soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 22 (2019) / Rubrik "Rezensionen" / Standort Salzburg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/648/1167.pdf
264 Seiten / 22,80 Euro
Der Autor des gerade erschienenen Buchs 100 Jahre Erlebnispädagogik – Rück-, Rund- und Ausblicke ist Hans-Peter Heekerens, ein mir persönlich gut bekannter, emeritierter Professor für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München. In seinem Fachbuch beleuchtet er, neben geschichtlichen Entwicklungslinien, wichtigen Persönlichkeiten und zentralen Forschungsarbeiten im Themenfeld, vor allem seine vielfältigen persönlichen Hintergründe und erklärt damit, warum Erlebnispädagogik für ihn das hochschulische Betätigungsfeld geworden und geblieben ist. Nach der Darstellung diverser Bruchlinien in der Entwicklungsgeschichte dieser spannenden Methode folgen Ausblicke auf mögliche, wünschenswerte und auch wenig erstrebenswerte Zukunftsbilder, die sich ableiten lassen. Für praktisch und theoretisch in der Erlebnispädagogik erfahrene Personen vom Fach ergibt sich ein breites, zuweilen witziges, dafür eher wenig an konkreten Praxisanleitungen orientiertes Panoptikum an spritzigen Ideen und No-Gos für erlebnisorientiertes Weiterarbeiten.
Für eine Rezension sicher ungewöhnlich, ist es mir dennoch zunächst besonders wichtig, meinen eigenen Erfahrungshintergrund auf fachlicher und praktischer Ebene zu umreißen. Er bildet den Rahmen innerhalb dessen diese Rezension erfolgt und erklärt, welche Schlussfolgerungen sich für mich daraus ergeben. Meine Würdigung des Buchs ist also in jedem Fall subjektiv statt objektiv – aus meiner Sicht ist das für das vorliegende Werk jedoch unabdingbar. Aber das wird sich noch zeigen…
Als Studiengangs- und Forschungsleiter für Soziale Arbeit (BA) und Soziale Innovation (MA) an der Fachhochschule Salzburg bin ich selbst „Professor mit Erlebnispädagogik-Hintergrund“. Nach dem Studium der Psychologie und der Sonderpädagogik (mit erlebnispädagogischen Abschlussarbeiten) folgten erlebnispädagogische Ausbildungen (z.B. bei Outward Bound), dann eine Dissertation zum Thema und schließlich mannigfaltige Erlebnispädagogik-Kurse für mehr oder weniger schwierige Jugendliche; später dann vor allem auch Weiterbildungskurse z.B. für die Hochschule Landshut. Am meisten erlebnispädagogisch geprägt haben jedoch auch mich persönliche Erlebnisse und Erfahrungen. Unvergessen bleibt ein Sommer als Senner auf der Haaralm bei Ruhpolding. Warum ist das wichtig für die Interpretation des Buchs von Hans-Peter Heekerens? Weil die Lektüre vor allem für diejenigen Leser*innen spannend und gewinnbringend sein wird, die Parallelen schlagen können zwischen dem Buchinhalt und der eigenen Lebensgeschichte. Auch wenn der Autor es nur an wenigen Stellen explizit erwähnt: Es ist die Verknüpfung mit dem eigenen Leben, die die Erkenntnisse und die Spannung und das Geschriebene in den notwendigen Rahmen stellt. Insofern handelt es sich um ein sehr persönlich gefärbtes Buch zu 100 Jahren Erlebnispädagogik – und das ist gut so.
Hans-Peter Heekerens beginnt sein Buch mit einem persönlichen Rückblick auf den eigenen Bezug zur Erlebnispädagogik. Wie er nach München kam, welche Situation er dort vorfand und auf welch durchaus verschlungenen und nicht unproblematischen Wegen das Ziel und die Berufung Erlebnispädagogik entstehen konnte. Wo der Nährboden für die Tätigkeit lag – und wo auch Widerstände drohten. Gerade die persönliche „Betroffenheit“ nehme ich bei Teilnehmer*innen der Weiterbildungen, bei vielen Studierenden und auch gerade bei denjenigen, die bei mir erlebnispädagogische Abschlussarbeiten schreiben, immer wieder wahr. Diese wichtigen Brüche, auch Ungereimtheiten und vor allem die Anteilnahme an den vielfältigen Herausforderungen in erlebnispädagogischen Kontexten sind es wohl, die auch die 100 Jahre Erlebnispädagogik durchziehen. Erlebnispädagogik (wie vielleicht auch andere Pädagogiken) kann man nicht „machen“, man muss sie „leben“ und damit auch selbst als Person beständig involviert bleiben, um erfolgreich arbeiten zu können. Jedenfalls hat das auch meine Doktorarbeit von 2001 als eines der wichtigsten Ergebnisse vermerkt: Die bloße technische Anwendung der Methodik bringt noch gar nichts. Das eigene Mitfiebern, Mitleiden und Mitgehen macht den entscheidenden Unterschied, wenn auch im Idealfall eine Nasenspitze vor den Teilnehmer*innen. Hans-Peter Heekerens gibt ein gutes Beispiel, wie das gelingen kann.
Die Geschichte der Erlebnispädagogik ist vielfältig mit reformpädagogischen Ansätzen verknüpft. Der Autor zeigt anhand wieder sehr persönlich ausgewählter Vertreter*innen der Zunft, welche je individuellen Lösungen diverse Akteur*innen jeweils wählten bzw. wählen mussten. Mehr und auch weniger bekannte Persönlichkeiten wie Georg Picht, Herman Röhrs, Hellmut Becker, Jörg Ziegenspeck, Waltraud Neubert, Aloys Fischer und natürlich Kurt Hahn werden in ihrem ganz spezifischen Einfluss auf Kurzschulen und andere entstehende erlebnisorientierte Formate analysiert.
Und auch bezüglich des meist als „Vater der Erlebnispädagogik“ bezeichneten Kurt Hahn erfolgt eine bisher so nie gelesene, weil auch wieder persönlich eingefärbte und letztlich auch entzaubernde Analyse. Auch durchaus kritische Aspekte seiner Persönlichkeit und seines damals als Erlebnistherapie bezeichneten Ansatzes sowie irrige Zuschreibungen, eine übermäßige Orientierung an medizinischen Modellen und sogar am „Geist der Sexualunterdrückung“ werden ins Visier genommen. Doch eins bleibt verblüffender Weise bestehen: Die Achtung vor den vielfältigen Gründungen, den Erfolgen und den praktischen Umsetzungen des Kurz Hahn. Auch Kurt Hahn wird eben als ein bestimmter Typ dargestellt, der trotz oder auch gerade aufgrund persönlicher Sonderlichkeiten viel voranbrachte.
In der Geschichte der Erlebnispädagogik kommen mit dem Wiederaufleben der Methodik in den 1970er und 1980er Jahren schlüssiger Weise Ansätze der Wirkforschung in der Erlebnispädagogik zu Wort. Die Rapid-Reviews zu langfristigen Effekten der Erlebnispädagogik für „gefährdete“ Jugendliche und zur Wirkforschung im deutschsprachigen Raum bringen eine umfassende Zusammenfassung der Möglichkeiten, aber auch der Grenzen wissenschaftlicher Analysen zu Tage. Expert*innen, welche Evaluationen planen, Maßnahmen finanzieren müssen, Arbeiten schreiben wollen im Themenfeld, finden hier umfassende Hinweise für mögliche Forschungsansätze. Etwas verstörend bleiben für mich trotzdem einige der Schlussfolgerungen, die seltsam vage die Erkenntnisse bisheriger Forschung zusammenfassen. Persönlich glaube ich, dass die Ergebnisdarstellung hier hinter den tatsächlichen Erkenntnissen zurückbleibt: Mit Einbezug der Hirnforschung (Flow), von Fallstudien, von qualitativ ausgerichteten Studien zur Beziehungsgestaltung, aus Lebensweltanalysen und auch aus Evaluationen kann man inzwischen doch einiges mehr ablesen. Es ist zwar nicht mehr so, dass Erlebnispädagogik als letzter Rettungsanker für alle Probleme gelten kann, es ließe sich aber inzwischen durchaus ein differenzierteres Bild generieren, wann welche pädagogischen Ansätze wie „funktionieren“. Dass hierfür u.a. die Hinweise des Autors wichtig wären, z.B. auch Prozessanalysen mehr von erlebnispädagogischer Seite her zu betreiben, ist hingegen sicher wahr.
Erlebnispädagogik erkennt sich selbst seit jeher lediglich in einer gewissen begrifflichen Unschärfe. So liegen zwar diverse Definitionen vor, diese scheinen jedoch allesamt seltsam unvollständig und vor allem in ihrer Abgrenzung zu so etwas wie schlicht „guter Pädagogik“ unhaltbar. Hans-Peter Heekerens löst diese Unzufriedenheit mit einem Rückblick auf wichtige (andere) Begriffe im Dunstkreis der Erlebnispädagogik aus den vergangenen 100 Jahren und bringt damit tatsächlich auch die Verortung dieses Handlungsfelds als Ganzes voran. Sein Ratschlag, sich mit Begriffen wie Risiko, Gefahr, Wagnis, Furcht, Verstörung, Entscheidung, Betroffenheit, Verantwortung, Reflexion, Herausforderung, Abenteuer, Thrill und auch Action näher zu befassen, kann nur begrüßt werden. Die entsprechenden Kapitel machen zum einen viel Freude, stützen aber auch die eigene Verortung und die eigene Ausrichtung. Sie werden jeweils aus der Perspektive eines ausgesprochen menschenfreundlichen Ethos in den Blick genommen und machen damit das weite Feld der Erlebnispädagogik eingrenzbarer und bestimmbarer.
Während sich die Rück-, Rund- und Ausblicke des Buchs vor allem auf Deutschland beziehen, werden im letzten Kapitel die Ideen für die Zukunft eher allgemeingültig im Hinblick auf Disziplin und Profession, auf aktuelle Entwicklungen und letztlich auf die Verortung der Erlebnispädagogik als Ganzes generiert. In Österreich sehe ich hier bisher nur ein schwaches Abbild verwirklicht und frage mich seit den sieben Jahren, in denen ich hier in Salzburg lehren (und lernen) darf, woran sich das festmachen lässt und woran das wohl liegen mag: Die Berge sind fast überall vor der Tür, Natursportarten weit verbreitet, eine gewisse Abenteuerlust durchaus zu spüren, auch diverse Projekte lassen sich finden. Das Buch Erlebnispädagogik in Österreich muss jedoch erst noch geschrieben werden. Hans-Peter Heekerens präsentiert am Beispiel Deutschland einen guten Präzedenzfall, an dem man sich orientieren könnte.
Ich empfehle dieses Buch allen, die sich gerne mit eigenen Bezügen zum Thema Erlebnispädagogik beschäftigen (weil sie diese als wichtig empfinden), die sich gerne mit geschichtlichen Entwicklungen auseinandersetzen, die Persönlichkeiten aus der Geschichte der Erlebnispädagogik näher kennenlernen und durchaus kritisch analysieren wollen, die Erlebnispädagogik als Forschungsfeld näher kennen- und schätzen lernen wollen, die mit Begriffsanalysen das eigene Verständnis von Erlebnispädagogik schärfen wollen und die gerne auch in Zukunft am Thema bleiben möchten und eine stete Weiterentwicklung für die nächsten 100 Jahre in den Blick nehmen. Und ich empfehle es allen, die mit einem zwinkernden Auge, viel Spaß und Zugewandtheit an die Sache herangehen. Hans-Peter Heekerens wirkt hier durchaus ansteckend.
Martin Lu Kolbinger / Martin.Kolbinger@fh-salzburg.ac.at