soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 22 (2019) / Rubrik "Rezensionen" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/649/1169.pdf
448 Seiten / EUR 29,90
Vom Kopf auf die Füße stellen beschreibt die Intention des neuen Buches von Silvia Staub-Bernasconi sehr anschaulich. Etwa ein Drittel des Textes setzt sich theoretisch mit den Begriffen, die im Titel vorkommen, auseinander. Sowohl geschichtlich wie auch aus unterschiedlichen regionalen Gesichtspunkten und aus den Blickwinkeln verschiedener Denkansätze und Professionen. Auf den Boden (also auf die Füße) gebracht wird die Umsetzung vor allem in den letzten beiden Kapiteln, wo praktische Beispiele der Verwirklichung sozialer Rechte und der Form, wie Sozialarbeit dabei mitwirken kann, vorgestellt werden. Gelesen werden kann das Buch aus akademischem Interesse. Die theoretische Auseinandersetzung hat allerdings einen so stark appellativen Charakter, dass die Beispiele, die gegen Ende beschrieben werden, ein Handeln geradezu herausfordern. Für Leser*innen, die beim Lesen mit den praktischen Beispielen beginnen und diese dann auch umsetzen wollen, wird das theoretischen Wissen in der Argumentation, die bei einer Umsetzung zwangsläufig erforderlich ist, helfen. Dazu können sie auf die entsprechenden Kapitel im Buch zurückgreifen.
Sozialarbeit als Menschenrechtsprofession – Silvia Staub-Bernasconi hat diese Sichtweise maßgeblich geprägt und trägt mit dem aktuell vorgelegten Buch neuerlich zu dieser Bestimmung bei. Konkret beginnt sie mit einem geschichtlichen Abriss, in dem sie Wegbereiter*innen der Menschenrechtsorientierung und -praxis in der Sozialen Arbeit vorstellt. Ausgehend von Jane Addams widmet sie sich national und international tätigen Personen. Speziell aus dem DACH-Raum hat sie Informationen und Praxisbeispiele gesammelt und im Buch verarbeitet.
Im zweiten Kapitel geht es um die Entwicklung des Doppelmandats zum Tripelmandat. Ausgehend vom Auftrag gegenüber den Klient*innen – Hilfe – und den Anforderungen des Staates/der Trägerorganisation in Richtung Kontrolle, kommt als Drittes die Forderung der Profession im Sinne einer wissenschaftlichen Begründung der Intervention bzw. der ethisch-menschenrechtlichen Orientierung dazu. Relativierend ergänzt die Autorin, dass Sozialarbeit nicht als einzige Profession das Menschenrechtsmandat erfüllen soll, sondern die UNO 14 Professionen dafür verantwortlich sieht.
Äußerst spannend ist die Auseinandersetzung mit der Frage, ob Menschenrechte ein Produkt des Westens sind und welchen universellen Wert sie haben könnten. Dazu werden erst seit kurzem zugängliche Dokumente rund um die Entstehung der Menschenrechtsdeklaration herangezogen. Darüber hinaus wird die Sichtweise zweier afrikanischer Autoren vorgestellt und diskutiert. Zum Begriff der Menschenwürde werden Gedanken aus verschiedenen Religionen und Denktraditionen dargelegt und damit entkräftet, dass es sich um ein rein westeuropäisches Konstrukt handelt. Wer sich nicht die Zeit nehmen will, das Kapitel im Volltext zu lesen, der*m gibt eine Übersicht auf den Seiten 166–169 einen Einblick und verlockt zur Vertiefung.
Ein weiteres Kapitel dient der Auseinandersetzung mit den Begriffen Zivilcourage und ziviler Ungehorsam. Hier spannt Staub-Bernasconi einen weltweiten Bogen und bezieht sich dabei auf Hannah Arendt, Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi, Rosa Parks und Martin Luther King. Die Soziale Arbeit hat unter Bezug auf ihre Professionsethik die Pflicht zur Gewaltlosigkeit, aber ebenso den Auftrag sich gegen Ungerechtigkeiten einzusetzen. Angesichts des zunehmenden Diktats von Effizienz und Managerialismus, stellt sich für Sozialarbeiter*innen die Frage: „Wann ist der Punkte erreicht, NEIN zu sagen?“ (S. 255) Welcher Handlungsspielraum bleibt, dafür finden sich im Buch konkrete Vorschläge, die zwar nicht unbedingt auf den Einzelfall bezogen sind, aber es geht ja auch um Grundsätzliches! Staub-Bernasconi schlägt als Möglichkeiten den Dialog mit Vorgesetzten, regelmäßige Ethikdiskurse im Team sowie den Zusammenschluss in übergreifende kritische Arbeitsgruppen u.v.m. vor. Am Ende des Kapitels wird eine Fragenliste zur Verfügung gestellt, mit der Sozialarbeiter*innen hinterfragen können, worauf sie individuell in der alltäglichen Praxis bereit sind, sich einzulassen in der Auseinandersetzung um mehr Gerechtigkeit und Menschenwürde.
Bevor es in den abschließenden Kapiteln um Praxisbeispiele geht, die Menschenrechte also vom theoretischen Kopf auf die umsetzungsorientierten Füße gestellt werden, werden die für die Soziale Arbeit zentralen Sozialrechte vorgestellt. Staub-Bernasconi erinnert daran, dass diese im Internationalen Pakt I festgeschriebenen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) im Gegensatz zu den bürgerlichen und politischen Rechten ursprünglich nicht einklagbar waren. Erst 2008 kam es zu einem Zusatzprotokoll in Bezug auf Beschwerdeverfahren. Hier gibt es wieder für ungeduldige Leser*innen eine Übersicht über die Inhalte der beiden Pakte auf Seite 279. Eine weitere hilfreiche Übersicht und Handreichung für die Praxis ist die Gegenüberstellung von Bedürfnissen und Rechten, die in der Menschenrechtskonvention verankert sind.
In Kapitel 9 setzt sich Staub-Bernasconi mit Armut auseinander. Einerseits mit den gängigen Vorurteilen der Selbstverschuldung und der neo-liberalen Antwort auf Armut. Andererseits gibt sie Beispiele von mehr oder weniger erfolgreichen Kampagnen, z.B. vom Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz, im Kampf um die Durchsetzung von WSK-Rechten. Insgesamt berichtet sie von arbeitsreichen, aber durchaus motivierenden Best Practice-Beispielen.
Das letzte Kapitel befasst sich mit Zukunftsaufgaben für die Soziale Arbeit. Für die Autorin umfassen diese den Auf- und Ausbau von Ombudsstellen, den Erwerb neuer Kompetenzen im Zusammenhang mit der Veränderung einer problematischen Machtstruktur und die menschenrechtliche Auseinandersetzung mit den Themen Flucht und Asyl. Für Staub-Bernasconi reicht es nicht aus, dass Rechte in internationalen Dokumenten festgeschrieben sind: um sie zu verwirklichen, braucht es mehr. Wie von Unrecht Betroffene besser unterstützt werden können – sowohl individuell wie auch politisch –, wird erneut anhand von motivierenden praktischen Beispielen ausgeführt.
Aus meiner Sicht ist dieses Buch eine absolute Pflichtlektüre für Studierende. Aber auch für müde gewordenen Praktiker*innen, die einen theoretisch fundierten, praxisrelevanten Motivationsschub gebrauchen können, um sich auch weiterhin für eine sozial gerechte Gesellschaft einzusetzen. Danke Silvia Staub-Bernasconi!
Monika Vyslouzil / monika.vyslouzil@fhstp.ac.at