soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 23 (2020) / Rubrik "Thema" / Standort Graz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/655/1179.pdf


Roswitha Al-Hussein:

Handlungsspielräume der Selbstorganisation von und für Migrantinnen und Musliminnen in Graz


1. Einleitung

Seit 2007 existiert in Graz die Selbstorganisation von und für Migrantinnen und Musliminnen, kurz SOMM, welche ich als Sozialarbeiterin mitbegründet und aufgebaut habe und bis heute mittrage. Eine Selbstorganisation bietet Schutz und Sicherheit für gesellschaftlich vulnerable Menschen, benennt Formen der Gewalt und ihre Strukturen, skandalisiert Missstände und stärkt durch das Kollektiv die Selbstbehauptungskräfte in diskriminierenden Verhältnissen. Entsprechend meinem Verständnis von Sozialer Arbeit als Gerechtigkeitsprofession, wollte ich mit meiner Involvierung in diese Selbstorganisation nicht nur individuell Frauen in Notsituationen, sondern ebenfalls kollektive Selbstermächtigungsprozesse unterstützen. In dem vorliegenden Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, welche Bedeutungen SOMM für ihre Akteurinnen hat und welche konkreten Handlungsmöglichkeiten eine Selbstorganisation für sich nutzen kann.


2. Über SOMM

Der Begründungskontext von SOMM liegt im Widerstand gegen Diskriminierung von muslimischen Frauen. Die Selbstorganisation entwickelte sich aus dem EU-Projekt Marhama – Sozial- und Gesundheitsdienst für Migrantinnen und Musliminnen, welches im Rahmen der EQUAL-Partnerschaft „wip – work-in-process“ von 2005 bis 2007 durchgeführt wurde. Die Diskussionen und die Arbeit in dieser österreichweiten Allianz von Selbstorganisationen waren wesentlich für die Gründung von SOMM. Bedeutsam war in den Anfangsjahren die Unterstützung durch den Verein Frauenservice durch das Teilen von Büroräumen und die Möglichkeit, den offenen Frauenraum „palaver“ für Treffen und Aktivitäten nutzen zu können, sowie die strategische Allianz mit anderen Selbstorganisationen, allen voran mit dem Autonomen Zentrum von und für Migrantinnen (maiz) in Linz. Eigene Fördermittel ermöglichten SOMM die Anmietung von Vereinsräumlichkeiten, was einen wichtigen Schritt für Selbstrepräsentation, Identitätsstiftung und symbolische Raumnahme darstellte.

Partizipation, Mitmenschlichkeit, Solidarität, Empowerment und Selbstvertretung statt Stellvertretung zählen zu den Grundsätzen von SOMM. Dabei verstehen ihre Akteurinnen die Möglichkeit zur freien Entfaltung der Identität als einen wichtigen Aspekt auf dem Weg zur Selbst-Ermächtigung (vgl. dazu das Leitbild von SOMM, SOMM o.J.). Als gemeinnütziger Verein will SOMM die gesellschaftliche Teilnahme von Migrantinnen, Musliminnen und geflüchteten Frauen fördern und sie beim Zugang zu Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten unterstützen. Mit ihrer Arbeit will die Organisation die formellen und informellen Qualifikationen und Kompetenzen von Migrantinnen und geflüchteten Frauen sichtbar machen und die Gesellschaft auf dieses Potential aufmerksam machen. Bei der Gründung war wichtig, sich von dem Bild der muslimischen Frauen als ewige Opfer zu befreien, den Stimmen von muslimischen Frauen gegen Rassismus und Diskriminierung Gehör zu verschaffen und einen Raum zur Selbstrepräsentation zu öffnen. Die Arbeitsbereiche von SOMM sind organisch mit den Mitgliedern von SOMM gewachsen: Engagierte Frauen bringen ihre Ideen ein und Fachfrauen des Vereins versuchen diese in die Form von Projekten zu gießen und Förderungen zu lukrieren. Das erste finanzierte Projekt war in dieser Hinsicht 2007 Rahma – Interkultureller Begleit- und Besuchsdienst, welches von Kursabsolventinnen im Rahmen von Marhama initiiert wurde. SOMM gewann mit diesem Projekt 2015 den Preis der Sozialmarie. Der Bogen an Tätigkeiten spannt sich mittlerweile von Gesundheitsprojekten, Elternbegleitung, Mädchenprojekten und Lernhilfe über mehrsprachige soziale Beratung und Rechtsberatung hin zu Deutsch- und Basisbildungskursen, wobei hierfür Methoden und emanzipatorische Inhalte selbst entwickelt wurden. Projekte von SOMM werden bzw. wurden von der Stadt Graz, dem Land Steiermark, durch den Bund und die EU gefördert.

Ein zentrales Anliegen seit den Anfängen ist die Ermöglichung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt für Migrantinnen, vor allem auch für kopftuchtragende muslimische Frauen. Diesbezüglich entwickelte und führte SOMM berufliche Vorbereitungskurse sowie ein Berufsorientierungssemester für jugendliche Frauen ohne berufliche Ausbildung, sogenannte Not in Education, Employment or Training (NEETs), durch (vgl. dazu auch SOMM o.J.). Jugendliche drehten im Rahmen dieses Kurses das Video „Jetzt sprechen wir“, welches mit dem Vereinspreis des Österreichischen Integrationsfond (ÖIF) ausgezeichnet wurde.1 SOMM unterstützt Frauen bei der Durchsetzung ihres Rechts auf das Tragen des Kopftuchs am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft. Sie war österreichweit die erste Organisation, die eine Klage einer kopftuchtragenden muslimischen Frau wegen Diskriminierung in der Arbeitswelt aus religiösen Gründen vor den Gleichbehandlungssenat brachte und damit Erfolg hatte. Antidiskriminatorische Arbeit nimmt in der Arbeit der Selbstorganisation einen zentralen Stellenwert ein. Sie durchzieht alle Arbeitsbereiche, wobei nicht nur der Zugang zu Informationen über Rechte wichtig ist, sondern genauso die Ermutigung, sich diese zu nehmen.

Zur Bewusstseinsbildung organisiert SOMM selbst Veranstaltungen und Fortbildungen, engagiert sich im interkulturellen und interreligiösen Dialog, steht für zahlreiche Interviewanfragen von Studierenden, Forscher_innen und Medien zur Verfügung, führt Kulturprojekte durch und publiziert Stellungnahmen und Texte zu für sie wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen. Adressat_innen der Sozialen Arbeit suchen SOMM auf, weil sie dort ein vertrauensstiftendes Umfeld vorfinden, sich in ihrer Lebenswelt und mit ihren Lebensentwürfen verstanden fühlen, sich aufgrund der Möglichkeit der Kommunikation in der Muttersprache sicher fühlen, das vielfältige Angebot schätzen und fast bei allen Programmen Kinderbetreuung nützen können.


3. Kontext der Selbstorganisation SOMM

Die subjektiven Bedeutungen der Selbstorganisation SOMM für ihre Akteurinnen können nur vor dem Hintergrund der rassistischen Verhältnisse in Österreich verstanden werden. Muslimische Frauen und Migrantinnen sind mit chronischen Exklusions-, Missachtungs-, intersektionalen Diskriminierungs- und rassistisch motivierten Gewalterfahrungen konfrontiert. Migrationsforschung beschäftigt sich üblicherweise mit den Merkmalen der Anderen2 und den damit verbundenen Herausforderungen der Integration. Rassismuskritische Forschungen hingegen verstehen Rassismus als ein gesellschaftliches Machtverhältnis und nehmen nicht die Abweichung, sondern die Norm in den Blick. Rassismus ist in diesem Sinn keine politische Orientierung, sondern prägt als gesellschaftliches Verhältnis sämtliche politische Lager, Institutionen und Bürger_innen. Es gibt keinen Ort außerhalb der rassistischen Verhältnisse, weil diese unsere gesamte Gesellschaft, unser Bewusstsein und unsere Lebensweise prägen (vgl. Rommelspacher 1995: 40). Rassismuskritik analysiert neben der Unterdrückung von Minorisierten die Verwobenheit von Angehörigen der dominanten Kultur in rassistische Praktiken und den damit verbundenen materiellen und symbolischen Profiten. Rassismus verschafft den einen Privilegien (einen Mehrwert an objektiviertem Kapital wie etwa ein österreichischer Reisepass) und den anderen Benachteiligung. Somit fungiert Rassismus als symbolische Macht, durch die die eigene Position im sozialen Raum aufgewertet werden kann (vgl. Scherschel 2006: 61ff.).

„Rassismus (kann) als machtvolles, mit Rassekonstruktionen operierendes oder an diese Konstruktionen anschließendes System von Diskursen und Praxen beschrieben werden [...], mit welchen Ungleichbehandlung und hegemoniale Machtverhältnisse erstens wirksam und zweitens plausibilisiert werden.“ (Mecheril/Melter 2011: 16)

Rassismus ist nach dieser Darstellung von Paul Mecheril und Claus Melter eine mächtige Unterscheidungspraxis, deren Ordnungskategorien wirkmächtig über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit entscheiden. Im Zuge der europäischen Kolonialgeschichte und der postkolonialen Entwicklungen etablierte sich ein Bewusstsein, welches die Überlegenheit der europäischen Zivilisation gegenüber dem „Rest der Welt“ internalisiert hat. Es werden die Anderen konstruiert, um sich der eigenen Identität zu vergewissern. Und diese lautet: unsere Gesellschaft ist egalitär, demokratisch, friedfertig, frei, zivilisiert, fortschrittlich, rational, aufgeklärt – während die Anderen als rückschrittlich, primitiv, gewalttätig, irrational, patriarchal und demokratieunfähig gedeutet werden. Die Konstruktion dieses Gegensatzes geht nicht nur einher mit einer Bewertung des Anderen als andersartig, als fremd, sondern ebenfalls mit dessen Abwertung.

Spätestens seit 9/11 sind Muslim_innen im Fokus von Othering-Prozessen. Bevorzugte Objekte dieser Projektionen sind aktuell muslimische Frauen, denen Merkmale wie ungebildet, sprachlos, unterdrückt, abhängig, rückständig zugeschrieben werden. Das Narrativ westlicher Frauen über Frauen des Südens und somit auch über jene, die von dort als Migrantinnen nach Europa kommen, ist, dass sie prinzipiell weniger emanzipiert seien. Die schlimmste Form des Patriachats ist in diesen Diskursen das islamische. Demnach sei die muslimische Frau völlig abhängig und unterdrückt von ihren Männern (Vater, Bruder, Ehemann) – ein ewiges Opfer, das von westlichen Frauen (und Männern) befreit werden muss. Während die Mehrheit der muslimischen Frauen ebenso in der sogenannten Kopftuchfrage für das Selbstbestimmungsrecht der Frau eintritt, wird das Kopftuch seitens der dominanten Gesellschaft zum Symbol der Unterdrückung und Rückständigkeit der Frau stilisiert. Diese eurozentristische Deutung und ihre Wirkmächtigkeit führen im Alltag zu gewaltvollen strukturellen und individuellen Übergriffen auf muslimische Frauen und Mädchen. Über die Dauerschleife Kopftuchdebatte werden sie, sofern sie Kopftuch tragen, ständig als Andere konstruiert und stigmatisiert, ihre Abwertung ermuntert zu diskriminierenden Handlungen ihnen gegenüber; Berufsverbote für kopftuchtragende Frauen und beschämende Kopftuchverbote für Schülerinnen sind bereits mehrheitsfähig in diesem Land. Dies hat weitreichende Folgen, denn in weiterer Konsequenz wird im Namen der Freiheit und des Fortschritts für Kleidervorschriften und die Entschleierung der Frau eingetreten. Gleichzeitig werden strukturelle Benachteiligungen der muslimischen Frau verschleiert. Sexismus und Rassismus als symbolische Ordnungskategorien müssen sowohl getrennt als auch miteinander verschränkt betrachtet werden.


3.1 Dominanzkultur in der Sozialen Arbeit

Struktureller Rassismus schreibt sich in die Alltagspraxen von Institutionen Sozialer Arbeit ein. Als Beispiele seien genannt: die Wohnungsvergabe nach Aufenthaltstitel oder aufgrund gesetzlich verankerter Nachweise von Deutschkenntnissen, Zugang zu Dienst- und Sozialleistungen abhängig von Aufenthaltsdauer oder Aufenthaltsstatus (z.B. Asylwerber_innen vom BHG), Kürzung der Mindestsicherung bei Nicht-Erfüllung der Integrationsvereinbarung usw. Da sich Sozialarbeiter_innen aufgrund ihrer Profession verpflichtet fühlen, alle Menschen gleich zu behandeln, werden Vorbehalte rationalisiert und im Sinne eines positiven Selbstbildes abgespalten (vgl. Rommelspacher 2012: 49). Fachkräfte rechtfertigen diese strukturellen Rassismen vor sich selbst sodann mit sogenannten Sachzwängen, einer Spardoktrin wegen der angeblichen Bedrohung des Sozialstaates oder dem Diskurs, Anreize für Integration schaffen zu wollen. Legitimiert durch Othering-Prozesse stellen sie rechtliche Ungleichbehandlung von „Fremden“ nicht länger infrage und führen diskriminierende Gesetze aus.

Auf institutioneller Ebene werden Migrant_innen tendenziell als Problemgruppe wahrgenommen. Nachweislich ist die Arbeit mit Migrant_innen von Regeleinrichtungen oft weniger erfolgreich, wobei die Gründe dafür meist in den „schwierigen“ Klient_innen, denn in behindernden Strukturen gefunden werden (vgl. Gaitanides 2004: 10). In der unmittelbaren Beziehung zwischen Klient_in und Sozialarbeiter_in zeigt sich, dass trotz des Paradigmas Lebensweltorientierung bestimmte Themenbereiche nicht angesprochen werden. Fremdenrechtliche Themen, Rassismuserfahrungen und eigene Privilegien werden kaum thematisiert. Diese Ignoranz gegenüber Lebensrealitäten kann als Sekundärrassismus bezeichnet werden und behindert professionelle Hilfe (vgl. Melter 2011: 284ff.). Melter führt dazu aus: „Das Ausmaß von Alltagsrassismus und die Bedeutung von Rassismuserfahrungen werden geleugnet oder infrage gestellt. Die Sprecher/-innen fühlen sich durch das Thema Rassismus indirekt oder direkt belästigt“ (Melter 2011: 285).

Rassistische Diskurse bringen ebenfalls spezifische Praktiken in der Sozialen Arbeit hervor, die man als Kulturalisierung sozialer Probleme bezeichnen muss:

„Debatten, die auf den Islam im Zusammenhang mit sozialen Problemen fokussieren, versuchen Erklärungen und Lösungsansätze mit Bezug auf eine Kultur von Eingewanderten zu begründen, die diese zeitlich und/oder räumlich von der eigenen Gesellschaft abtrennen.“ (Attia 2013: 344)

Oder in den Worten Birgit Rommelspacher: „Wir [Frauen, Anm. d. Verf.in] müssen uns fragen, inwieweit auch unsere Befreiungsphantasien von Dominanzwünschen getragen werden und ob auch wir damit die Vormachtstellung unserer Kultur den anderen gegenüber verteidigen möchten.“ (Rommelspacher 1995: 89) Wiederholt deuten Fachkräfte der Sozialen Arbeit beispielsweise Gewalt an muslimischen Frauen durchaus mit ihrer anderen Kultur – während bei autochthonen Familien, wie in der Sozialen Arbeit Usus, auf die soziale Lage bzw. patriarchale Machtverhältnisse als Erklärungsmuster fokussiert wird. In Anbetracht dieser Situation ist es ungleich schwieriger, für emanzipatorische Projekte wie Selbstorganisationen Fördergelder zu lukrieren, als für Opferprojekte, die Ursachen von patriarchaler Gewalt einem diffusen, kulturellen Ehrbegriff zuschreiben und Grenzen zwischen unseren und anderen Frauen ziehen.

Durch diesen Diskurs wird die Viktimisierung von muslimischen Frauen aufrechterhalten, sozialarbeiterisches Handeln als Rettung und Befreiung postuliert und Bevormundung legitimiert. Mit diesem Paternalismus wollen Selbstorganisationen brechen und fordern damit die Soziale Arbeit heraus. Rassismus ist kein Naturgesetz, sondern ein erlerntes Konstrukt, welches verinnerlicht tagtäglich von Menschen reproduziert wird. Nur ein Verständnis von Rassismus als System ermöglicht ein Entschlüsseln von rassistischen Diskursen und Praxen und eine (selbst)kritische Reflexion schafft die Voraussetzung zur Veränderung. „Verlernen [von Rassismus, Anm. d. Verf.in] erfordert ein aktives, kritisches Denken und Handeln, welches bereit dazu ist, das Risiko einzugehen, die eigene Position zu hinterfragen.“ (Castro Varela 2017: o.S.)


4. Bedeutung von SOMM für ihre Akteur_innen

„Organisationen von Migrant*innen werden gemeinhin nach ihrem Nutzen für die dominante Gesellschaft und aus deren Perspektive diskutiert.“ (Attia 2014: 311) In meiner Masterarbeit, Mittendrin – Bedeutungskonstruktionen von Musliminnen, Migrantinnen und geflüchteten Frauen über ihre Selbstorganisation (2016), ging ich der Frage nach, welche subjektiven Bedeutungen Akteurinnen von SOMM ihrer Selbstorganisation geben. Aus den Daten der Interviews mit acht Akteurinnen der Selbstorganisation wurden als die zwei zentralen Kategorien der Anerkennungskontext und die Handlungsmächtigkeit festgestellt, welche einander bedingen und durch die tägliche Arbeit in einem dialektischen Prozess gelingend entfaltet werden.


4.1 Anerkennung

Gemäß den Akteurinnen von SOMM wird der Anerkennungskontext durch Beziehungsgestaltung, gegenseitige Ermutigung, die Schaffung eines Ortes der Zugehörigkeit, die Gestaltung eines geschützten Raumes und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit begünstigt. Bei der Befragung betonte die Interviewpartnerin Sandra:3

„Es ist einzigartiger, liebevoller, wertschätzender Umgang miteinander. Es gibt meiner Ansicht nach überhaupt nichts Vergleichbares, es ist eine der wesentlichsten Quellen, aus der SOMM diese Energie schöpft. Das ist nicht vergleichbar mit irgendeinem kollegialen Umgang.“ (Al-Hussein 2016: 79)

Die Interviewpartnerinnen wiesen darauf hin, dass sie sich durch den respektvollen Umgang untereinander und die Wertschätzung ihrer Person in ihrer ganzheitlichen Identität und ihren Fähigkeiten ermutigt fühlen, an dieser Gesellschaft in verschiedensten Formen zu partizipieren. „Seitdem es SOMM gibt, ist SOMM meine Deckung. Was auch immer ich mache, ich denke immer, SOMM ist meine Versicherung, es ist in meinem Kopf, dass ich das irgendwie schaffen werde, weil ich Unterstützung habe. Es ist meine Stütze“ (Al-Hussein 2016: 114), sagte Aida. In den Interviews erklärten die Frauen, dass sie mitreden, mitentscheiden, sich engagieren, sich weiterbilden und arbeiten wollen. So konnten sie je nach Biographie ihre Ängste, ihre Ohnmachtsgefühle oder ihre Resignation überwinden und in eine Praxis des Handelns kommen.

Entscheidend für die interviewten Akteurinnen bei SOMM war, einen Ort der Zugehörigkeit gefunden zu haben. Dies ist besonders bedeutsam für Menschen mit Exklusionserfahrungen. Jamila beschrieb dies so: „Ich habe mich damals heimatlos gefühlt, vielleicht deshalb habe ich SOMM als Heimat genommen.“ (Al-Hussein 2016: 90) SOMM bietet den Frauen einen sicheren Ort: „Ich muss sagen, dass SOMM für mich mein Zuhause ist. Ich habe hier bei SOMM die Sicherheit in Österreich gefunden“ (Al-Hussein 2016: 93), sagte dazu Samira und sie meinte weiterhin: „Und diese Angst, die ich vorher gehabt habe, ist nicht mehr. Ich habe meine Angst schon verloren.“ (Al-Hussein 2016: 93) Die Befragten verstehen ihre Selbstorganisation als einen geschützten Raum, in dem sie mit ihren Lebensentwürfen nicht in Frage gestellt werden und Diskriminierungserfahrungen teilen. Gülnur sagte im Interview dazu:

„Dann entsteht eine Freundschaft da, durch die sie sich wohlfühlen und aus dem Herzen sprechen können. Das ist sehr wichtig für Leute, die als Migrantinnen da sind, die viel diskriminiert wurden und schon so viel erlebt haben. Dieses sich von der Seele reden können, damit sie dann wirklich zu einer starken Persönlichkeit werden.“ (Al-Hussein 2016: 95)

Wenn eigene Anstrengungen aufgrund von Unrechtsverhältnissen nicht zum Erfolg führen, kann dies ohne kritische Reflexion zu Verinnerlichung von rassistischen Zuschreibungen führen und soziale Scham, Isolation, Selbstentwertung und Krankheit bewirken. Anerkennungserfahrungen im geschützten Raum und die Entindividualisierung von Diskriminierungserfahrungen stellen sodann wesentliche Aspekte im Prozess der Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit dar. Hamida brachte es auf den Punkt: „Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eines Tages mir jemand gegenübersitzt und sagt: Du kannst das, du hast eine Chance hier weiterzuleben und gut zu leben.“ (Al-Hussein 2016: 97)

Dieser Prozess wäre weder mit individueller Anerkennung noch mit einem beratenden Angebot möglich, sondern kann sich nur in einer Dialektik zwischen kollektiver Praxis und Bewusstseinsbildung entfalten. Dabei geht es den Frauen weniger nur um eine persönliche Anerkennung, sondern sie zielen mit ihrem Engagement auf eine Anerkennung von muslimischen und migrantischen Frauen insgesamt ab. Es ist nicht einfach, sich zur Identität als Migrantin, als Geflüchtete zu bekennen, denn damit ist kein positives Sozialprestige, sondern ein niedriger gesellschaftlicher Status verbunden. Erst die zahlreichen Diskriminierungs- und Exklusionserfahrungen bringen Betroffene dazu, sich damit zu identifizieren und daraus eine Stärke zu entwickeln: „Je mehr kollektive Diskriminierungen aber in der eigenen Biographie entdeckt werden, desto eher wird auch eine Identifikation mit diesem Kollektiv notwendig; schon allein um die individuelle Selbstachtung zu wahren.“ (Rommelspacher 1995: 181) Aus den Aussagen der interviewten Akteurinnen lässt sich ableiten, dass Frauen mit Missachtungserfahrungen durch SOMM für sich einen Rahmen schaffen, innerhalb dessen sie an Selbstvertrauen und Selbstachtung gewinnen konnten. Durch die erfahrene Anerkennung fühlen sie sich ermutigt, Rechte und soziale Anerkennung einzufordern. „Man muss nicht still bleiben, man muss mit lauter Stimme sprechen. Wenn ich Recht habe, muss ich etwas dagegen machen. Das habe ich hier bei SOMM gelernt“ (Al-Hussein 2016: 122), erzählte Samira im Interview.


4.2 Handlungsmächtigkeit

Die Analyse des empirischen Materials hat gleichermaßen deutlich gemacht, dass SOMM sich nicht nur als Anerkennungskontext erfolgreich bewährt, sondern ebenfalls die Handlungsmächtigkeit der Akteurinnen und der Organisation stärkt. Die Selbstorganisation öffnet einen befähigenden Raum für Frauen, denen die Gesellschaft nicht ausreichend Chancen für ein gelingendes Leben bietet, begünstigt Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und stärkt ihre Handlungskompetenzen. Es zeigt sich, dass diese Wirkungen durch das Zusammenspiel von einer Gestaltung von anerkennenden Beziehungen in einem Kollektiv, den Bewusstwerdungsprozessen über Ursachen sozialer Ungleichheitsverhältnisse und der Möglichkeit der praktischen Erfahrungen durch konkretes Handeln erzielt werden können. Für bedeutend hielten die interviewten Akteurinnen die Lern- und konkreten Arbeitsmöglichkeiten bei SOMM und über ihre Netzwerke die Zugänge zu beruflicher Bildung, Praktika und Arbeit: „Auf der einen Seite haben wir in SOMM gearbeitet und auf der anderen Seite hat SOMM mich gebildet. Und das war großartig“ (Al-Hussein 2016: 108), meinte beispielsweise Hamida im Interview. Aspekte wie Widerstand gegen Diskriminierung, Sprechen bei Veranstaltungen, Beiträge bei einem Workshop, Organisation von Aktivitäten und Ermutigung zur Selbst-Repräsentation begünstigen die Stärkung von Handlungsmächtigkeit. „Wenn ich nur Samira M. bin, hat das keine Bedeutung, aber wenn ich Teil einer Organisation bin, ein Ziel habe, dann ist dann anders. Bestimmte Organisation: SOMM. Ich gehöre zu SOMM und SOMM gehört zu mir“ (Al-Hussein 2016: 85), sagte dazu Samira.

Es lässt sich festhalten, dass durch die Aktivitäten bei SOMM muslimische Frauen ihre Handlungsspielräume innerhalb der rassistischen Verhältnisse erweitern, sie sich neue Positionen im sozialen Raum erobern und sich in der Gesellschaft Platz schaffen – selbst wenn es noch nicht die Mitte ist. Auch in der Forschung ist dieser Aspekt bereits hervorgehoben worden: „Aus dem grundlegenden Bedürfnis von Menschen nach Orientierung, Schutz sowie nach Beziehungen wird durch die Selbstorganisation soziales Kapital.“ (Kocaman et al. 2010: 17) SOMM trägt als Selbstorganisation nicht nur zur Stärkung von kulturellem und sozialem Kapital, sondern auch von symbolischem Kapital von migrantischen und muslimischen Frauen bei. Dafür bedarf es einer Vielfalt an Angeboten, die sich in Theorie und Praxis sinnvoll ergänzen, und konkreter Betätigungsfelder für Frauen, verbunden mit Aufgaben und Rollenübernahmen. In diesem Feld kann sich Soziale Arbeit wirkungsvoll entfalten, weil sie auf die besondere Kombination von Einzelberatung, Begleitung, Gruppenaktivitäten, Kursen und Empowerment durch Übernahme konkreter Aufgaben zurückgreifen kann.

Die Akteurinnen sind sich den befähigenden und ermöglichenden Strukturen ihrer Selbstorganisation bewusst. Abhängig von der jeweiligen Biographie und dem Habitus gelingt es Frauen bei SOMM über Bewusstseins- und Ermächtigungsarbeit neue und positive Vorstellungen für die Zukunft zu entwickeln. Dadurch können sie gewohnte Routinen und reproduzierende Mechanismen verlassen, in rassistischen Verhältnissen ihre Handlungsmuster neu ausrichten und Möglichkeiten für ihr Leben in Betracht ziehen, die sie davor nicht zu denken wagten. Hamida formulierte es so: „Eine Türe geöffnet? Eine Grenze! Ich meine, größer als eine Türe. Eine große Hoffnung. Wie ein Licht in der Dunkelheit.“ (Al-Hussein 2016: 124) Wie sehr dies ihre Handlungsmächtigkeit stärkt, zeigt sich anhand von Aussagen, in denen Frauen davon erzählen, wie stark sie sich jetzt fühlen, sie sich öffentlich zu Wort melden oder Türen in die Gesellschaft öffnen konnten. So betonte Amina, die nie eine Schule besuchen konnte: „Ich bin so stark geworden, kein armer Mensch mehr.“ (Al-Hussein 2016: 115)


4.3 Grenzen bleiben aufrecht

Kritisch ist anzumerken, dass Strukturen gleichzeitig beschränkend wirken. Dies gilt auch für SOMM als eine Selbstorganisation. So sehr die Projektarbeit vielen Frauen Arbeitsmöglichkeiten eröffnet, so schließt sie dennoch auch jene aus, die zwar mit ihrem ganzen Herzen mit der Idee von SOMM verbunden sind, aber nicht die notwendigen hegemonial anerkannten Qualifikationen oder ausreichenden Sprachkenntnisse mitbringen, um die notwendigen Förderbedingungen zu erfüllen. Bezahlte Projektarbeit bedeutet, Bedarfe von Migrantinnen und ihre eigenen Lösungsansätze in einen formalen Rahmen zu gießen, zu dem Preis, dass sie nicht immer optimal den Bedürfnissen der Frauen, sondern dominanten Vorstellungen entsprechen. Möchte man diese Aktivitäten ohne Geld dennoch umsetzen, führt dies zu permanenten Spannungen zwischen bezahlter und ehrenamtlicher Arbeit im Verein.

Des Weiteren liegen die Grenzen einer Selbstorganisation in den prekären Arbeitsverhältnissen. Frauen leisten in unserer Gesellschaft ohnehin bereits weitaus mehr unbezahlte Arbeit als Männer – von Migrantinnen wird dies in einem noch höheren Ausmaß erwartet. Akteurinnen von SOMM bekamen in Fördergesprächen auf Stadtebene zu hören, sie mögen doch ihre gesellschaftlich wertvolle Arbeit unbezahlt leisten, denn Migrantinnen hätten ohnehin eine Bringschuld abzuarbeiten und sollten sich aus Dankbarkeit ehrenamtlich engagieren.

Nach Selbsteinschätzung der Interviewpartnerinnen findet ihr zivilgesellschaftliches Engagement, mit dem sie Lücken schließen, für die sonst kaum jemand Verantwortung tragen will, nicht ausreichend Anerkennung seitens politischer Verantwortungsträger_innen. Dies zeigt sich in der schlechten finanziellen Absicherung, den zu geringen Personalstunden und mangelhafter Infrastruktur. Der hohe Bedarf und die starke Nachfrage, kombiniert mit wenig Budget und beherztem Arbeiten mit viel Engagement führen zu permanenter Überarbeitung und Krisen von Mitarbeiterinnen. Die Arbeit in einer Selbstorganisation ist in hohem Ausmaß vom Einsatz ihrer Mitglieder abhängig, weshalb Ausfälle von wichtigen Akteurinnen existenzbedrohend sind.

Seit 2007 waren 62 Frauen bei SOMM angestellt, davon 53 Migrantinnen. Mehrheitlich konnten sie über die Selbstorganisation ihre Handlungskompetenzen derart erweitern, dass sie sich erfolgreich beruflich (weiter)bilden und am Arbeitsmarkt integrieren konnten. Dies beweist den Erfolg des Konzeptes von SOMM, bedeutet aber gleichzeitig für den Verein den stetig wiederkehrenden Abgang von Ressourcen. Dieser Widerspruch stellt für die Kontinuität der Arbeit eine große Herausforderung dar und konnte in all den Jahren nie zufriedenstellend gelöst werden.

Akteurinnen von SOMM gelingt es zwar, Zugang zu verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen zu finden, aber diese neu eroberten Räume können immer wieder nur mit beträchtlichen Anstrengungen besetzt werden. Besonders die Inklusion in die Arbeitswelt ist mit großen Anstrengungen verbunden, weshalb von einer bedingten Anerkennung und Handlungsmächtigkeit gesprochen werden muss. Akteurinnen von SOMM konnten ihr kulturelles und soziales Kapital über die Selbstorganisation stärken, aber inwiefern muslimische Frauen, die sich sichtbar zum Islam bekennen, dieses am Arbeitsmarkt auch verwerten können, hängt in rassistischen Verhältnissen nach wie vor in einem hohen Ausmaß von günstigen Gelegenheiten ab (vgl. Sprung 2011: 308).


5. Selbstorganisation und Rassismuskritik

Selbstorganisationen stellen ein Mittel der Selbstermächtigung von Menschen in benachteiligten Lebenslagen dar und leisten einen Beitrag zu mehr Verwirklichungschancen. Sie befähigen Menschen zu einem gelingenden Leben, dort wo gesellschaftliche Verantwortungsträger_innen aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend auf gleiche Rechte, Ressourcen und soziale Einschließung achten. Selbstorganisationen erreichen mit ihrer community-basierten Arbeit Menschen, die Regeleinrichtungen von sich aus gar nicht aufsuchen, und können einen Beitrag zu niederschwelliger Sozialer Arbeit leisten. Sie entsprechen passgenau dem Paradigma der Lebensweltorientierung und können durch ihre prinzipielle Sensibilität für Andere Barrieren wie Mittelschichtorientierung und Monolingualität minimieren.

Der Bedarf an selbstkritischer Reflexion über rassistische Verstrickungen ist evident. Selbstorganisationen können ein wichtiger Stakeholder für die Thematisierung oder auch den Abbau von sozialen Ungleichheits- bzw. rassistischen Verhältnissen sein. Kooperationen mit ihnen ermöglichen gegenseitige Lernprozesse und ein Verlernen von Rassismus, indem sie Einblicke in neue Lebenswelten ermöglichen, Verständnis dafür generieren sowie zu einer kritischen Selbstreflexion über eigene Vorurteile anregen. Dadurch können Viktimisierung überwunden und Zugänge zu Informationen und Ressourcen in erweiterter Form geschaffen werden. Dafür ist ein Hinhören auf die geäußerte Kritik durch Selbstorganisationen notwendig. Nichtsdestotrotz bleiben die Privilegien der Angehörigen der Dominanzkultur erhalten und können flexibel als symbolische Ressource im Kampf um Anerkennung eingesetzt werden – denn den Privilegierten steht es im Unterschied zu den De-Privilegierten frei, sich mit Rassismus zu beschäftigen oder nicht.

Selbstorganisationen von Migrant_innen und/oder Geflüchteten leisten Beiträge zu einem Perspektivenwechsel und begünstigen den Übergang von einem Adressat_innen- zu einem Akteur_innenkonzept. Durch ihr Vorgehen werden die Handlungsfähigkeit und Selbstdeutung der Handelnden und ihre Ressourcen in den Mittelpunkt gerückt. Die Gefahr eines paternalistischen und maternalistischen Wirkens, eine damit einhergehende Abwertung des Subjekts und eine Verhinderung von Eigenartikulation sind prinzipiell weitgehend ausgeschlossen. Mit Rekurs auch auf die Überlegungen von Yigit und Can beschreibt Annette Sprung dies wie folgt:

„Handlungsfähigkeit unter Bedingungen eingeschränkter Partizipationschancen wird günstigerweise in Räumen entfaltet, in denen Aspekte wie Selbstbestimmung sowie die Orientierung an Perspektiven von MigrantInnen im Mittelpunkt stehen […]. Dazu ist es vielfach notwendig, geschützte Settings unter Abwesenheit von Mehrheitsangehörigen zu schaffen. Derartige Angebote sind in Österreich zwar eher vereinzelt vertreten, z.B. durch Selbstorganisationen wie ‚SOMM‘ (Graz), die Workshops für muslimische Frauen durchführen.“ (Sprung 2011: 304f.)

Eine rassismuskritische Soziale Arbeit beinhaltet für die Entwicklung Sozialer Arbeit als Gerechtigkeitsprofession die Herausforderung, gesellschaftliche Machtverhältnisse und soziale Ein- und Ausschlüsse zu analysieren und eigene Verstrickungen zu erkennen. Dies ist eine Voraussetzung, um „Handlungsspielräume in rassistischen Verhältnissen erweitern zu können. Dekonstruktion von Rassismen erfordert aber auch ein Teilen von Macht.“ (SOMM 2015: 7) Akteurinnen von Selbstorganisationen wollen nicht nur als (unbezahlte) Zuarbeiter_innen zur Erreichung von Zielgruppen oder zur sprachlichen Unterstützung dienen, sondern mit ihrem migrations- und rassismusspezifischen Erfahrungswissen als Expert_innen anerkannt werden. Konkrete Möglichkeiten für das Teilen von Macht wären das Weitergeben von Erfahrungen und Informationen, das Herstellen von Kontakten zu förderrelevanten politischen Entscheidungsträger_innen, das Einbinden von Selbstorganisationen in Projekte, beispielsweise über Kooperationen, und das Teilen lukrierter Fördergelder durch die Bezahlung dieser Tätigkeiten. SOMM erfuhr diese Solidarität durch den Einschluss in EU-Partnerschaften oder auch durch gemeinsame Projekte mit etablierten Einrichtungen.4 Im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit sollten Regeleinrichtungen der Sozialen Arbeit sich für die politische und finanzielle Absicherung der Arbeit von Selbstorganisationen einsetzen. Iman Attia verweist auf die besondere Bedeutung von Selbstorganisationen für Partizipation, wenn sie schreibt:

„Insofern spielt die Selbstrepräsentation von Migrant*innen eine herausragende Rolle im gesellschaftlichen Partizipationsprozess. Der Erfahrung von Entmündigung und Entrechtung wird die Forderung nach Erfahrung von Selbsttätigkeit, Eigenverantwortung und Selbst- bzw. gesellschaftlicher Mitbestimmung entgegengesetzt.“ (Attia 2014: 322)


6. Begrenzung der Selbstorganisation SOMM

Analog zu den Zuschreibungen gegenüber muslimischen Frauen im Allgemeinen ist SOMM als Organisation selbst mit diversen Stereotypisierungen bis hin zur Infragestellung ihrer Existenzberechtigung konfrontiert. Für ein selbstorganisiertes Kollektiv von muslimischen Frauen, welches sich nicht nur der Hilfe für Schwestern in Notlagen verpflichtet fühlt, sondern sich lautstark für eine Veränderung von intersektional diskriminierenden Ungleichheitsverhältnissen einsetzt, gibt es aktuell wenig politisches Verständnis. In Form von Anschuldigungen gegenüber SOMM wurden diverse Othering-Prozesse gegenüber Muslim_innen aktiviert. So musste sich SOMM beispielsweise gegen die Unterstellung zur Wehr setzen, der Verein sei gegen das Recht auf Arbeit der Frau und befürworte Gewalt an Frauen, obwohl ihre Projekte vom Gegenteil zeugen. Der Ausgrenzungs- und Abwertungsprozess gegenüber SOMM wurde 2019 intensiviert und hat aktuell existenzbedrohende Ausmaße angenommen. In einer Medienkampagne wurde der Selbstorganisation von FPÖ und Kronen Zeitung Antisemitismus unterstellt, was über das politische Engagement von zwei Akteurinnen von SOMM, konkret ihrer Palästinasolidarität, konstruiert wurde. Diese Diskreditierung hatte zur Folge, dass SOMM ohne Vorankündigung und ohne eine Möglichkeit, sich zu Vorwürfen zu äußern, binnen drei Stunden aus einem städtischen Begegnungszentrum ausgeschlossen wurde.5

Die Botschaft dominanter Integrationsdiskurse scheint im Subtext eindeutig zu sein: Für muslimische Frauen und geflüchtete Menschen sind keine kollektiven emanzipatorischen Repräsentations- und Partizipationsformen in unserer Gesellschaft vorgesehen. „Eine Selbstorganisation muslimischer Frauen, die gesellschaftliche Partizipation beim Wort nimmt, passt nicht in die Kulturkampf-Schablonen“ (Suleiman 2019: 57), schreibt dazu SOMM-Mitglied Helga Suleiman in der aep. Bereits eroberte soziale Räume gingen wieder verloren. Die Akteurinnen der Selbstorganisation bezeichnen SOMM nun als heimatlos – welche große Bedeutung dies für sie hat, geht aus Interviewpassagen hervor, in denen sie SOMM als einen Ort der Zugehörigkeit in einer exkludierenden Gesellschaft beschreiben.

Wenn ich von der erreichten Anerkennung – so wenig gesichert diese auch sein mag – und Handlungsmächtigkeit der Akteurinnen von SOMM in rassistischen Verhältnissen gesprochen habe, so gilt dies also analog auch für ihre Selbstorganisation. Rassismus wurde wieder einmal von Profiteur_innen rassistischer und neokolonialer Verhältnisse als symbolisches Kapital eingesetzt. „Wer ist wichtig und anerkannt, wer hat Prestige, wer hat das Sagen, wessen Stimme wird gehört und welche wird zum Schweigen gebracht.“ (Rommelspacher 2011: 31) Kurzsichtig, wer denkt, dass neoliberale und rechtspopulistische Politik Halt mache bei Selbstorganisationen von Migrantinnen. Emanzipatorische Soziale Arbeit, die sich ebenfalls politisch äußert, wird so in ihre Grenzen verwiesen, woraus sich die Frage ergibt, wie politisch Soziale Arbeit in einem zunehmend neoliberal ausgerichteten gesellschaftlichen Kontext sein kann bzw. muss.

Nun ist offen, wie die Zukunft des Vereins aussehen wird und auch wer sich in welcher Weise solidarisch zeigt. Derzeit ist SOMM auf einige wenige Projekte reduziert, die in der Stadt verstreut sind. Damit wurde ein gelingendes Wirkungsfeld Sozialer Arbeit zerschlagen. In der nächsten Ausgabe dieses Journals soll der Verlauf der Marginalisierung analysiert und darüber berichtet werden, ob und wie die oben beschriebene Form der Ermächtigung von muslimischen Frauen im Kontext von SOMM weitergeführt werden konnte.


Verweise
1 https://www.youtube.com/watch?v=Fp3plGnzACQ.
2 Andere wird hier und in weiterer Folge bewusst kursiv gesetzt, um die Konstruktion von Wir und den Anderen zu verdeutlichen.
3 Sämtliche Namen der Interviewpartnerinnen sind Pseudonyme.
4 So z.B. in der Basisbildung, Lernwerkstätten oder auch dem Projekt Treffpunkt.Eltern mit dem Katholischen Bildungswerk (KBW).
5 Eine ausführliche Darstellung der Chronologie, der Medienberichte und Stellungnahmen rund um diese Ereignisse befinden sich auf der Homepage von SOMM.


Literatur

Al-Hussein, Roswitha (2016): Mittendrin – Bedeutungskonstruktionen von Musliminnen, Migrantinnen und geflüchteten Frauen über ihre Selbstorganisation. Unveröffentlichte Masterarbeit. FH JOANNEUM Graz.

Attia, Iman (2014): Eine vergleichende Einführung. Antimuslimischer Rassismus und Islamophobie bzw. Islamfeindlichkeit. https://www.migazin.de/2014/10/27/antimuslimischer-rassismus-und-islamophobie (15.02.2020).

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Über die Autorin

DSA Roswitha Al-Hussein, MA
roswitha.al-hussein@gmx.at

Beschäftigt bei alpha nova BetriebsgesmbH in der Fachstelle für Soziale Arbeit und Leitung von come in – WG (Inklusive Wohngemeinschaft für Menschen mit und ohne Fluchterfahrung), Gründungsmitglied von SOMM, ein Jahrzehnt in der Sozialen Beratung und im Projektmanagement bei SOMM aktiv, bis heute ehrenamtliche Vorstandsarbeit bei SOMM.