschreibung

Kohärenz stellt im psychologischen und psychiatrischen Sinn die Fähigkeit dar, unter Berücksichtigung des Kontextes konsistent und nachvollziehbar zu denken (vgl. Scharfetter 2002: 160ff.). Das Kohärenzgefühl zeigt sich aus der Sicht der Sozialwissenschaften dabei als der zentral wirksame Widerstandsfaktor gegenüber herausfordernden und belastenden Lebenssituationen (vgl. Antonovsky 1997: 33ff.). Antonovsky führt dazu aus:

„Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, daß
  1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
  2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
  3. diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“ (Antonovsky 1997: 36)

Es gilt also für eine gelingende Lebensbewältigung ein Kohärenzgefühl zu entwickeln. Neben Verstehbarkeit und Handhabbarkeit spielt die Bedeutsamkeit, also die Sinnhaftigkeit des Erlebens und Handelns eine wesentliche Rolle. Wie wird Sinn nun in einer post-postmodernen Gesellschaft entwickelt? Um Sinn zu generieren ist es für die einzelnen Menschen notwendig, zu entscheiden. Sinn beinhaltet „Selektionszwang“ (Luhmann 2006: 236). Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass diese Selektion beim Menschen schon im Vorhinein stattfindet, also die Lebensgestaltung einem gewählten Sinn folgt.

Wie gestalten sich allerdings die Anforderungen, wenn sich Sinn erst in der Folge von Ereignissen oder eben Übergängen zuschreiben lässt? Das Individuum folgt nicht mehr vorgefassten oder gesellschaftlich vorgegebenen Plänen, sondern wählt aus, ohne sich sicher zu sein – und Sicherheit in der Nachbetrachtung, der Sinnzuschreibung, einzuführen. Dies erscheint insbesondere in einer Übergangssituation, welche ohnehin als verunsichernd und desorientierend beschrieben wird, ein hohes Risiko darzustellen. Jürgen Habermas (1998: 126f.) beschreibt diese Entwicklung, welche mit einer Zunahme an Kontingenz einhergeht, als

„Desintegration haltgebender, im Rückblick autoritärer Abhängigkeiten, die Freisetzung aus gleichermaßen orientierenden und schützenden wie präjudizierenden und gefangen nehmenden Verhältnissen. Kurzum, die Entbindung aus einer stärker integrierten Lebenswelt entläßt die Einzelnen in die Ambivalenz wachsender Optionsspielräume. Sie öffnet ihnen die Augen und erhöht zugleich das Risiko, Fehler zu machen […].“

In einer flexiblen und zunehmend unberechenbaren Welt, in der alle Grenzen überschritten und gesellschaftliche und institutionelle Strukturen demoliert werden, erhält Kohärenz eine besondere Bedeutung für die individuelle Lebensgestaltung. Strukturen verändern sich hin zu Netzwerken, welche flexibler und weniger schwerfällig sind. Flüchtige Verbindungen erhalten Vorrang gegenüber starken und langfristigen Formen. Dieses Hinnehmen von Fragmentierung sowie der damit einhergehende Verlust von verlässlichen Deutungen und die Unlesbarkeit von Geschehnissen entziehen scheinbar fixen Selbstbeschreibungen den Boden. Auf dieser Basis lässt sich Lebenskohärenz wohl kaum mehr gewinnen (vgl. Sennet 1998: 28ff.).

Die Anforderung, Lebenskohärenz zu entwickeln, war in der Postmoderne also geprägt von der Notwendigkeit der Selbstorganisation und einem Aushandeln von möglichen sinnhaften Konstruktionen. Es herrschte die Idee vor, dass jede Person durch den Zugewinn individueller Gestaltungs- und Partizipationsmöglichkeiten Sinn und damit Kohärenz in verschiedenster Art und Weise gestalten kann (vgl. Keupp 2001: 48ff.). In der aktuellen gesellschaftlichen Situation scheinen allerdings Sinnzuschreibungen nicht ausschließlich individuell konstruierbar, sondern sie realisieren sich zunehmend in Abhängigkeit von Ausstattungselementen. Die Entwicklung und der Einsatz der sogenannten Genschere (CRISP-R als molekularbiologische Methode) zeigt beispielsweise, dass die vorgegebene „Ausstattung“ Einzelner das Ziel von Veränderungs- oder Adaptierungswünschen (vielleicht sogar Optimierungswünschen) ist. Es ist also davon auszugehen, dass zwar eine nahezu unbegrenzte Anzahl von Fragmenten zur Verfügung steht, dass allerdings nicht für jedes Individuum alle diese Möglichkeiten wählbar (aktualisierbar) sind.

Auch die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaft deuten in diese Richtung. Es zeigt sich, dass unsere Entscheidungen und unser Verhalten wesentlich weniger das Resultat unserer bewussten Kognitionsvorgänge sind als früher angenommen. Vielmehr sind selbst sehr komplexe individuelle Glaubenssätze das Resultat einer Vielzahl unbewusster und genetisch prädisponierter Vorgänge im Gehirn, die bereits angelegt werden, bevor wir zu rigorosem analytischem Denken fähig sind (vgl. Critchlow 2019: 131f.). Auch diese Erkenntnisse sind für unser bewusstes Denken herausfordernd, welches gerne vom Speziellen verallgemeinert und Komplexität reduziert, um Kohärenz zu erzielen. Wir können unseren Narrativen – unserem Bewusstsein – nur auf individueller Basis trauen. Wie sollen Einzelne in ihrer sozialen Welt mit ihrer höchstindividuellen Realität umgehen?


4.3 Suchtmittelkonsum als Kohärenzvermittlung

Bewusstseinsverändernde Substanzen bieten die Möglichkeit, die Herausforderung bei der Gestaltung von Kohärenz in verschiedenster Art und Weise zu substituieren. Wird in Übergangssituationen insbesondere Ambiguitätstoleranz gefordert und ein wesentlicher Teil von Kohärenz – die Sinnzuschreibung – aufgeschoben, so kann dieser Zustand als unerträglich wahrgenommen werden. Dies trifft besonders Personengruppen, welche wenig Erfahrung mit der eigenständigen Bewältigung solcher Statusübergänge haben. Kinder erfahren idealerweise intensive Begleitung von vertrauten Personen in anstehenden Übergangsphasen. Diese „assoziierte Hoffnung“, welche von Personen mit Erfahrung in Übergängen vermittelt wird, lässt die aufgespannte Ambiguität bewältigbar erscheinen. Sind allerdings Jugendliche damit konfrontiert, so führen Entwicklungsaufgaben (z.B. Ablösung von der Herkunftsfamilie) zu einer Distanzierung von den BegleiterInnen. Ebenso trifft dies beispielsweise auf Menschen zu, deren Übergang durch eine Trennung ausgelöst wurde und damit eben besonders vertraute Personen in der Bewältigung nicht mehr zur Verfügung stehen.

Suchtmittel können auf verschiedene Arten willkommene Begleiter in einer Übergangssituation werden. Einerseits können Menschen, die sich durch ständige Eindrücke und Wahrnehmungen überfordert fühlen, weil ihnen die Ausdifferenzierung von Mustern nicht gelingt, durch sogenannte Downer (z.B. Opiate, Benzodiazepine) einen Aufschub ihres Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses erwirken. Die Eindrücke werden gedämpft, damit das Filtern und Ordnen leichter möglich ist. Im ungünstigsten Fall wird so stark gedämpft, dass kein Ordnen mehr stattfinden kann bzw. über einen so langen Zeitraum gedämpft, dass die Sinnentwicklung zum Stillstand kommt.

Andererseits können Menschen, die das Gefühl haben, dass ihnen wesentliche Puzzlestücke der Wirklichkeit fehlen, um Kohärenz zu entwickeln, ihre Eindrucksfähigkeit durch sogenannte Upper (z.B. Kokain, Amphetamine) heben. Das partielle, selektive oder generelle Stimulieren der menschlichen Neurologie kann zu einer Beschleunigung des Erkennens eingesetzt werden. Im negativen Extremfall überfluten den User so viele Wahrnehmungen, dass Kohärenzbildung nicht mehr möglich wird.

Eine dritte Gruppe von Menschen sehnt sich nach einer alternativen Lösung zu den für sie verfügbaren Fragmenten und den Lösungsmustern, die diese scheinbar anbieten. Halluzinogene Substanzen (z.B. LSD, Psilocybin) erlauben es Usern möglicherweise, über ihre kohärenten Sinneswahrnehmungen hinaus Erfahrungen auf ungeordneter Ebene zu machen, die ihnen Alternativen bieten könnten. Im Extremfall kann sich dadurch allerdings ihre Kohärenz zur Gänze auflösen.

Suchtmittel bieten somit, ungeachtet der zur Verfügung stehenden Ausstattung der Betroffenen, eine hilfreiche Begleitungsfunktion zur Kohärenzentwicklung. Allerdings ist diese lediglich auf einer fiktionalen Ebene wirksam und führt eben nicht zu einem Fortschreiten im Übergang. Damit entsteht auch keine Sinnzuschreibung, da diese, wie oben dargestellt, erst in der Nachbetrachtung der Ereignisse entwickelt werden kann. Kohärenzentwicklung mit Hilfe psychoaktiver Substanzen nimmt also Bedeutungszuschreibung vorweg, ohne den Übergang auch zu realisieren. Im Abklingen der Substanzwirkung löst sich die illusionäre Kohärenz auf und der anstehende Übergang tritt wieder zu Tage. Diese sich wiederholende Begleitfunktion von Suchtmitteln kann zu einem scheinbar stabilen Muster zur Gestaltung von Kohärenz werden, welche letztendlich als Abhängigkeit zu identifizieren ist.


5. Erkenntnisse für die Suchtberatung und -therapie in der Post-Postmoderne

Wird nun die Substanzabhängigkeit als Suche nach Begleitung im unheimlich anmutenden Übergang von Lebensfragment zu Lebensfragment begriffen, ergibt sich daraus für die beratende Praxis folgende Haltung: Konsumierende benutzen Suchtmittel, um auf dem einen oder anderen Weg in der Entwicklung einer Kohärenz Unterstützung zu erhalten. In weiterer Folge entgleitet oft die Kontrolle über das Suchtmittel im Sinne eines erstarrten Kreislaufes von Konsum und Enttäuschung und die Kohärenzherstellung gelingt auch auf diesem Weg nicht. Das ursprüngliche Problem bleibt dabei die Bewältigung des Übergangs und dadurch die Herstellung eines kohärenten Sinnkonstrukts für das eigene Selbst und die eigene Lebensgestaltung.

In der Praxis ist es daher notwendig, gemeinsam mit den Betroffenen die Qualität und das Ausmaß des Kontingenzerlebens zu ergründen, die zum Suchtmittelkonsum anregen. In einer post-postmodernen sozialen Welt stellen daher ausschließlich lösungsorientierte Herangehensweisen ohne umfangreiche Thematisierung auf die vielfältigen Ambivalenzen eine neuerliche überhastete Problemlösung dar, welche wiederum zu einem Anwachsen von Kontingenz beiträgt. Es sind vielmehr Methoden der beraterischen und psychotherapeutischen Praxis nötig, welche die Suchenden anregen, sich ihre eigenen Erzählformen der Wirklichkeit aktiv und bewusst vor Augen zu führen. Dabei soll es gelingen können, das eigene fragmentarische Erleben auszubreiten wie ein Mosaik, um dann die Kohärenzmöglichkeiten auszuloten, die dabei erkannt werden. Diese Begleitung in der Vielfalt der Fragmente, sozusagen ein Mäandern auf der Ebene der Ambivalenz, erfordert von professioneller Seite einen tragfähigen Bezug zu den Betroffenen. Hier wollen wir zusätzlich zum Begriff des Lebensfragments eine neue Begrifflichkeit für die therapeutische Beziehung und Methodik vorschlagen, nämlich die der „bezogenen Zuversicht“. Diese Haltung würde Ambivalenz und Ambiguität als integralen Teil der therapeutischen Beziehung anerkennen. Anstatt lösungsorientiert von vornherein begrenzend zu wirken, lädt eine zuversichtliche Haltung ein, Probleme eigenständig und vertrauensvoll zu betrachten.

Sobald man den Flickenteppich der eigenen Realität mit seinen möglichen Mustern sichtbar gemacht hat, lassen sich Fragmente verhandeln, die noch nicht integriert wurden, aber auch nicht ignoriert werden können: Auf welche Weise könnten sie Platz finden? Wie müssten die eigenen großen und kleinen Erzählungen sich verändern? Dieser Prozess der Veränderung erfolgt nicht in großen Schritten, sondern stellt eine „Anregung von Minimalkontingenzen“ (Schiermayr 2015: 44) dar. Ziel ist dabei nicht die Auflösung von kontingentem Erleben, sondern die Befähigung, trotz Erwartungsunsicherheit Kohärenz zu entwickeln.

Beraterische oder therapeutische Begleitung bedeutet in diesem Zusammenhang Verhandlungsmediation mit dem Selbst der Suchenden. Sie sind im Konflikt mit ihrer Erzählung, wodurch die Aktualisierung einer anderen Seite dieser Narration nicht zugelassen werden kann. Möglicherweise ist es daher nötig einzuladen, auf die bisherigen Erzählformen zu verzichten bzw. diese sogar zu ignorieren, um bisher ausgelassenen Mustern Platz zu schaffen und diese anzuregen. Dies fußt keineswegs auf der Vorstellung, dass es eine übergeordnete Bedeutung, einen übergeordneten Sinn für jeden Menschen geben könnte, sondern dass es die Möglichkeit gibt, mit der jeweils individuellen Ausstattung passende Fragmente im Kontext zu wählen. Wenn beispielsweise eine junge Frau, welche seit 12 Jahren eher dämpfende und angstunterdrückende Substanzen konsumiert, dies nun verändern möchte, wäre es wohl wenig hilfreich, lösungsorientiert das gewünschte Ziel zu imaginieren und an dessen Erreichung zu arbeiten. Vielmehr gilt es, die aufrechterhaltene Selbsterzählung anzuhören und zu würdigen sowie die versäumten Möglichkeiten im bisherigen Leben zu betrauern. Dieses Erleben und Akzeptieren von Begrenzungen und deren Betrachtung stellt eine Grundlage für die Anregung alternativer Narrationen dar. Die damit einhergehende Kommunikation über die Selbsterzählung und deren Akzeptanz kann dann ein Erstaunen über den bisher gelebten Sinn auslösen. Dieses wiederum lädt dazu ein, andere Selbsterzählformen zu aktualisieren. Anders ausgedrückt versucht man in der Beratung, die Ideologien und Entwicklungsverläufe des eigenen Handelns sichtbar zu machen. Teils werden dadurch die selbst gewählten Begrenzungen besser begreiflich, teils gelingt es, alternative ideologische Ausrichtungen als Lösungsmöglichkeiten zu ergreifen – Kohärenz kann somit wieder entstehen.

Gelingende Suchtbehandlung könnte ihren Fokus also vermehrt auf die Kohärenzentwicklung des Individuums legen. Die Individuen einer neuen post-postmodernen Epoche könnten davon profitieren, dass der Gebrauch und Missbrauch von psychoaktiven Substanzen auch inhaltlich-narrativ interpretiert und in seiner Bedeutsamkeit gewürdigt wird. Anders als zuvor verlangt die Post-Postmoderne Einzelnen einen stetigen, sehr komplexen Auswahlprozess ab. Dabei ist es für eine erfolgreiche Kohärenzentwicklung wichtig, dass die Illusion der völligen Wahlfreiheit sinnvoll verhandelt wird, da sie sonst sehr frustrierend und behindernd wirkt. Narrative, die Grundbausteine der individuellen Realität, bedeuten für Einzelne nach wie vor eine Begrenzung, ob nun bewusst selbst gewählt, unbewusst akzeptiert oder von außen herangetragen. Das Bewusstmachen steuernder Narrative und Glaubenssätze kann dazu beitragen, dass eine fragmentierte Erzählung zum individuellen Selbst wieder einen neuen Rahmen erhält und einen neuen Sinnzusammenhang erschließen lässt.


Literatur

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Über die AutorInnen

Charlotte Sweet MA, MA
charlotte.sweet@fh-linz.at

Kulturwissenschaftlerin, Linguistin, hauptberuflich Lehrende an der Fachhochschule Oberösterreich, Studiengang Soziale Arbeit in Linz.

Franz Schiermayr, MSc
franz.schiermayr@fh-linz.at

Sozialarbeiter, Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Erlebnispädagoge, hauptberuflich Lehrender an der Fachhochschule Oberösterreich, Studiengang Soziale Arbeit in Linz. Seit 1994 in unterschiedlichem Ausmaß in der ambulanten Suchtberatung und -therapie tätig.