soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 22 (2019) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/642/1153.pdf


Heimo Neumaier:

Lebenslagendiagnostik als Evaluierungsinstrument der Sozialpolitik

§10-Bezugssperren im Fokus: Ein Vorschlag zur Ausübung kritischer Sozialer Arbeit


1. Einleitung: Methodologie, Einsatz und Zukunft eines neuen Werkzeugs?

Im vorliegenden Artikel werden Auswirkungen eines makropolitischen Geschehens, welches praktizierende Sozialarbeiter*innen vor allem in Form von Gesetzen zu beachten haben, mit Hilfe der Lebenslagendiagnostik (IC4) nach Pantuček-Eisenbacher und Grigori (2016) auf der Ebene der Klient*innenlebenswelten dargestellt. Damit soll die Evaluierung von einzelnen Sozialgesetzen ermöglicht werden.

Im Rahmen meiner Bachelorarbeit habe ich die steigenden §10-Bezugssperren gemäß Arbeitslosenversicherungsgesetz in der Steiermark auf mehreren Lebensweltebenen analysiert und deren größtenteils negativen Auswirkungen auf die Klient*innensysteme anhand Peter Pantučeks 17 Dimensionen der IC4 veranschaulicht (vgl. Neumaier 2018).1 Dabei wurden vier durch die steierische Delogierungsprävention vermittelte betroffene Personen interviewt. Der Zustand ihrer Lebenswelten wurde jeweils vor und nach der Sperre qualitativ und quantitativ verglichen. In Anschluss an die Erläuterung der Messmethode und die Darstellung der Ergebnisse werden die Potentiale dieser Vorgehensweise dargelegt, welche sich eindeutig gegen exklusionsverwaltende Tendenzen modernisierter Sozialer Arbeit richtet. Danach wird eine kurze Analyse der österreichischen Sozialpolitik präsentiert. Die Studie und der vorliegende Artikel wurden zur Zeit der schwarz-blauen Bundesregierung (2017–2019) verfasst. Daher wurde auch deren Regierungsprogramm als Analysegegenstand ausgewählt.

Aus der dargestellten Analyse lassen sich in weiterer Folge Empfehlungen für eine zukünftige Verwendung der Methode ableiten. Anschließend werden die Zusammenhänge zwischen der Etablierung kritischer, offensiver und politischer Sozialer Arbeit und ihrer Aufgabe, sich in politischen Debatten zu Einsparungen im Bereich der Mindestsicherung bzw. einer zuletzt angestrebten Abschaffung der Notstandshilfe einzubringen, erläutert. Es wird gezeigt, inwiefern eine Lebenslagendiagnostik als Evaluierungsinstrument dabei dienlich sein könnte. Zuletzt wird in Anlehnung an die Ergebnisse der Bachelorarbeit versucht anzuregen, wie man durch Ergebnisse von Studien politische Rahmenbedingungen – zugunsten der Klient*innensysteme von Sozialer Arbeit – verändern könnte.


2. §10-Bezugssperren: (Befristete) Kündigung aus dem Arbeitslosenversicherungssystem

Eine §10-Bezugssperre bedingt einen zuerst sechswöchigen Verlust des Arbeitslosengeldes für eine als arbeitslos gemeldete Personen. Bei Sperrgründen unterscheidet die Rechtsprechung zwischen (Ver-)Weigerung und Vereitelung einer Beschäftigungsaufnahme. Beispiele dafür sind unentschuldigtes Fernbleiben von einem durch das AMS vermittelten Bewerbungsgespräch (Verweigerung) oder die Angabe von >>arbeitsmarktfeindlichen Präferenzen<<,2 wie dem Wunsch der Nichtausübung von Wochenendarbeit in der Gastronomie (Vereitelung). Als Folge eines durch das AMS so eingeschätzten Verhaltens erfolgt mittels ausgestelltem Bescheid die Bezugseinstellung (vgl. Julcher 2016; Sdoutz/Zechner 2018). Seit September 2016 ist in der Steiermark die Situation für die betroffenen Personen äußerst prekär, da das steirische Mindestsicherungsgesetz diesen Bezugsverlust nur mittels 25-prozentigem Wohnaufwand (215,76 Euro) ausgleicht. Im Jahr 2018 betraf diese sozialpolitische Intervention 4.271 Personen/Fälle in der Steiermark (österreichweit: 31.393),3 welche zur Alltagsbewältigung nun im schlimmsten Fall 0 bis 215 Euro monatlich zu Verfügung hatten (vgl. AMS 2019; Neumaier 2018).

Die Entscheidung, diese Studie durchzuführen, wurde in der sozialarbeiterischen Praxis in der Delogierungsprävention getroffen. Auslöser war eine Klientin, welche aufgrund zweier zeitlich hintereinander auftretender §10-Bezugssperren (14 Wochen4), enorm hohe Mietrückstände bewältigen musste und mit einer biopsychosozialen Notlage samt drohender Wohnungslosigkeit konfrontiert war. Bedingt wurde diese individuelle Notlage im Klient*innensystem durch makrostrukturelle sozialpolitische Entscheidungen in Form von Gesetzen wie dem Arbeitslosenversicherungsgesetz (AIVG), dem Arbeitsmarktförderungsgesetz (AMFG), dem Steiermärkischen Mindestsicherungsgesetz (StMSG) und dem (Steiermärkischen) Sozialhilfegesetz (SHG). Das Ziel der Studie ist, die Auswirkungen dieser durch das AMS exekutierten §10-Sperren auf mehreren Lebensweltebenen analysieren und veranschaulichen zu können.


2.1 Aufbau der Studie: Methodologische Vorgehensweise, Fallzugang, Fallauswahl und Interviewdurchführung

Um sozialpolitische Interventionen – welche in der Sozialarbeitspraxis in der Regel als Gesetze auftreten – und deren Auswirkungen auf die betroffenen Individuen messen zu können, wurde die Lebenslagendiagnostik nach Pantuček-Eisenbacher (2012) verwendet. Aus der IC4 wurde der §10-Sperrkoeffizient entwickelt, durch den die betroffenen Lebenslagen jeweils vor und nach der Sperre erfasst werden konnten. Mit diesem Messinstrument kann in qualitativen Interviewverläufen auch quantitatives Zahlenmaterial generiert werden, welches zwei unterschiedlichen Messzeitpunkten (Lebenslagen vor und nach der Bezugssperre) zuzuordnen ist. Dies wurde in vier Interviewphasen durchgeführt: Anfangsphase (Begrüßung und Erklärung der Methode/Vorgehensweise), Lebenslage vor der Sperre (Betroffenensituation mit voller Arbeitslosengeldbezugshöhe), Lebenslage nach der Sperre (Betroffenensituation nach mehrwöchigem Bezugsverlust), externer Gesprächsteil (sozialarbeiterischer Handlungsspielraum im jeweiligen Fall und Verabschiedung).

Der Fallzugang wurde durch die steirische Delogierungsprävention hergestellt. Aus rund zehn Interviewpartner*innenvorschlägen wurden vier Personen (Herr X, Herr Y, Herr Z, Herr W) ausgewählt und Interviewtermine vereinbart. Im Interview wurden dann die möglichen Veränderungen der Lebenslagen anhand der 17 Dimensionen nach Pantuček-Eisenbacher exploriert: Rechtsstatus, Arbeitsmarkt, Sozialversicherung, Geldverkehr, Mobilität, Bildungswesen, Medizinische Versorgung, Medien, Adressierbarkeit, Wohnen, Güter des Alltags, Sicherheit, Lebensweltlicher Support, Gesundheit, Kompetenzen, Sorgepflichten, Funktionsniveau. Die angestrebte größtmögliche Werturteilsfreiheit wurde anhand von Erhebungsbögen (§10-Sperrkoeffizient (V), §10-Sperrkoeffizient (N)) und standardisierten Leitfadenfragen versucht zu erreichen. Die zeitliche Spanne vom Fallzugang bis zu den vier Interviewdurchführungen dauerte rund sechs Wochen. Die Gesamtinterviewdauer betrug pro Person rund zwei Stunden. Der durchschnittliche Erhebungsteil (Sperrkoeffizient (V), Sperrkoeffizient (N)) dauerte durchschnittlich eine Stunde und wurde transkribiert.

Nachfolgend ist ein Ausschnitt des angefertigten (Hilfs-)Instrument abgebildet, mittels dessen die Strukturierung und Generalisierbarkeit der Interviewverläufe gewährleistet werden sollte:

Abbildung 1
Abbildung 1: Auszug aus dem 14-seitigen Erhebungsbogen: Niveau der Existenzsicherung nach der Sperre (Neumaier 2018: 170).


Neben den Stärken der Methode, welche im folgenden Artikel genau beschrieben werden, gilt es auch, erkannte Schwächen zu erwähnen, welche einen Handlungsbedarf in der Weiterentwicklung nach sich ziehen. Verständlichkeitsprobleme und Sprachbarrieren aufgrund der Komplexität der Methode, fehlende Objektivität seitens der Interviewpartner aufgrund existenzbedrohender Folgewirkungen des Sozialgesetzes und lange durchzuhaltende Konzentration, welche der Ganzheitlichkeit des Erfassungsbereichs der Lebenslagendiagnostik geschuldet ist, verzerrten die Interviewergebnisse. Das Messinstrument ist also relativ hochschwellig (Sprachkompetenzen und erhöhte Reflexionsbereitschaft seitens der Klient*innensysteme sind dabei erforderlich) und benötigt in den richtigen Momenten ein >>Einschreiten des Forschers<<, um Neutralität in großen Zügen gewährleisten zu können. Dabei gilt es auch eine – durch die Sozialarbeitspraxis entstandene – gewisse Voreingenommenheit des Forschers im Erhebungsprozess zu erwähnen. Diese Voreingenommenheit wurde in immer wiederkehrenden Gesprächen mit Bachelorarbeitsarbeitsbetreuer(n), Lehrenden und Studierenden versucht offenzulegen, um dadurch größtmögliche Objektivität gewährleisten zu können.

Die Tatsache, dass die Einzelinterviews jeweils an einem anstatt an zwei Interviewterminen durchgeführt wurden, brachte eine Erleichterung bezüglich des Fallzugangs und dem Aufwand der Studie. Dies beeinflusste jedoch auch die Aussagekraft der Messergebnisse, da die betroffenen Personen sich an die Situation vor der Sperre >>nur zurückerinnert<< haben (vgl. Neumaier 2018).


2.2 IC4 und der §10-Sperrkoeffizient: Erklärung der Messmethode anhand der Dimension Geldverkehr

Für den Versuch, den Übergang vom Arbeitslosengeldbezug in eine sechswöchige Bezugssperre zu analysieren, sowie die Betroffenensituationen vor und nach der Bezugssperre vergleichen zu können, wurde mit Hilfe des Inklusionscharts (Lebensweltdiagnostik – IC4) der §10-Sperrkoeffizient entwickelt. Die drei Achsen (Inklusion in Funktionssysteme, Niveau der Existenzsicherung, Funktionsfähigkeit) und die 17 Dimensionen nach Pantuček-Eisenbacher wurden in den Betroffeneninterviews jeweils vor und nach der Sperre gegenübergestellt. Potentiell entstehende Unterschiede waren das Hauptaugenmerk der Einzelfallinterviews (vgl. Pantuček 2012; Pantuček/Grigori 2016; Neumaier 2018).

Nachfolgend wird der §10-Sperrkoeffizient grafisch dargestellt, um die Vorgehensweise des Autors im Forschungsprozess zu verdeutlichen:

Abbildung 2
Abbildung 2: Grafische Darstellung des §10-Sperrkoeffizienten (Neumaier 2018: 41).


Anhand der Dimension Geldverkehr wird versucht, die Vorgehensweise genauer zu veranschaulichen. Die in der Achse „Inklusion in Funktionssysteme“ verwendete Likertskala (4 = voll inkludiert; 3 = weitgehend inkludiert; 2 = mangelhaft inkludiert; 1 = exkludiert) zeigt in jedem Fall den Grad der Inklusion an. Allgemein beschreibt diese von Pantuček-Eisenbacher operationalisierte Dimension das Vorhandensein eines Bankkontos, von welchem – unabhängig von der Menge – Geld zur Gestaltung der Alltagsbewältigung behoben werden kann (vgl. Pantuček 2012; Pantuček/Grigori 2016: 14). Ergänzend muss hinzugefügt werden, dass eine Kontoüberziehung den gefährlichen Schulden zuzuordnen ist, da eine plötzliche Veränderung des Überziehungsrahmens mit >>finanzieller Lähmung<< in den Betroffenenlebenswelten gleichzusetzen ist (vgl. Neumaier 2018). Daher wurde die Höhe des Kontostandes in die Betrachtung und Bewertung der Dimension miteinbezogen.

Unter Zuhilfenahme dieses Instruments konnten die Situationen vor und nach der Sperre in den Fallinterviews gegenübergestellt werden und damit vergleichbare Auffälligkeiten in der Dimension Geldverkehr festgestellt werden.5 Die Herren W, X, Y und Z hatten vor der Sperre eine relativ schwierige Ausgangssituation in dieser Dimension hinsichtlich folgender Aspekte: Datenschutz (aufgrund zu leistender Alimentationszahlungen), Überziehungen (Herr W: Minus € 3.000) und >>Kontostandjonglagen<< (ein monatliches Hin und Her zwischen positivem und negativem Kontostand). Dadurch wurden vor der Bezugssperre die betroffenen dimensionsspezifischen Lebenswelten (X V; Y V; Z V; W V) und somit die Gesamtdimension (Dim V) determiniert.

Nach der Sperre und einem damit verbundenen mindestens sechswöchigen Bezugsverlust kam es zur Entstehung gefährlicher Schulden bei Herrn X (1.000 Euro Überziehung für Mietkosten; X N), zur Weitergabe gefährlicher Schulden bei Herrn Y (seine Freundin ist nun mit einer >>Kontostandjonglage<< konfrontiert; Y N), zur Kontostandlähmung bei Herrn Z (der Kontostand stagnierte seit mehreren Wochen bei 0 Euro, da er im >>alimentationszahlungsbedingten Datenschutz<< aufscheint; Z N) und zum Verharren im Leben mit gefährlichen Schulden samt Überziehungszinsen bei Herrn W (W N). Die dimensionsspezifische Conclusio (Dim N) lautet somit: Kommt es zum Bezugsverlust, so sehen die betroffenen Individuen – und deren Angehörige – die Flucht in die Kontoüberziehung als eine notwendige Bewältigungsstrategie zur Finanzierung von essentiellen Grundbedürfnissen (Miete/Wohnen, Lebensmittel/Güter des Alltags) an. Gefährliche Schulden samt inkludierter Überziehungszinsen und Abhängigkeitsverhältnisse bei Banken entstehen. Kann das Bankkonto nicht (mehr) überzogen werden, ist eine finanzielle Handlungsunfähigkeit die logische Konsequenz und es entstehen weitere Abhängigkeiten wie zum Beispiel Schulden bei Freund*innen (vgl. Neumaier 2018: 67–69). Nachfolgend ist die quantitative Erfassung der Dimension Geldverkehr aus den vier Interviews (Herr X, Herr Y, Herr W, Herr Z) abgebildet:

Abbildung 3
Abbildung 3: §10-Sperrkoeffizient: Geldverkehr vor und nach der Sperre (Neumaier 2018: 67).

Die Abkürzung AEV steht für die „Anzahl eingetretener Veränderungen“ in der jeweiligen Dimension. Dadurch wird erkennbar, wie viele Personen beziehungsweise – bei erhöhter Fallanzahl – welcher Prozentanteil der Fälle in der jeweiligen Dimension von Veränderungen betroffen ist. Die Einschätzung in dieser Dimension von Herrn W zeigt hier das hohe Maß an Subjektivität und Schwächen der Methode (Sprachbarrieren): Obwohl er sein Konto mit 3.000 Euro überzogen hat, Überziehungszinsen das Bankkonto belasteten und er nach der Sperre von nahen Angehörigen finanziell abhängig wurde, veränderte sich der Wert für ihn nicht. Wichtig war es aus Forschersicht in der Bewertung den Dialog zwischen Forscher und Betroffenen herzustellen und die Einstufung seitens der Betroffenen nicht zu beeinflussen.

Mit Hilfe des Messinstruments der Lebensweltdiagnostik können ausgelöste Tendenzen auf verschiedene Lebensweltebenen veranschaulicht werden, welche sozialpolitische Interventionen/Gesetze verursacht haben. Hier ist nochmals anzumerken, dass in der Studie aufgrund des erschwerten Fallzugangs die Lebensweltsituations-Messungen vor und nach der Sperre zum selben Zeitpunkt, also durch >>Zurückerinnern<< (Situation vor und eventuell nach der Sperre) durchgeführt wurden. Validere Ergebnisse wären durch zwei zeitversetzte – den Übergangszeitpunkten angepasste – Einzelfallinterviews generierbar.


2.3 Studienergebnisse: Erzeugte staatlich legitimierte Exklusion senkt die Arbeitsmotivation

Gesellschaftliche Teilhabe, Individualität und Inklusion werden von finanziellen Parametern geleitet und determiniert (vgl. Neumaier 2018: 110). So legt auch der Wirtschaftssoziologe Deutschmann dar:

„Auch in einer modernen Gesellschaft ist die Konstruktion von Individualität keineswegs den Individuen selbst überlassen; sie muss auch hier sozial gewährleistet und fundiert werden – durch das Medium Geld. Geld ist weit mehr als ein bloß ‚ökonomisches‘ Medium. Es vermittelt nicht bloß materielle Zugriffsrechte, sondern individuelle Chancen gesellschaftlicher Teilhabe. In diesem Sinne stellt es kein funktional spezialisiertes, sondern universales Medium dar.“ (Deutschmann 2009: 231)

Durch die besondere Maßnahme der Sperre von Arbeitslosengeldbezügen, aus der eine finanzielle Versorgung deutlich unter dem Existenzminimum resultiert, entstehen Schulden und Exklusionsprozesse. „Kontoüberziehungen, Mietrückstände, Strom- und Heizungsrückstände oder Unterhaltszahlungsrückstände sind allesamt gefährliche Schulden, welche Individuen in exkludierende Prozesse“ (Neumaier 2018: 111) bringen. Um diese nicht zu hoch werden zu lassen, vernachlässigen die Betroffenen die Dimensionen Mobilität, Medien, Adressierbarkeit und vor allem Güter des Alltags (vgl. Neumaier: 59–110). Andere Dimensionen wie Wohnen, Sorgepflichten oder Geldverkehr werden so zu schwer steuerbaren, prekären Pulverfässern und die Klient*innen sind mit einer Situation konfrontiert, welche in Wohnungslosigkeit, Zahlungsunfähigkeit oder Gefängnisaufenthalt münden kann. Die Grundbedingungen für Teilhabechancen, gesellschaftliche Teilhabe, Individualität und Inklusion werden enorm erschwert (vgl. ebd. 2018: 110–111).

Eine solche Situation ist mit großem Stress für die Betroffenen verbunden und hat nachweislich direkte biopsychosoziale Auswirkungen. So erkrankte Herr X an einer (psychosomatisch bedingten) Reizdarmerkrankung und Herr Y erhielt eine Depressionsdiagnose. Herr Z hatte keine finanziellen Ressourcen mehr, um seine Antidepressiva oder Bluthochdruckmedikamente kaufen zu können und musste sich zwischen Nahrungs- und Medikamentenbeschaffung entscheiden. Herr W war mit einem Delogierungsverfahren konfrontiert, welches unter enormem Stress nur knapp vor dem Räumungstermin abgewandt werden konnte. Ebenso isolierten sich die Betroffenen zunehmend in ihren eigenen vier Wänden, da die Ressourcen zur gesellschaftlichen Teilhabe fehlten und sich zudem Stress, Scham und der verschlechterte Gesundheitszustand auswirkten (vgl. ebd. 2018: 111). „Diese Gegebenheiten stehen – und das haben die Untersuchungsergebnisse eindeutig gezeigt – in direktem Zusammenhang mit der §10-Bezugssperre.“ (Neumaier 2018: 111)

Durch den Verlust des bisherigen Einkommens (Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe) entstehen individuelle Abhängigkeitsverhältnisse zu Banken und Verbrauchsgüteranbieter*innen, nahen Angehörigen, nichtstaatlichen Hilfseinrichtungen (Caritas, Rotes Kreuz, Fondstellen…) und staatlichen (Hilfs-)Einrichtungen (beispielsweise das Land Steiermark: rückwirkende Gewährung der Wohnunterstützung; Sozialamt: §15 SHG: Hilfe in besonderen Lebenslagen) (vgl. Neumaier 2018: 112–114).

Thiersch (2018) spricht bezüglich der Lebensführung von Menschen von einem Alltagspragmatismus, welcher sich durch Routinen, entlastende Regelungen und Selbstverständlichkeiten charakterisieren lässt. Die – rechtlich/staatlich/gesellschaftlich/politisch legitimierte – Maßnahme einer Bezugssperre verändert und >>zerstört<< bewährte Muster eines Alltagspragmatismus und verhindert eine Vielzahl an alltäglichen Erledigungen und den dazugehörigen Erledigungserfolg. Die individuelle Kompetenzwirkung nach außen und der dazugehörige Stolz des*der Einzelnen nehmen ab, was in vielen Fällen zu belastenden Schamgefühlen führt (vgl. Neumaier 2018: 84–86; Thiersch 2018: 21–22).

Welche Auswirkungen die §10-Bezugssperren auf die individuelle Lebenswelt haben, lässt sich anhand zweier Interviewpassagen mit Herrn Z veranschaulichen. Einerseits weist er auf den unbegreiflichen Umstand hin, dass er sich seine notwendigen Antidepressiva nicht mehr leisten kann. Andererseits wird deutlich, dass die Sperre zu Minderwertigkeits- und Schamgefühlen führen kann:

„Ich habe Bluthochdruckprobleme, das und das. Also ich muss schauen, dass ich nur die Bluthochdruckmedikamente zusammenbekomme. Nur die Bluthochdruckmedikamente! Und da habe ich kein Ding dabei, also für die Psyche [betont, Anm. HN], habe ich nichts dabei. Das kann ich mir nicht leisten.“ (Neumaier 2018: 73–74)

„Du fällst ja auch von den ganzen sozialen Kontakten fast weg. Weil du dich schämst. Es ist so. Du fühlst dich minderwertig. Der ganze Komplex. Du fühlst dich irgendwie, …du gehörst nicht mehr dazu: Du bist im Prinzip ein Sandler,[6] der eine Wohnung hat.

Es ist so. Und nicht anders.“ (ebd. 2018: 82)

Die der Sozialgesetzgebung zugrundeliegende Annahme, dass durch härtere Sanktionen mehr Dienstverhältnisse eingegangen werden (vgl. Eppel et al. 2016), ist sehr fraglich bzw. wurde auch bereits widerlegt (vgl. Neumaier 2018): Bei Individuen mit niedrigem sozioökonomischem Status samt begleitenden biopsychosozialen Belastungserscheinungen und nicht voll intaktem sozialem Umfeld geht der erhoffte Effekt in die entgegengesetzte Richtung: Die Arbeitsmotivation sinkt, da die Individuen dem täglichen Kampf um ihre Grundbedürfnisse (vgl. Maslow 2002) samt Existenzängsten und Stressfaktoren ausgesetzt sind. Zudem kommt es zu Identitätsverlustprozessen und Identitätskrisen, welche die Identitätssäulen (Leiblichkeit, soziales Netzwerk, Arbeit und Freizeit, materielle Sicherheit, Normen und Werte) der betroffenen Individuen sehr belasten (vgl. Neumaier: 114–120; Petzold 2012). In der Studie konnte dies aufgrund der veränderten Werte der GAF-Skala7 (Soziales Funktionsniveau: Veränderung (-6)) und der – einer lebenslagendiagnostischen Erhebung folgenden – Nachfragepassage aufgezeigt werden (vgl. Neumaier: 99–105).


3. §10-Sperrkoeffizient, IC4 und Lebenslagendiagnostik als Ausweg Sozialer Arbeit aus den „Fesseln“ der Exklusionsverwaltung?

Die Studienergebnisse zeigen anhand der veränderten Lebensweltebenen, dass die Bezugssperre eine besondere sozialpolitische Intervention ist, welche man aus sozialarbeiterischer und >>solidargesellschaftlicher<< Sichtweise stark hinterfragen muss. Von den Einzelfalllebenswelten gilt es nun auf makrostrukturelle Gegebenheiten der – österreichischen – Gesellschaft und Politik zu blicken und zu schließen.

Thiersch verweist auf eine dominierende Leistungsgesellschaft, welche Exklusion erzeugt und analysiert die aktuellen makrostrukturellen Gegebenheiten und Entwicklungen folgendermaßen:

„Die zunehmend massiver werdende Dominanz von Produktions- und Kapitalinteressen und des sie prägenden konkurrenzorientierten Neoliberalismus führt zur Entstehung neuer Zonen der Abgehängten, der Exklusion. Die Orientierung an einem gelingenderen Leben droht in den herrschenden Konkurrenzen der Leistungsgesellschaft zerrieben zu werden. Hilflosigkeit, Elend und Exklusion werden dethematisiert, Alltagserfahrungen werden in den kapitalistisch neoliberalen Spaltungen und Disziplinierungen übergangen.“ (Thiersch 2018: 23)

Die §10-Bezugssperren sind ein Charakteristikum einer voranschreitenden „leistungsgesellschaftlichen“ (Nollmann/Strasser 2014: 269) Einstellung der österreichischen Mehrheitsbevölkerung, welche Hand in Hand mit politisch neoliberalen-wohlfahrtstaatsfeindlichen Anschauungen geht. Die gesetzliche Zerschlagung des prinzipiell vorgesehenen Existenzminimums (vgl. Bundesministerium für Justiz 2018) samt der Durchlöcherung des Arbeitslosenversicherungssystems sind Indikatoren eines schrittweise geplanten Sozialstaatsabbaus, welcher angeblich förderlich für einen >>konkurrenzfähigen Wirtschaftsstandort Österreich<< im kapitalistischen System sein soll.8

Was sich anhand der §10-Bezugssperren zeigen lässt ist, dass sich die >>agierende und praktizierende Soziale Arbeit<< derzeit zu großen Teilen nur als Zuseher*in in den >>Fesseln<< der Strukturen befindet. Sie agiert in der Position der Exklusionsverwaltung (vgl. Deimann 2015: 427–428), lindert die gesetzlich ausgelöste, im Einzelfall auftretende Not, kann die strukturelle Ebene aber nicht bzw. nur in rudimentären Zügen erreichen. Die Sozialarbeit befindet sich im konkreten Fall also in einer extrem defensiven Position und unterstützt somit indirekt die vorangehenden zu hinterfragenden politischen Interventionen und Strömungen. Die Gründe, warum moderne Soziale Arbeit vermehrt in einer exklusionsverwaltenden Position agiert, sind vielfältig. Die Hauptursachen sind jedoch politische und gesellschaftliche Veränderungen, welche zu Spendenabhängigkeiten und Sparmaßnahmen inklusive Finanzierungsstreitigkeiten und -wettkämpfen sozialer Einrichtungen geführt haben; darüber hinaus ein politischer finanzieller Druck auf das österreichische Hochschulsystem, welcher – so lässt sich vermuten – kritische Soziale Arbeit in der Wissensvermittlung nicht oder nur teilweise billigt.

Dies könnte sich indirekt auf das Professionsverständnis der Praktiker*innen auswirken und es könnte sein, dass darauf aufbauend erfolglos versucht wird, Systeme von innen heraus zu verändern. Dieses Empfinden bezieht sich auf die getätigten Beobachtungen und Erfahrungen des Autors im Sozialarbeitsstudium an der FH Joanneum und in der sozialarbeiterischen Praxis in der Steiermark. So lehrt die Wissensvermittlung der ASH in Berlin beispielsweise einerseits ein kritischeres, differenzierteres und im Sinne der Klient*innensysteme aktionistischeres Paradigma Sozialer Arbeit. Andererseits ist beim Vergleich der fachhochschulspezifischen Curricula erkennbar, dass kritische Soziale Arbeit in der Steiermark nur wenig bis keinen Platz in den Lehrveranstaltungsinhalten findet. Das >>(makro-)strukturkritische Paradigma<< gilt es wieder – unabhängig von Budgetierungsängsten und kreierten staatlichen Abhängigkeitsverhältnissen – in den Lehrveranstaltungen zu vermitteln und einzuführen, um die Exklusionsverwaltungsperspektive Schritt für Schritt verlassen zu können.

Betrachtet man die aktuelle Gesetzeslage und bereits durchgeführte Vorhaben der ehemaligen schwarz-blauen Bundesregierung in Österreich (2017–2019), so sind Einsparungen in Sozialeinrichtungen und ein weiteres Vorantreiben des >>konkurrenzbasierten neoliberalen Finanzierungsstreits<< erkennbar. Zudem sind – sollte die ÖVP ihre sozialpolitischen Vorhaben aus der vergangenen Regierung beibehalten – bundesweite Gesetzesänderungen (Kürzung der Mindestsicherung und Abschaffung der Notstandshilfe; Wiedereinführung der Sozialhilfe) zu erwarten. Dadurch würden die multifaktoriellen Problemlagen der mit Sozialarbeit in Berührung kommenden Personengruppen potenziert werden. Durch die Makroebene (Gesetzgebung, gesellschaftliche Einstellungen, (Innen-)Politik) werden tendenziell die Mesoebene (soziale Institutionen) und die interaktive Mikroebene (Sozialarbeiter*innen, Klient*innen) negativ beeinflusst.

„Lebensweltorientiertes Verstehen verlangt Kompetenz und Mut zur Einmischung“, denn Lebenswelten befinden sich „an der Schnittstelle zwischen Verhalten und Verhältnissen“ (Thiersch 2018: 30). Um die Rolle der Exklusionsverwaltung zu verlassen, Verhältnisse zu verändern und aktuellen wohlfahrtsstaatsfeindlichen Tendenzen entgegenzuwirken, bedarf es zuerst einer speziellen Betrachtungsweise Sozialer Arbeit: Kritische, offensive und politische Soziale Arbeit hilft nicht nur im Einzelfall, sondern hinterfragt auch die Rahmenbedingungen der Macht- und Herrschaftsstrukturen, welche Klient*innen in missliche Lebenslagen bringen. Sie versucht diese aus den oben dargestellten Gründen nachhaltig im Sinne der Klient*innensysteme zu verändern. Die politischen Verhältnisse (Wohnungspolitik, Stadtpolitik, Arbeitspolitik, Gesundheitspolitik) sollen – orientiert an sozialer Gerechtigkeit und den Menschenrechten –9 zugunsten der Klient*innensysteme verändert werden, gemäß dem „gesellschaftspolitischen Mandat“ (ebd. 2018: 30) Sozialer Arbeit. Dies wird durch ähnlich agierende gesellschaftliche Gruppen und Professionen gestützt und unterstützt (vgl. ebd. 2018: 30–31).


3.1 Mindestsicherung, Notstandshilfe und §10-Bezugssperren: Der Weg der Lebenslagendiagnostik in die praktische Umsetzung von Gesetzesänderungsinitiativen.

Es gilt prinzipiell anzumerken, dass Änderungen in der Sozialgesetzgebung auch positive Folgewirkungen haben könnten. So hätte vermutlich eine Erweiterung von Kinderbetreuungsleistungen und Kinderbetreuungsangeboten eine Erhöhung mancher IC4-Werte zufolge.

Mithilfe der Lebenslagendiagnostik und dem §10-Sperrkoeffizienten konnten Aspekte von individuellen und prekären Betroffenensituationen für eine generalisierte Betrachtung aufgearbeitet werden. Die eindeutig negativen Tendenzen bilden ein wissenschaftliches Fundament, um Versuche zu initiieren, die politischen Rahmenbedingungen zugunsten der Klient*innensysteme zu verändern. Ziel im konkreten Fall ist es, das (Steiermärkische) Mindestsicherungsgesetz wieder zurück zum >>Status quo<< – also der Situation vor September 2016 – zu führen und den damit verbundenen finanziellen Ausgleich durch die Mindestsicherung bei §10-Bezugssperren gewährleisten zu können (vgl. Neumaier 2018: 130–134).

Um den Einfluss solcher Studien in Zukunft erhöhen zu können, bedarf es größerer Fallanzahlen, um eindeutig generalisierbare Schlüsse ziehen zu können. Ein Kernelement zur Generierung von aussagekräftigen Ergebnissen könnten die österreichischen Sozialarbeits-Fachhochschulstudiengänge darstellen, da die hohe Zahl an Studierenden unter wissenschaftlicher Anleitung viele Fälle bearbeiten könnten.

Im Anschluss an die Generierung aussagekräftiger Ergebnisse müssten diese auf verschiedene Interaktionsebenen gebracht werden. Dazu gehört die Information der agierenden Politiker*innen über die (negativen) Auswirkungen der Gesetzestexte, das Einschalten von Medienvertreter*innen,10 um mit den Ergebnissen eine Zivil- und Solidaritätsgesellschaft zu erreichen, und das Mobilisieren sozialarbeiterischen Rückenwinds aus Praxis und Forschung, welcher Gesetzesänderungen vorantreibt. Viele Ebenen müssen ineinandergreifen, um im weiteren Schritt Anträge für Landtags- und Nationalratssitzungen gestalten und dort einbringen zu können und somit Sozialgesetze im Sinne der Klient*innen Sozialer Arbeit zu verändern. Dies brächte für die Soziale Arbeit neuen Einfluss. Sie wäre kritisch, wissenschaftlich fundiert und umsetzbar. Grundlage hierfür bietet die Lebenslagendiagnostik als Evaluierungsinstrument der Sozialpolitik.

Die Sozialarbeitspraxis und die Forschung hätten somit ein Werkzeug, um der für den Sozialbereich verheerenden Austeritätspolitik11 sachlich entgegenzuwirken. Die im schwarz-blauen Regierungsprogramm (2017) beschriebene Kürzung und Deckelung der Bedarfsorientierten Mindestsicherung12 oder die darin beabsichtigte Abschaffung der Notstandshilfe geben einerseits wenig Hoffnung auf eine Besserung in der sozialpolitischen Landschaft im Sinne sozialarbeiterischer Klient*innensysteme. Anderseits bieten sie aber genügend Möglichkeiten und Reibungsfläche, um den §10-Sperrkoeffizienten, die IC4 und die Lebenslagendiagnostik zu verwenden, um fragwürdige Sozialgesetze bewerten und nachhaltig verändern zu können.

Es gilt abschließend zu erwähnen, dass sich diese spezifische Verwendung der sozialen Diagnostik noch in ihren Anfängen befindet. Eine schrittweise Verbesserung und stetige Verwendung dieser – an den Menschenrechten orientierten – Methode (§10-Sperrkoeffizient) könnte den Einfluss Sozialer Arbeit im öffentlichen Diskurs erhöhen, um klient*innengruppenspezifische Interessen und durch Sozialgesetze erschütterte Lebenswelten wieder nachhaltig vertreten sowie verbessern zu können. Denn sieht sich Soziale Arbeit per Definition als Menschenrechtsprofession an, wie vom Österreichischen Berufsverband der Sozialen Arbeit (OBDS 2017: 2) postuliert,13 so muss sie gewillt sein, die derzeitig dominierende exklusionsverwaltende Position zu verlassen. Sie muss dem „konkurrenzorientierten Neoliberalismus“ (Thiersch 2018: 23) entgegentreten und mit ihrem „gesellschaftspolitischen Mandat“ (ebd. 2018: 30) die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zugunsten der Klient*innensysteme beeinflussen!


Verweise
1 Anstieg der §10-Sperren in der Steiermark: 2015 – 1.698 Bescheide/Fälle; 2016 – 2.122 Bescheide/Fälle; 2017 – 3.130 Bescheide/Fälle; 2018 – 4.271 Bescheide/Fälle. Zu den §10-Sperren wurden zusätzlich noch 1.744 Bescheide/Fälle (Jahr 2017) bzw. 2.018 Bescheide/Fälle (Jahr 2018) neuartiger, >>nur<< mehrtägig wirkender §10/4-Sperren gezählt, welche vor allem wegen unentschuldigten Fernbleibens von AMS-Beratungsterminen verhängt werden. Die steigende steirische Fallanzahl ist auf eine Änderung des steirischen Mindestsicherungsgesetzes im September 2016 zurückzuführen, der entsprechend den betroffenen Personen monatlich noch €215,76 zur Deckung sämtlicher Lebenserhaltungskosten gewährt wird. Dieser drastische finanzielle Einschnitt wurde in der Studie (Neumaier 2018) untersucht.
2 >>(….)<< ist ein vom Verfasser verwendetes Stilmittel, um Begriffe abzuschwächen, hervorzuheben oder darauf hinzuweisen, dass Begriffe nicht im wortwörtlichen Sinne interpretiert werden dürfen. Die – für die Leser*innen – gegebene Unklarheit über die genaue Verwendung dieses Stilmittels und somit über die genaue Bedeutung eines Begriffs, soll individuelle Reflexionsprozesse auslösen.
3 Es gilt zu erwähnen, dass die Anzahl der betroffenen Personen etwas geringer als die erwähnten 4.271 ist, da die statistische Erfassung des AMS nur die Anzahl der Bescheide erfasst und somit Personen mit zwei Sperren doppelt in der Statistik erscheinen.
4 Erste Sperre: Sechswöchiger Bezugsverlust; zweite Sperre: Achtwöchiger Bezugsverlust; dritte Sperre: Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt, das heißt die unbefristete Abmeldung der Betroffenen vom Arbeitsmarktservice und als §9-Sperre bekannt.
5 Bei der in der Studie verwendeten Fallanzahl n=4 kann man nicht von generalisierbaren und – aus Sicht der quantitativen Sozialforschung – validen Ergebnissen sprechen. Es handelte sich hierbei um erkannte Tendenzen. Erhöht man jedoch diese Fallanzahl, so werden die gemessenen Tendenzen empirisch belastbarer und somit auch für politische Akteur*innen und das öffentliche Interesse relevanter, um schließlich Sozialgesetze verändern zu können.
6 Sandler*in: Umgangssprache/Klient*innensprache für Obdachlose*r/Wohnungslose*r.
7 GAF – Global Assessment of Functioning: Ordnet das „Soziale Funktionsniveau“ der jeweiligen Person in Zahlenwerten von 0 bis 100 ein. In der Studie bewerteten sich die interviewten Personen unter Anleitung des Forschers selbst.
8 Hierbei wird auf den Idealtyp des schumpeterianischen workfare states verwiesen, welcher unter anderem die Kürzung bzw. Privatisierung von Sozialversicherungen, also einen Sozialstaatsabbau als Hauptcharakteristikum aufweist. Im Gegenzug erhöht sich – der Theorie zufolge – die faktische Wirtschaftsleistung eines Staates (vgl. Schmid 2010). Dies geht einher mit einer geplanten Abschaffung der Notstandshilfe bzw. angestrebten Kürzungen in Bezug auf die bedarfsorientierte Mindestsicherung (vgl. Bundeskanzleramt 2017).
9 Die §10-Sperren verstoßen – das haben die Studienergebnisse eindeutig gezeigt – gegen den Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das „Recht auf soziale Sicherheit“: „Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuß der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind.“ (UNO 1948)
10 In der Steiermark hat der Forscher bereits in Zusammenarbeit mit politischen Parteien begonnen, das untersuchte Thema in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Da die steirische Regierungsmehrheit die Vorgehensweise in Bezug auf die exekutierten §10-Bezugssperren im konkreten Fall billigt, >>muss<< öffentlicher Druck auf die Gesetzgebung entstehen, um im Sinne der durch die §10-Bezugssperren benachteiligten Klient*innensysteme agieren zu können. Siehe dazu: https://www.kleinezeitung.at/steiermark/5691194/AMSSperren_Steirer-fallen-in-ein-Loch-bis-zur-Obdachlosigkeit?fbclid=IwAR3EFbVhd58cPPHb1HJdrEG-jlcndZcl1q7nnUKYTuCHSAdadBiB_IC2ipc (21.10.2019).
11 Austeritätspolitik meint in diesem Artikel eine staatliche Haushaltspolitik, welche als Ziel die Verhinderung staatlicher Neuverschuldung definiert. Dies wird durch Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen erreicht. Im Bereich der Ausgabenkürzungen ist der Abbau von wohlfahrtsstaatlichen Elementen (u.a. Sozialleistungen) ein Charakteristikum, welches mit dem vorliegenden Artikel in Verbindung zu setzen ist. Der Effekt der Austeritätspolitik ist eine nachhaltige Inflationssenkung, welche die Staatsbürger*innen entlasten soll (vgl. Sturm et al. 2017: 1–11).
12 Beispiele hierfür sind u.a.: „Österreichweite Deckelung der Leistungen für eine Bedarfsgemeinschaft auf maximal 1.500 Euro“; „Reduktion der Geldleistung für Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte auf 365 Euro Grundleistung sowie 155 Euro Integrationsbonus.“; „Bei Verletzung der Arbeits- und Teilhabepflichten Kürzung bzw. vollständige Sperre der Sozialhilfe (Mindestsicherung)“ (Bundeskanzleramt 2017: 118). Nationalitätsabhängige Kürzungen (Asylberechtigte, Subsidiär Schutzberechtigte), eine erhöhte Sperr- und Kürzungsbereitschaft bei >>Pflichtverstößen<< und die Deckelung der Mindestsicherung kennzeichnen die Sozialpolitik des ehemaligen schwarz-blauen Regierungsprogramms.
13 „Die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit, die Menschenrechte, die gemeinsame Verantwortung und die Achtung der Vielfalt bilden die Grundlage der Sozialen Arbeit.“ (OBDS 2017: 2)


Literatur

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Über den Autor

Heimo Neumaier, BA
heimo.neumaier@caritas-steiermark.at

Ist als Sozialarbeiter in einer WG für akut von Wohnungslosigkeit betroffene Personen tätig. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession ist sein Credo und der Name seines weiterführenden Masterstudiums (Berlin ab 2020). Durch Öffentlichkeitsarbeit und Bewusstseinsbildung will er Wohnen als Menschenrecht in Österreich etablieren (>heimogeht<).