soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 23 (2020) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/661/1193.pdf


Johannes Vorlaufer:

Vom Hören des Anderen

Fragmente einer Phänomenologie des Hörens als Versuch eines Beitrags zur Grundlegung einer Sozialtherapie


1. Einleitung in die Fragestellung und die Methodik der Phänomenologie als Denken der Erfahrung

Gesprächsführung ist eines der zentralen Werkzeuge der Sozialen Arbeit. Und je mehr Soziale Arbeit Menschen nicht nur als Klient_innen verwaltet oder als zu funktionierende Subsysteme in Systeme einzubinden sucht, sondern ihrer Individualität Zeit und Raum gibt, d.h. sich der_m Einzelnen zuwendet, sich ihm_ihr zuneigt, desto wichtiger wird das Gespräch. Dieses ist dann mehr und anderes als nur ein Informationsaustausch. Und Sprache ist dann mehr und anderes als ein Mittel, Informationen über die_den Andere_n1 zu bekommen. Denn in der Sprache mag es sich je und je ereignen, dass bei aller professionellen Distanz Menschen einander begegnen. Versucht man, dieses Geschehen und ihre Erfahrungsdimension zu begreifen, wird diese Weise des Ein-ander-Gegenüberseins von Menschen, wird das Einssein ebenso wie die jeweilige Andersheit der_s Anderen in und aus dieser Begegnung zutiefst fragwürdig. Ja, Begegnung selbst kann sich dann in einer eigentümlichen Abgründigkeit zu erfahren geben, ist sie doch bei aller Notwendigkeit von Organisation und Management gerade das nicht Machbare und nicht Verfügbare.

Und das Hören? Ist Hören zureichend verstanden als vermittelndes Mittel-„Ding“ zwischen sprachlich-kommunikativem Input und Output? Ist es, weil wir stets irgendwie einander hören, auch selbst-verständlich? Oder aber ist der menschliche Grundvollzug des Hörens vielleicht doch verdeckt und bedarf es vielleicht deshalb eines immer neuen Nachdenkens, weil wir selbst Hörende sind und weil das Verhältnis unserer menschlichen Existenz zu unserem Hören ein geschichtlich sich veränderndes ist?

In der Gesprächsführungsliteratur wird zwischen unterschiedlichen Formen des Gesprächs ebenso wie zwischen unterschiedlichen Weisen des Hörens differenziert: So werden etwa Formen des aktiven und passiven Zuhörens in unterschiedlichen professionellen Gesprächsformen angewandt (vgl. grundlegend Rogers 1987) und Modelle, wie etwa das von Schulz von Thun (2019) entwickelte Vier-Ohren-Modell, helfen in der Praxis „richtig“ zu hören und Missverständnisse möglichst hintanzuhalten. Der folgende Gedanke sucht hier anzusetzen und der Frage nachzugehen, wie menschliches Hören, das empirisch-phänomenal gesehen ein vielfältiges ist – etwa ein Nicht-Hören, ein Hin-Hören, ein Zu-Hören, ein Weg-Hören, ein Sich-Verhören oder ein Falsch-Hören (vgl. Adorno 1976: 160) – zureichend als menschliches verstanden werden kann und inwiefern die Praxis eines professionell Sich-zu-neigenden-Hörens eine befreiende, d.h. Freiheitsmöglichkeiten fördernde und damit eine therapeutische Dimension enthält. Damit wird vorausgesetzt, dass, wenn wir ganz Ohr sind, anderes zur Sprache kommt als im gewöhnlichen Gespräch. Dabei erweist sich das Hören der_s Anderen in einer dreifachen Hinsicht als relevant für ein therapeutisches Gespräch: der Genitiv kann erstens als genitivus subjectivus, aber auch, zweitens, als genitivus objectivus zu verstehen sein. Drittens geht es aber auch darum, das Ungehörte als das Andere des Gehörten zur Sprache zu bringen.

Methodisch bedeutet dies, das Erfahrene auf seinen Ursprung hin zu bedenken, um der Gefahr eines intellektuellen Konstruierens, welches das zu Hörende überspringt, kritisch zu begegnen. Gleichzeitig muss vermieden werden, der versteckten Ideologie eines gedankenlosen und d.h. abstumpfenden Positivismus anheimzufallen, der seinen Gegenstand nicht denkt, sondern in seiner Faktizität verrechnet – mithin das je Gehörte immer nur aus dem zuvor schon Verstandenen begreift. Formal impliziert dies für die Methodologie, einerseits dekonstruierend, d.h. frei-legend vorzugehen, anderseits ontologisch zu denken. Dies meint, dem nachzudenken, was als Bewegendes überhaupt motiviert und den Weg als Antwort auf einen vorgängigen Anspruch zu begreifen. Damit sei aber auch das mögliche Missverständnis abgewehrt, Phänomenologie als bloße Beschreibung vorliegender Phänomene zu verstehen. Dieses methodische Unterfangen, der Versuch, je immer neu zu hören und aus dem Hören sich etwas – genauer: Ur-Sprüngliches – sagen zu lassen und gewissermaßen auf das Hören zu hören, verdankt sich wesentlich unterschiedlichen Entwürfen phänomenologischen Denkens und hat gegenwärtig etwa in der psychotherapeutischen Richtung der Daseinsanalyse einen Ort der Entfaltung gefunden.2 Ob auch die Soziale Arbeit solch ein möglicher Ort sein kann oder sogar soll, dies ist eine leitende Frage der vorliegenden Überlegungen.

Mit diesen vorbereitenden Überlegungen ist aber auch mitgesagt, dass menschliches Hören keine ungeschichtliche Konstante ist, sondern etwas subjektives, ein Moment unseres geschichtlich-gesellschaftlichen Selbstentwurfs. Wir werden hineingeboren in eine Welt der Sprache und der Deutung von Sprache, die uns in unserer Möglichkeit, und dazu gehört auch die Möglichkeit des Sich-selbst-Verstehens, zutiefst bestimmt. Adorno etwa hat darauf in seinem 1944 mit Hanns Eisler verfassten Werk Komposition für den Film hingewiesen:

„Die Anpassung an die bürgerlich rationale und schließlich hochindustrielle Ordnung, wie sie vom Auge geleistet wurde, indem es die Realität vorweg als eine von Dingen, im Grunde als eine von Waren aufzufassen sich gewöhnte, ist vom Ohr nicht ebenso geleistet worden. Hören ist, verglichen mit dem Sehen, ‚archaisch’, mit der Technik nicht mitgekommen. Man könnte sagen, daß wesentlich mit dem selbstvergessenen Ohr, anstatt mit den flinken, abschätzenden Augen zu reagieren, in gewisser Weise dem spätindustriellen Zeitalter und seiner Anthropologie widerspricht.“ (Adorno/Eisler 1976: 29)

Nicht ausgeschlossen ist daher, dass eine Besinnung auf das Hören, ungeplant und ungewollt, zu einem Ort des Widerspruchs gegen eine entfremdende Realität werden könnte.


2. Alltägliche Erfahrung und tradiertes Verstehen von Hören, Sprache und Gespräch

Nicht nur unsere alltägliche Erfahrung von Sprache, sondern auch die des Hörens ist vielfältig, vieldeutig und in geschichtliche Prozesse eingelassen. Fassen wir ein Gespräch als einen Austausch von Informationen, so entspricht dieses technische Verständnis einer Welt der Technik. Es ist deshalb nicht falsch, im Gegenteil, es ist richtig, weil es sich vorgängig nach dem richtet, was Welt uns eröffnet bzw. wie sie verschlossen ist. Richtige und falsche In-Formationen aber formen uns, Welt in einer bestimmten Weise zu verstehen. Ein „Informationsgespräch“ erschöpft sich in einer Auskunft, eine eindeutige Frage erwartet eine eindeutige Antwort. Und das hier praktizierte Hören hört das, was ausgesagt wird: es scannt das Gesprochene auf Brauchbares. Es überhört, was dem nicht entspricht, etwa Redundantes im Informationsfluss. In diesem Hören integrieren wir das Gehörte ins Verstandene, ordnen es entsprechend ein, unter oder zu. Dass Sprache ebenso wie Vernunft hier als Instrument gehandhabt wird, ist dem Geschehen immanent und vorausgesetzt. Eine andere Weise des alltäglichen Gesprächs scheint dem entgegen zu sein: Etwa als Small Talk suchen wir in ihm Unterhaltung und Amüsement. Hier wird nicht an der Eindeutigkeit des Begriffs gearbeitet, sondern in der Schwebe gelassen, was uns betreffen könnte. Im Small Talk wird eher zerredet, als dass sich die Beteiligten vom Gesprochenen in Anspruch nehmen lassen. Beiden Gesprächserfahrungen gemeinsam ist die zugrundeliegende Unterstellung des instrumentellen Charakters von Sprache. Überhöht und gesteigert wird dieser in unterschiedlichen Formen von Manipulation und Propaganda. Dabei wird aber nicht nur Sprache ihrer uns Menschen konstituierenden Funktion beraubt und zu einem uns im Grunde äußerlichen Instrument degradiert. Auch unser Hören wird ein uns Fremdes, in Begriffen Adornos, ein Regressives.3

Diese unterschiedlichen, hier nur angedeuteten alltäglichen Erfahrungen von Sprache, Gespräch und Hören korrespondieren einer von alters her üblichen Auslegung und begrifflich-sprachlichen Aneignung von Sprache, die in Philosophien und Wissenschaften explizit oder auch nur als Vorausgesetzte und Mitgesetzte implizit tradiert wird. Wie Martin Heidegger in Sein und Zeit anmerkt, wird Sprache in dieser Tradition als eine Form sinnlicher Wahrnehmung, zugeordnet dem Verlauten, vorgestellt (vgl. Heidegger 1979a: 163). Sprache ist uns dementsprechend ein System von Zeichen, die etwas bedeuten. Damit stellen wir sie uns implizit als etwas vorhanden Vorliegendes vor. Auf dieser Grundlage entfaltet sich die gängige Meinung von der Sprache erstens als Verlautbarung bzw. als lautliches Ausdrücken, zweitens als Betätigung von Sprachwerkzeugen und drittens als Mitteilung von Wirklichkeiten (vgl. Heidegger 1979b: 14).

Diese drei Momente einer Sprachauslegung sollen kurz skizziert werden. Das erste dieser drei Momente des Verständnisses von Sprache, die Vorstellung von Sprache als ein Sich-Ausdrücken im Sinne eines nach außen gekehrten Inneren, setzt bereits die Konzeption eines Ich voraus, mithin die Abstraktion von unserem Dasein in der Welt. Ein von der Welt und dem Mitdasein Anderer abstrahiertes, losgelöstes Ich ist aber eine Konstruktion, die nur unter „Laborbedingungen“ möglich ist, aber nicht unserer ursprünglichen Erfahrung entstammt. Wenn wir einander etwa so begegnen, dass wir uns „aussprechen“, so ist dieses Sich-Aussprechen gerade kein Ausdrücken eines Inneren, sondern Eröffnung eines Daseinsraumes, Erschließung und Gewährung von Zukunft, Aufschließung von Welt und so Ermöglichung eines gemeinsamen In-der-Welt-Seins.

Dem zweiten Moment dieser Sprachauslegung entsprechend wird Sprache als eine Tätigkeit des Menschen verstanden, als ein Instrument zur Verständigung mit seiner Umwelt. Dies aber setzt voraus, dass wir Wesen sind, die zwar vielleicht kommunikative Bedürfnisse haben, die aber im Grunde sprachlos sind. Denn hier wird Sprache erst nachträglich zu unserem Menschsein, gleichsam additiv hinzugedacht. Dagegen wäre aber zu fragen, ob wir nicht so sehr in der Sprache sind, dass wir erst aufgrund dieses In-Seins überhaupt Menschen sind und in unserer weltoffenen Bezüglichkeit konstituiert werden.

Der dritte Aspekt fußt auf der Vorstellung von Sprache als einem Vorstellen und Darstellen von etwas Wirklichem beziehungsweise Unwirklichem. Damit wird vorausgesetzt, dass Welt von vornherein als etwas Außersprachliches bestimmt ist. Gibt es aber für uns Menschen überhaupt schlechthin Außersprachliches oder ist nicht alles, was sich von uns benennen lässt, in Sprache gegeben?

Durch unsere alltägliche Spracherfahrung und Sprachauslegung ist unser Hören darin trainiert, das Verlautete zu hören. Hören wird als ein Vernehmen von Lauten, Geräuschen, Lärm, Klängen etc. vorgestellt. Das Verlautende, sofern es nicht die Grenzen unseres Hörbereiches unter- oder überschreitet, ist das prinzipiell Hörbare. Umgekehrt gilt: wo nichts verlautet, können wir auch nichts hören. Dies entspricht sicherlich unser alltäglichen Erfahrung, doch „nichts“ zu hören kann höchst Unterschiedliches meinen. Es reicht vom akustischen, physiologisch bedingten Unhörbaren bis hin zum Überhören oder das Nicht-Achten auf Hörbares. „Nichts“ zu hören kann aber auch ein positives Phänomen meinen und nicht einfach die Abwesenheit eines verlauteten Schalls. So können wir Stille hören und dies nach dem Versiegen der Lärmquelle als wohltuend erfahren. Das Nichts der Stille ist nicht einfach nichts, es erschöpft sich in der Wahrnehmung, nicht in der Negation von Lärm. Stille ist vergleichbar dem Schweigen in einem Gespräch oder der Pause in einem Vortrag oder in einem Musikstück.

Für den weiteren Verlauf dieser Überlegungen wird daher gefragt, ob nicht vor dem Horizont der traditionellen Auslegung von Hören nicht schon vorausgesetzt wird, was dies eigentlich sei. Ist es methodisch gesehen ausgehend von der tiefsten (d.h. uns Menschen eigentümlichen) Erfahrung her ausgelegt oder wird es verdinglicht aufgefasst als etwas, das vorliegt so wie beliebiges anderes auch? In der überlieferten Auslegung bleibt aber auch der innere Bezug von Sprache und Menschsein unbedacht und damit eine mögliche Auszeichnung des Menschenwesens durch Sprache ungefragt.


3. Hören und Leiblichkeit: Vom Hören unserer Ohren

Unser Sprechen und Hören ist offensichtlich ein durch und durch leibliches Geschehen: Wir sprechen mit dem Mundwerk und hören mit dem Ohr. In seinem umfangreichen Werk Grundriß der Medizin und Psychologie. Ansätze zu einer phänomenologischen Physiologie, Psychologie, Pathologie und Therapie und zu einer daseinsgemäßen Präventiv-Medizin hat der Psychiater Medard Boss (1999) gezeigt, wie unsere Körperlichkeit im Vollzug ihrer selbst (d.h. des Leibens) verschwindet. Dieses Verständnis ist nach Boss das entscheidende Fundament für das Verstehen eines heilenden Zugangs zu Klient_innen.

Dieser Zugang zu der Eigenart unseres leibhaftigen Lebens soll hier aufgegriffen und für die Frage nach dem Hören weitergeführt werden: Solange wir leiben, haben wir keinen Körper, ja die Körperlichkeit unserer leibhaftigen Existenz verschwindet in dem Maß, als unser Leben nicht gestört wird, solange der Leib also seine Organ- und Körperfunktion erfüllt. Am Beispiel des Hörens heißt dies: Solange wir im Gespräch mit anderen beim Besprochenen sind, solange wir also „ganz Ohr“ sind, haben wir keine Ohren – diese bleiben gewissermaßen unsichtbar im Hintergrund während unseres leibhaftigen Gesprächs. Erst dann, wenn die Ohren durch eine Fehlfunktion das Hören nicht mehr ermöglichen und das Gespräch in der Folge gestört ist, werden wir unsere Ohren als Körperorgane wahrnehmen – und beispielsweise den Arzt aufsuchen, um deren Organfunktion wiederherzustellen.

Wir könnten die hier auftretenden Fragen pointiert zusammenfassen und versuchen, sie weiterzuführen: Hören wir, weil wir Ohren haben, oder haben wir Ohren, weil wir hören? Mit dieser Frage wird das Hören unserer Ohren als ein spezifisch menschlicher Existenzvollzug zu erfragen versucht. In der alltagssprachlichen Formulierung „ganz Ohr sein“ wird sprachlich sichtbar, wie Leiblichkeit und Selbstheit zusammengehören.

In Sein und Zeit formuliert Heidegger nur verkürzt seinen Zugang zu einem anthropologischen Verständnis des Hörens. Er stellt dar, dass wir Menschen hören, weil wir verstehen: Das Hören ist „Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen.“ (Heidegger 1979a: 163) Hören ist demnach ein uns Menschen eigentümliches Können, eine Weise, wie wir unsere Existenz vollziehen, überhaupt in der Welt sind,4 wie wir das „In“ unseres „In-der-Welt-seins“ leiben. Damit ist auch gemeint, dass wir in allen Grundvollzügen unseres Lebens immer schon dem zu entsprechen suchen, was sich uns überhaupt als und in der Welt zeigt.5 Das Hören gehört demnach zu unserer Existenz und ist nicht nachträglich bzw. additiv unserer Existenz hinzugefügt. Wir sind Hören-Könnende – selbst wenn wir taub sein sollten und dann akustisch nicht hören können. In einer seiner Vorlesungen entfaltet Heidegger dies u.a. mit dem Hinweis auf die Taubheit Beethovens (vgl. Heidegger 1978: 87). Zwar hören wir durch die Sinne, also sinnlich, doch nicht das Ohr hört, sondern wir hören: „Wir hören allerdings durch das Ohr, aber nicht mit dem Ohr, wenn ‚mit’ hier sagt, das Ohr als Sinnesorgan sei das, was uns das Gehörte ermittelt.“ (Heidegger 1978: 87, Herv.i.O.) Wenn wir hören, dann heißt dies, dass das Gehörorgan zwar die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung für unser Hören ist. Was und wie das Ohr vernimmt „wird schon durch das gestimmt und bestimmt, was wir hören.“ (Heidegger 1978: 87) Wir hören – ausgenommen in einer künstlichen Einstellung z.B. unter Laborbedingungen – eben nicht Schallwellen, sondern das Läuten des Telefons, lachende Menschen etc. Wir halten uns also nicht bei Lauten auf, sondern beim Gehörten, beim Besprochenen, dem, was uns anspricht. Was immer wir hören, wir verstehen es auch irgendwie, wenn auch nur als etwas Unverständliches.

Als Hörende in der Welt zu leben meint daher ein vorgängiges, uns als Menschen bestimmendes Sich-Verstehen im Kontext Anderer, in deren Anspruch wir stehen. In diesem grundlegenden und vielfältigen Verstehen wird ein Offensein sichtbar: Bevor wir uns entschließen, uns der Welt oder den Menschen zu öffnen oder zu verschließen, leben wir schon in dieser Offenheit, aus der heraus wir in vielfältiger Weise angesprochen sind. Diese Vielfalt reicht von der Werbung und dem Interesse heischenden Versprechen der Waren über den Hilferuf Anderer bis hin zu jenem Abgrund, wo Ungesprochenes und das Zerbrechen des Wortes – etwa im Gedicht oder einem gelingenden Gespräch – uns anspricht. Günther Pöltner sagt daher vom Hören: „Hören besagt, ansprechbar sein von dem, was ist, offen sein für die Sprachlichkeit des Phänomens.“ (Pöltner 2018: 22, Herv.i.O.) Damit ist aber auch gesagt, dass die gängige Vorstellung eines Gesprächs als einer Abfolge von Hören und Sprechen zu kurz greift. Wenn nämlich Hören in der Offenheit des Menschen gründet, dem Umstand, dass er wesentlich unter dem Anspruch dessen steht, was ist, dann ist Hören ein Entsprechen, d.h. eine Weise des Antwortens.

Wenn Sprechen mehr und anderes ist als die Produktion von Schall, dann ist auch das Hören anderes als das Empfangen von Schall. Wenn z.B. Eltern an ihre Kinder appellieren, ihnen endlich zuzuhören, indem sie sagen: „Lass Dir doch etwas sagen!“, die Kinder aber sich dem Sich-etwas-sagen-Lassen verweigern, so wird deutlich, dass Hören und Sagen zusammengehören. Hören ist ein Sich-sagen-Lassen und Kinder, die sich dem Hören verweigern, wissen, dass Hören nicht einfach meint, Wörter ins Ohr zu lassen, noch gar bloßen Schall. Auch wenn wir etwa beim Namen gerufen werden, so wissen wir, dass wir je selbst gemeint sind: Wenn wir auf diesen Anruf nicht hören wollen und uns taub stellen, tun wir dies nicht, damit ein Ohrenarzt herbeigerufen wird, sondern weil wir in der Welt der Anderen nicht präsent sein wollen. 6

Wir hören mehr und anderes als das beste Schallwellenempfangsgerät je aufzeichnen könnte, denn wir hören nicht nur Sprachzeichen. Wir hören ebenso wenig nur das Gesagte, sondern stehen in der Möglichkeit, das Ungesagte zu hören. Wir hören nicht nur das Hörbare, sondern auch das Unhörbare und wir hören nicht nur Verlautetes als Lautgebilde, sondern wir hören einander und voneinander. In ausgezeichneter Weise geschieht dies im Gespräch, von dem Heidegger in den Zollikoner Seminaren sagt, dass in ihm die spezifisch menschliche Vollzugswirklichkeit von Sprache gründet: „Insofern der Mensch Mitsein ist, auf den Mitmenschen wesenhaft bezogen bleibt, ist die Sprache als solche Gespräch.“ (Heidegger 2006:183) Darüber gilt es im Folgenden nachzudenken.


4. Hören der_s Anderen: Das Ungehörte hören als ursprüngliche Gesprächserfahrung

Bestünde das Wesen der Sprache im Verlautbaren, also im Tönen, so bestünde ein Gespräch darin, dass wir einander antönen. Zwar kennen wir dies aus unserem Alltag: Gespräche, in denen wir zwar angetönt, mit Wörtern zuschüttet werden, wo es aber nichts zu sagen gibt und man sich nichts zu sagen hat. In solchen Gesprächen werden wir in eine Wüste hineingezogen, die uns erschöpft und vertrocknen lässt. Man kann dann noch so laute Töne produzieren, wir verstehen einander nicht. Sprache kann sich also aus dem Verlautbarten zurückziehen. Die Wörter sagen uns dann nichts mehr, sie dröhnen und bedrängen uns nur noch.

Ein gelingendes Gespräch unter Menschen ist also etwas anderes als ein gegenseitiges Sich-Antönen, es ist auch mehr als ein bloßes Nebeneinander-Reden, mehr als eine Abfolge von Verlautbarungen und Gehörtem. Ein Gespräch ist vielmehr eine bestimmte Weise des Miteinanderseins, ein Zueinander, wo wir einander etwas zu sagen haben.7 Im so verstandenen Gespräch sagen, d.h. zeigen wir einander etwas, nämlich das, worüber wir sprechen, das, was sich uns zeigt, was sich uns gemeinsam zeigt oder aber auch zeigend verbirgt. In einem Gespräch beziehen wir uns sprechend und d.h. hörend aufeinander und zueinander und verweisen einander auf das, was uns in diesem Miteinander trägt: den gemeinsamen Grund unseres Miteinanderseins und -sprechens. Nur wenn wir hörend uns dem Sich-Zeigenden öffnen, d.h. wenn wir uns dem im Gespräch Besprochenen hörend zuwenden, wenn wir in diesem Sinne beim Besprochenen sind, sind wir auch bei unserem Gegenüber. Das wiederum heißt: Nur wenn wir in einem Gespräch, in dem wir über etwas sprechen, uns von dem Besprochenen des Gesprochenen hörend in Anspruch nehmen lassen, hören wir auch wirklich Jemandem zu. In diesem hörenden Lassen ereignet sich in ausgezeichneter Weise eine menschliche Begegnung. Es ist ein Miteinander-Sein, bei dem es um etwas uns Gemeinsames geht.

Es gibt nun auch Gespräche, wo wir nicht nur über etwas sprechen, sondern von etwas, genauer: nicht über uns, sondern von uns. Dies sind Gespräche, in denen wir uns nicht nur miteinander auf etwas uns Gemeinsames, ein uns gemeinsames Drittes beziehen, sondern den Bezug, in dem wir stehen und aus dem heraus wir miteinander über etwas sprechen können, selbst zur Sprache zu bringen suchen: wir sprechen zu uns im Sinne von zu uns. In diesem Zu-Einander als einer möglichen Weise des Mit-Einanders ist die_der Andere je selbst als sie_er selbst in ihrem_seinem Selbstsein angesprochen. Wo und wann immer dieses Sprechen zueinander und Hören voneinander glückt, ereignet sich ein Zu-Spruch, der die_den Andere_n in ihrem_seinem – wiederum verbal zu verstehenden – Wesen berührt. In diesem Berührt-Werden ist das zentriert, was man das menschliche Erfahren nennen könnte und was sich in dem unerschöpflichen und deshalb immer wieder zitierten Vers in Friedrich Hölderlins Friedensfeier manifestiert:

„Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
erfahren der Mensch.“ (Hölderlin 2014: 341)

Es gibt Gespräche, wo es um uns selbst geht. In solchen Gesprächen lassen wir uns von dem ansprechen, was unser Selbst-Sein bestimmt. Die alltägliche, in ihrem Erfragten gerne überhörte Frage „Wie geht es Dir?“ mag ein Beispiel für eine Frage sein, die ein solches Gespräch eröffnen kann. Zugleich ist sie aber auch ein Beispiel dafür, dass wir alltäglich stets auf der Flucht vor der Tiefe der eigenen Frage sind, und dass unser Hören deshalb ein Überhören ist. Denn in dieser Frage geht es um die Fülle, aber auch um die Abgründigkeit unseres Daseins. Das Erfragte ist übermächtig, zu viel für unser gewöhnliches Sprechen, Hören und Miteinandersein. So wie diese Frage die gewohnte Weise des In-der-Welt-Seins stört, vermag sie aber auch, wenn wir uns auf sie einlassen, den Beginn eines anderen In-der-Welt-Seins zu eröffnen. Vielleicht könnte gerade das Hören auf diese Frage im Kontext eines fürsorgenden Miteinander-Seins eine ähnliche Tiefe menschlichen Existierens freilegen, wie es sonst nur die Dichtung vermag.8

Worum geht es, wenn wir – wie selten auch immer – im Gespräch einander hörend nach uns selbst fragen? Im sachlichen – also vergegenständlichenden – Gespräch über einen Sachverhalt können, ja müssen wir uns selbst ausblenden als die, die nicht nur sprechen, sondern stets schon in ihrem ganzen Dasein versuchen, dem zu entsprechen – und ihre Existenz auf das hin zu entwerfen suchen –, wer wir sind und sein können. In dem Maß, in dem es um den Anspruch geht, unter dem unser Existieren als solches steht – der oftmals als An-Ruf oder auch als Zu-Ruf oder Zu-Spruch (etwa in einem professionellen Gespräch) erfahren werden kann –, ist das Worum des Gesprächs nicht mehr einfach die Richtigkeit des Ausgesagten, sondern die Wahrheit – verstanden als Unverborgenheit – unseres Wesens. Ebenso geht es nicht mehr um einen Informationsaustausch, sondern um Selbst-mit-Teilung, Teilung unseres Selbst-Seins als Teilnahme am Sein der_s Anderen. Das Etwas, das die_der Andere sagt, tritt in den Hintergrund, es verschwindet gewissermaßen und wir hören ihn selbst.

Dieser An-Spruch ist uns mit unserer Existenz mitgegeben als ein spezifisch menschliches Können bzw. Vermögen, unser Existieren zu übernehmen. Denn wir sind uns anders gegeben als vorhandene Dinge – diese sind sich selbst ja gerade nicht gegeben. Wir aber sind uns selbst als Auf-Gabe gegeben, sind wesentlich die, die auf sich selbst hören müssen, um ein menschliches Leben ein gelingendes werden zu lassen. Das Hören auf diesen Anspruch ist ein Hören auf ein Lautloses, man könnte es nennen: ein Ungehörtes, das sich zwar vernehmen lässt, uns aber nicht als Lautgebilde vorliegt. Dieses Ungehörte ist das, was in allem alltäglichen Leben unausgesprochen, unthematisch mit-gehört wird. Das unausdrücklich aber implizit Mit-Gehörte kann aber auch ausdrücklich erfragt und explizit thematisiert werden.

Im Rückblick auf den einleitenden Hinweis, dass das Hören der_s Anderen dreifach zu verstehen sei, wird nun die Notwendigkeit sichtbar, das Hören als das Hören der_s Anderen zu begreifen. Das Andere des Gehörten: Im „Un“ des Ungehörten und „Un“ des Ungesprochenen, d.h. in dem, was aus der Perspektive des Lautlichen uns entzogen ist, waltet ein Bezug zu uns, der unser Gespräch trägt. Ein Be-zug, der uns in das zieht, woher die Sprache spricht. Je mehr wir uns in ein Gespräch einlassen, desto mehr ist dieser Bezug erfahrbar.9 Dies zeigt sich etwa daran, dass nur in einem gelingenden Gespräch ein Schweigen und nicht bloß ein Verstummen möglich ist. Wenn der zu Lebzeiten zumeist verkannte österreichische Philosoph Ferdinand Ebner am 8. September 1917 in seinen Tagebuchaufzeichnungen notiert: „Groß, fast könnte es einem scheinen unendlich groß ist der Missbrauch, den der Mensch mit dem Worte treibt. […] Durch […] das Schweigen muß er hindurch, um das rechte Wort zu finden“ (Ebner 1949: 111), so weist diese Notiz einen Weg, der wohl auch für das professionelle Gespräch helfender Berufe ein entscheidender ist. Ebner markiert den Unterschied zwischen einem Gespräch aus der Haltung der Gesammeltheit oder der Zerstreutheit (vgl. Vorlaufer 2012).


5. Schlussbetrachtung: Inwiefern ist das Hören des Ungehörten ein Moment einer Sozialtherapie?

Geht es in einem professionellen Gespräch innerhalb der Praxis der Sozialen Arbeit nicht nur darum, etwas, sondern „sich selbst“ (vgl. Thomä 1998) zu erzählen, so ist Sprache hier nicht einfachhin aus dem alltäglichen Vorverständnis bzw. aus dem Verständnis eines alltäglichen Sprechens zu begreifen. Ebenso hört dieses Hören anders und anderes als das gewöhnliche Hören. Denn nur wer hören kann, hat etwas zu sagen.

Insofern Soziale Arbeit sich als eine Sozialtherapie versteht, wie es etwa die Klinische Soziale Arbeit explizit tut, ist ihr Hören eines, das sich öffnet für das Ganze und den Grund der_s Anderen. Ihr Hören ist eines, das die_den Anderen in ihrem_seinem Grund-Vollzug verstehen möchte. Dieses Hören öffnet sich der Frage nach unserer Existenz und unserer unumgänglichen Weise, diese selber zu übernehmen. Damit löst sich die Praxis des Handelns einer Sozialen Arbeit von vielfach vorgegebenen Nützlichkeits- und Zielerreichungsmustern: In ihrem Tun bewirkt sie nicht einfach etwas innerhalb eines normierten Wirklichkeitsverständnisses, sondern ihr Tun ist beinahe ein Nicht-Tun: ein Vollbringen. Dort, wo das Hören in die abgründige Existenz der_s Anderen hört, verhilft die Soziale Arbeit dem Gegenüber nicht nur dazu, „etwas“ zu tun, sondern den Bezug zum Ganzen offenbar werden zu lassen und zu übernehmen, d.h. diesen Bezug zu vollbringen. Das Hören des Ungesagten als das Vermögen, die_den Anderen in ihrem bzw. seinem Anwesen gegenwärtig, d.h. (aktiv!) sein zu lassen, ist eine Gabe im Sinne eines apriorischen Sich-selbst-gegeben-Seins. Im Kontext Sozialer Arbeit kann dies etwa ethisch als Auf-Gabe diskutiert werden und auf seine vielschichtigen und alltäglich vielfältigen Dimensionen hin befragt werden kann.

Das intendierte Verstehen der_s Anderen ist hier ein qualitatives Mehr als das bloße Subsumieren des Gehörten unter definierte Begriffe, d.h. mehr als die Konstruktion von Begriffen und Oberbegriffen zum Zweck eines klassifizierenden Ordnens. Insofern deckt sich die Praxis therapeutischen Hörens nicht mit einem wissenschaftlichen Objektivierungsprozess. Für die Praxis einer Sozialen Arbeit ist eher relevant, was Heidegger in Unterwegs zur Sprache schreibt: „[E]s könnte förderlich sein, wenn wir uns abgewöhnen, immer nur das zu hören, was wir schon verstehen.“ (Heidegger 1979b: 160) Auf wissenschaftstheoretischer Ebene reflektiert bedeutet dies: Soziale Arbeit als wissenschaftliches Vergegenständlichen muss, soll ihr Bezug zur Praxis nicht gelöst werden, in gewisser Weise gegen ihr identifizierendes Denken andenken. Eine solche Denkfigur kann als negative Dialektik im Sinne Adornos verstanden werden. Diese will, wie hier nur angedeutet werden kann, begreifend den Begriff in seine Erfahrung freigeben. Sie unterwirft sich nicht der Herrschaft des vorstellenden Begriffs, sondern versucht „in das ihr Heterogene sich [zu] versenken, ohne es auf vorgefertigte Kategorien zu bringen.“ (Adorno 1977: 24) Sie lässt sich verstehen als die „Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen.“ (Adorno 1977: 27)

Die Praxis eines Hörens, das nicht objektiviert, sondern die Weite und Freiheit des Existierens freigibt, mag als therapeutisches Hören bezeichnet werden. Dessen heilende Dimension kann darin gesehen werden, dass das „In“ unseres In-der-Welt-Seins neu erfahren und bedacht wird. Während im vorherrschenden Verdinglichungsprozess Dinge und Menschen nicht um ihrer selbst willen bejaht und zugelassen werden, sondern stets Bewertungsprozessen unterworfen sind, die uns Menschen uns selbst ebenso wie den Mitmenschen und der Natur entfremden, lässt das hier angesprochene Hören die_den Anderen selbst präsent sein. Im offenen Raum des Da wir selber sein zu dürfen, ist jene seltene Erfahrung, in der das Mitsein mit Anderen kein Nebeneinander oder Gegeneinander ist, sondern sich als ein Sein durch einander erweist. Es ist ein Sich-gegeben-Sein und -Werden durch die_den Andere_n. Sozialtherapie meint dann die Eröffnung eines ganzheitlichen Bezugs zu Anderen.

Dem korrespondiert ein Verständnis von Krankheit, das sich nicht vom Nichtfunktionieren von Organen her bestimmt, sondern den Menschen als ein Wesen begreift, das als solches in einem offenen Bezug auf Welt und Mitmenschen hin existiert. Krankheit lässt sich, wie es in dem von Lammel und Pauls herausgegebenen Sammelband zur Sozialtherapie heißt, „als Resultat von Passungsstörungen oder -verlusten auf der somatischen, psychischen und sozialen Systemebene verstehen und ist damit grundsätzlich biopsychosozial zu verstehen.“ (Lammel/Pauls 2017: 30) Passungsstörungen sind – vorausgesetzt, sie werden nicht technisch-funktional verkürzt vorgestellt – Störungen der Befindlichkeit, d.h. der Weise, wie wir uns in der Welt finden oder verlieren. Denn Welt ist nicht einfach eine Schachtel, in der wir vorhanden sind, sondern als ein Zeitspielraum unser Aufenthaltsort, in dem wir mit- und durcheinander je die werden können, die wir sind. Das Vermögen dieses Könnens, d.h. dieser Ermöglichung ist eine Gabe, mit der wir als Menschen begabt sind. Ich möchte meine Überlegungen mit einem kurzen Zitat Martin Bubers aus seiner Schrift Urdistanz und Beziehung schließen. Dort heißt es in der Schlusspassage:

„[Der Mensch] schaut […] heimlich und scheu nach einem Ja des Seindürfens aus, das ihm nur von menschlicher Person zu menschlicher Person werden kann; einander reichen die Menschen das Himmelsbrot des Selbstseins.“ (Buber 1978: 36f)

Jenseits aller gesellschaftlichen Affirmationszwänge bereitet sich ein Ja-Sagen, ein Bejahen unseres Daseins vor, das Verstrickungen unserer geschichtlichen Existenz, Verstockungen und Verhärtungen im Vergangenen oder Zukünftigen, lösen kann. Das Hören eines therapeutischen Gesprächs kann zum Raum werden, in dem wir uns als zu uns selbst freigegeben und ermächtigt erfahren.


Verweise
1 Im fortlaufenden Text wurde eine geschlechtsneutrale Schreibweise angestrebt, im Titel die der philosophischen Tradition entsprechende Rede von dem Anderen beibehalten. Dieser Terminus bezeichnet nicht nur den leibhaft-geschlechtlichen Menschen, sondern wesentlich (auch) die Andersheit des jeweils Anderen in seiner geschlechtlichen (und anderen) Differenzierung. Deshalb sollte der tradierten Schreibweise auch nicht von vornherein unterstellt werden, sie nehme Geschlechterdifferenzen nicht ausreichend wahr.
2 Wegweisend dazu die Arbeiten von Pöltner (1993, 2004 und 2018). Zur Interpretation des Hörens im Kontext der phänomenologischen Ontologie Heideggers vgl. die ausführliche Studie von Espinet (2016). Eine phänomenologische Interpretation des Hörens bei Kant verfolgt die Arbeit von Wucherer-Huldenfeld (1998). Eingebettet in fundamentale Überlegungen sind auch die Entwürfe von Waldenfels (2000). Grundlegend zur Rezeption in der daseinsanalytischen Psychotherapie vgl. Boss (1999) und Condrau (1990). Eine ausgezeichnete Einführung in die Grundlagen dieses therapeutischen Denkens gibt Helting (1999).
3 Vgl. Adorno (1990: 36): „Mit der Produktion hängt das regressive Hören durch den Verbreitungsmechanismus sinnfällig zusammen: eben durch Reklame. Regressives Hören tritt ein, sobald die Reklame in Terror umschlägt: sobald dem Bewußtsein vor der Übermacht des annoncierten Stoffes nichts mehr übrigbleibt als zu kapitulieren und seinen Seelenfrieden sich zu erkaufen, indem man die oktroyierte Ware buchstäblich zur eigenen Sache macht. Im regressiven Hören nimmt die Reklame Zwangscharakter an.“
4 Darauf, dass dieses apriorische In-Sein „in“ der Welt nicht mit einem Vorhanden-Sein in der Welt verwechselt werden darf, sei hier nur prophylaktisch hingewiesen.
5 Zur Interpretation unserer Leiblichkeit aus der angedeuteten Weltoffenheit vgl. Pöltner (1986) und Wucherer-Huldenfeld (1986).
6 In der Vorlesung Was heißt Denken? heißt es daher: „Wenn wir unmittelbar Gesprochenes unmittelbar hören, dann hören wir weder zunächst Worte als Wörter, noch gar die Wörter als bloßen Schall.“ (Heidegger 1971: 88)
7 Vgl. Heidegger (1979b: 253): „Zueinandersprechen heißt: einander etwas sagen, gegenseitig etwas zeigen, wechselweise sich dem Gezeigten zutrauen. Miteinandersprechen heißt: zusammen von etwas sagen, einander solches zeigen, was das Angesprochene im Besprochenen besagt, was es von sich her zum Scheinen bringt.“
8 Zum Begriff der Fürsorge, wie er diesem Gedanken zugrunde liegt vgl. Fehér 2003.
9 Vgl. dazu Heidegger (1971: 110): „Jedes Gespräch kommt indessen sogleich ins Stocken und ins Fruchtlose, wenn es sich nur im unmittelbar Gesprochenen einrichtet und sich darin versteift, statt daß die Sprechenden durch das Gespräch sich wechselweise erst in den Aufenthaltsort einlassen und sich zu ihm hinbringen, von dem her sie jeweils sprechen. Dieses Sicheinlassen ist die Seele des Gespräches. Es führt die Sprechenden ins Ungesprochene.“


Literatur

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Über den Autor

Prof. (FH) Mag. Dr. Johannes Vorlaufer, Jg. 1959
johannes.vorlaufer@fh-campuswien.ac.at

Studium der Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaft und Theologie in Wien und München, Promotion 1986.
Derzeit Lehrender an der FH Campus Wien im Bachelorstudiengang Sozialarbeit und im Masterstudiengang Sozialraumorientierte und klinische Soziale Arbeit, zuvor Unterrichtstätigkeit am Institut für Philosophie der Universität Wien, in Einrichtungen der Erwachsenenbildung und an AHS. Publikationen u.a.: Das Sein-lassen als Grundvollzug des Daseins. Eine Annäherung an Heideggers Begriff der Gelassenheit, Passagen, Wien 1994; Personales Selbstsein. Phänomenologische Versuche zum Wesen menschlichen Daseins, tredition, Hamburg 2010; Im Anspruch des Anderen. Beiträge zur sozialphilosophischen und ethischen Dimension der Sozialen Arbeit, Shaker, Aachen 2011.