soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 23 (2020) / Rubrik "Junge Wissenschaft" / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/662/1195.pdf


Antonia-Christina Dallinger, Michael Mörtl amp; Sophie-Thérèse Lenauer:

Herausforderungen in der medizinischen Versorgung von illegalisierten Menschen in Wien


1. Einleitung

Das in den Menschenrechtsinstrumenten der Vereinten Nationen festgehaltene Recht auf Gesundheit wird in der österreichischen Gesetzgebung nicht allen Menschen gewährt. Illegalisierte Menschen verfügen in der Regel über keine Krankenversicherung (vgl. Ingleby/Petrova-Benedict 2016: 15). Die medizinische Versorgung dieser Personengruppe ist in Österreich vor allem in Notfällen vorgesehen. Laut dem „Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz“ (KaKuG, §23, Abs. 1) darf unbedingt notwendige erste ärztliche Hilfe in öffentlichen Krankenanstalten niemandem verwehrt werden.

Neben Behandlungen in Notfällen gibt es zwei weitere Bedingungen, unter denen eine medizinische Behandlung illegalisierter Personen ermöglicht werden kann:

„,Augen zudrücken’ und Leistungen erbringen in dem Wissen, dass sie nicht bezahlt werden; übergeordneter karitativer Auftrag der Organisation, z. B. für konfessionelle Häuser“ (Karl-Trummer/Metzler/Novak-Zezula 2009: 6).

In Wien leisten AmberMed, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien und das neunerhaus Gesundheitszentrum eine medizinische Grundversorgung für Menschen ohne Versicherungsschutz.

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, welche Herausforderungen bei der medizinischen Behandlung illegalisierter Menschen bestehen und beleuchtet Versorgungslücken sowie Besonderheiten in der Behandlung der Zielgruppe. Dabei stützen wir uns auf Daten, die im Rahmen der Gruppenbachelorarbeit Herausforderungen in der medizinischen Versorgung von illegalisierten Menschen in Wien (2019) erhoben wurden. Hier wurden Expert*inneninterviews mit Vertreter*innen dieser drei Stellen geführt, um der Frage auf den Grund zu gehen, welche Herausforderungen aktuell in der medizinischen Versorgung von illegalisierten Menschen in Wien bestehen. Um unterschiedliche professionelle Perspektiven einfließen zu lassen, wurde mit je einer*m Ärzt*in und einem*r Sozialarbeiter*in aus dem neunerhaus Gesundheitszentrum und dem Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien ein Interview geführt. Das Interview bei AmberMed erfolgte mit der Einrichtungsleitung/Sozialarbeiterin. Für die Datenauswertung wurde die Methode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring herangezogen (vgl. Atteslander 2010: 212f.).

Eingeleitet wird der Artikel mit einer Vorstellung der Zielgruppe, relevanten Begriffsdefinitionen und rechtlichen Grundlagen. Darauffolgend werden die Ergebnisse der empirischen Forschung präsentiert: Die Angebote der drei beforschten Stellen werden vorgestellt und infolgedessen Lücken und Herausforderungen im existierenden Angebot erörtert.


2. Besonderheiten der Zielgruppe

Der Begriff illegalisierte Menschen beschreibt jene Personen, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in einem Land aufhalten und aus diesem Grund keinen Zugang zum Gesundheitssystem, Schulsystem, Arbeitsmarkt und zu etwaigen anderen staatlichen Institutionen haben. Er umfasst also die ökonomischen und politische Strukturen, die mit der Zuschreibung „ein Mensch sei illegal“ einhergehen (vgl. Messinger 2000: 12). Der Begriff schließt diejenigen, die durch einen illegalen Grenzübertritt in das Land gekommen sind, genauso ein, wie jene, die auf legalem Weg migriert und später zu sogenannten overstayers (Ingleby/Petrova-Benedict 2016: 9) geworden sind.

Illegalisierte Personen stellen durch ihre schwere Erreichbarkeit eine wenig beforschte Zielgruppe dar. Es ist kaum Literatur vorhanden, die sich mit ihrer Gesundheit befasst. In diesem Bereich besteht also ein hoher Forschungsbedarf. Auch die Expert*innen ergaben in der Befragung an, dass es nicht möglich ist, eine konkrete Prozentzahl von illegalisierten Personen unter ihren Patient*innen zu nennen. Der befragte Arzt und die befragte Ärztin berichten einheitlich, dass sie selbst in den meisten Fällen nicht wissen, ob die Patient*innen einen Versicherungsschutz oder legale Aufenthaltsdokumente besitzen. Diese Informationen sind erst bei Inanspruchnahme entsprechender sozialarbeiterischer Leistungen relevant (vgl. Iv 4: 112–114; Iv 5: 94, 228–231).

Illegalisierten Menschen droht bei ihrer behördlichen Erfassung meist die Abschiebung. Daraus resultiert eine große Angst, im Zuge einer ärztlichen Untersuchung dokumentiert zu werden. Die aktuell verschärfte politische Lage trägt außerdem durch vermehrte polizeiliche Personenkontrollen zu dieser Angst bei (vgl. Iv 1: 143–148). Zudem führen prekäre Lebenssituationen dazu, dass die Behandlung gesundheitlicher Beschwerden oft nicht im Fokus steht. Andere basale Bedürfnisse wie Essen, Wohnen und Kleidung werden als vorrangig erachtet. Dies kann sich negativ auf den Verlauf bestehender Krankheiten auswirken (vgl. Iv 1: 71–77; Iv 2: 306–313). Darüber hinaus unterscheidet sich der Aufbau des Gesundheitssystems einzelner Länder global gesehen sehr stark. Illegalisierte Menschen kennen sich häufig nicht mit dem österreichischen Gesundheitssystem aus, woraus eine Orientierungslosigkeit resultiert (vgl. Iv 2: 380–384, 706–715).


3. Recht auf Gesundheit?

Der in diesem Artikel verwendete Gesundheitsbegriff orientiert sich an der Gesundheitsdefinition der World Health Organization (WHO 2018):

„Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity. The enjoyment of the highest attainable standard of health is one of the fundamental rights of every human being without distinction of race, religion, political belief, economic or social condition.“

Gesundheit ist demnach nicht nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern ein Zustand kompletten physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens. Jeder Mensch hat ein fundamentales Recht auf die höchstmögliche zu erreichende Gesundheit.

Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR 1948) wurde am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der UNO verabschiedet und beinhaltet insgesamt 30 Artikel. Sie umfasst neben dem Recht auf Leben und Freiheit, dem Verbot der Diskriminierung und Folter, dem Recht auf Arbeit und Bildung auch das Recht auf soziale Sicherheit sowie auf Gesundheit und medizinische Versorgung:

„Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen.“ (AEMR 1948, Art. 25, Abs. 1)

Die Mitgliedstaaten der UNO haben die Pflicht, die Einhaltung dieser Rechte und Freiheiten zu schützen, zu fördern und zu gewährleisten (AEMR 1948, Präambel). Im Jahr 1966 wurden die Menschenrechte im „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ (ICESCR; Sozialpakt) und dem „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ (ICCPR; Zivilpakt) konkretisiert und somit völkerrechtlich verbindlich (vgl. Benedek 2017: 46). Im Sozialpakt wird der Gesundheitsbegriff im Vergleich zur WHO, die von einem „Zustand des vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ (WHO 2018) ausgeht, jedoch weniger präzise ausgeführt: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an.“ (ICESCR, Art. 12, Abs.1)

Das erreichbare Höchstmaß bezieht sich auf die körperliche und geistige Gesundheit, nicht aber auf die soziale Gesundheit. Im Art. 12, Abs. 2 des Sozialpaktes werden des Weiteren Schritte genannt, die von den Vertragsstaaten zur vollen Verwirklichung dieses Rechts unternommen werden müssen. Diese umfassen u.a. die Sicherstellung von medizinischen Einrichtungen und ärztlicher Betreuung im Krankheitsfall (vgl. ICESCR, Art. 12, Abs. 2). Ebenso erkennen die Vertragsstaaten das Recht einer*s Jeden auf soziale Sicherheit an; dieses schließt die Sozialversicherung ein (vgl. ICESCR, Art. 9). Die Einhaltung und der Schutz der Menschenrechte werden durch sogenannte Staatenberichte kontrolliert. Die Vertragsstaaten haben die Pflicht, in regelmäßigen Abständen Berichte über getroffene Maßnahmen, erreichte Fortschritte und Schwierigkeiten bei der innerstaatlichen Umsetzung der in dem Pakt anerkannten Rechte vorzulegen (vgl. ICESCR, Art. 16). Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) prüft, bewertet und kommentiert diese Staatenberichte (vgl. DIMR 2018).

Die Republik Österreich hat den „Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ (ICESCR) im Jahr 1978 ratifiziert. Dieser Staatsvertrag wurde vom Nationalrat mit „Erfüllungsvorbehalt“ genehmigt und ist durch die Erlassung von innerstaatlichen Gesetzen zu erfüllen. Er begründet somit kein subjektives Recht, steht nicht im Verfassungsrang und ist „nicht unmittelbar anwendbar“ (vgl. ICESCR; Hengstschläger/Leeb 2012: 12). Lediglich das „Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz“ erwähnt das Recht einer medizinischen Versorgung in Notfällen: „Unbedingt notwendige erste ärztliche Hilfe darf in öffentlichen Krankenanstalten niemandem verweigert werden.“ (KaKuG, § 23, Abs. 1)

Das österreichische Gesundheitssystem basiert auf einem Pflichtversicherungssystem. Dies bedeutet, dass man in Österreich automatisch versichert ist, wenn man erwerbstätig ist, da ein Teil der gezahlten Steuern an die Pflicht-, also die Sozialversicherung geht. Für Arbeitslose, Pensionist*innen und Selbstständige gibt es Sonderregelungen, welche die Versicherung dieser Personen sicherstellen. Jede erwerbstätige Person zahlt ihrer finanziellen Möglichkeiten entsprechend in den gleichen „Geldtopf“ ein und diese Summe wird dann wiederum für diejenigen, die es benötigen, ausgegeben – unabhängig davon, wieviel er*sie beigesteuert hat (vgl. BMG 2013: 11). Durch dieses Konzept sollen die drei Grundwerte des österreichischen Bundesministeriums für Gesundheit – Solidarität, Universalität und Leistbarkeit – erfüllt werden (vgl. ebd.: 11).

Menschen ohne gesetzliche Krankenversicherung können freiwillig eine Selbstversicherung abschließen (vgl. BMDW 2020). Asylwerber*innen und Personen mit gültigem Aufenthaltsstatus sind automatisch versichert (vgl. Hofmarcher-Holzacker 2013: 100). Trotzdem gibt es immer wieder Menschen, die keinen oder einen erschwerten Zugang zum österreichischen Gesundheitswesen haben. Ursache hierfür können fehlende finanzielle Mittel, die beispielsweise eine Selbstversicherung nicht ermöglichen, oder ein ungültiger Aufenthaltstitel aufgrund eines „illegalen Aufenthalts“ sein. Für eine Selbstversicherung ist zudem ein Wohnsitz in Österreich vorzuweisen (vgl. BMDW 2020). Daher sind illegalisierte Personen von dieser Möglichkeit ausgeschlossen.


4. Behandlungsmöglichkeiten für Menschen ohne Versicherung in Wien

In Wien gibt es drei große ambulante Einrichtungen, die sich der Aufgabe der medizinischen Versorgung nicht-versicherter und somit auch illegalisierter Personen angenommen haben: das Projekt AmberMed, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder und die Organisation neunerhaus. Zusätzlich gibt es mobile Versorgungsangebote wie den Louisebus der Caritas.


4.1 AmberMed

AmberMed liegt im 23. Wiener Gemeindebezirk und teilt sich das Gebäude mit dem Medikamentendepot des Roten Kreuzes Österreich (vgl. AmberMed 2020a). Im Rahmen dieser Kooperation bietet die Einrichtung die Medikamentenhilfe an. Personen ohne Versicherungsschutz haben so die Möglichkeit, im Zuge einer Behandlung medikamentös versorgt zu werden und andere notwendige Arzneimittel, die (extern) verschrieben wurden, aus dem Depot zu erhalten (vgl. Iv 1: 77–79). Patient*innen können gebührenfrei und ohne Termin während der Öffnungszeiten, von Montag bis Donnerstag, eine allgemeinmedizinische ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen (vgl. AmberMed 2020b, 2020c). Die Einrichtung ist auf die Bereiche Pädiatrie sowie Gynäkologie spezialisiert, wodurch Mutter-Kind-Pass Untersuchungen und Schwangerschaftsbegleitungen durchgeführt werden können (vgl. Iv 1: 44f., 283).

Angestellt sind gesamt sechs Personen (vgl. ebd.: 113–133). Die Einrichtung stützt sich vorwiegend auf die freiwillige Mitarbeit von Ärzt*innen, Dolmetscher*innen und Assistent*innen (vgl. ebd.: 31). Des Weiteren gibt es Kooperationen mit Labors für Blutuntersuchungen und den Diagnosezentren Meidling und Urania, für Fälle, in denen bildgebende bzw. radiologische Diagnostik für die Diagnosestellung notwendig ist (vgl. Iv 1: 250). Das Angebot von AmberMed umfasst neben den medizinischen Fachbereichen auch kostenlose Sozialberatungen mit einem*r Sozialarbeiter*in. Bei diesen Beratungen liegt der Schwerpunkt vor allem auf der Chancenabklärung für eine (Re)Integration in das Versicherungssystem (vgl. ebd.: 31–35).


4.2 Krankenhaus der Barmherzigen Brüder

Die Barmherzigen Brüder sind ein christlicher Orden, der weltweit 455 Einrichtungen in 53 verschiedenen Staaten führt (vgl. Barmherzige Brüder Österreich o.J.). Das Ordensspital in Wien befindet sich im 2. Wiener Gemeindebezirk und bietet seit 1614 Pflege, Betreuung und Beratung an. Ihre Dienste sind für alle, also auch für Personen ohne Versicherungsschutz, zugänglich. Zu den Öffnungszeiten kann jede*r unangemeldet ärztliche Behandlung in Anspruch nehmen. Die Notfallabteilung ist jeden Tag 24 Stunden einsatzbereit (vgl. ebd.).

Das Angebot beinhaltet, zusätzlich zur allgemeinen Ambulanz, unterschiedliche Fachbereiche. Darunter eine Gehörlosenambulanz, Hals-Nasen-Ohren-Abteilung, Chirurgie, Neurologie und eine Ambulanz für mehrfach- und schwerbehinderte Patient*innen (vgl. Barmherzige Brüder Krankenhaus Wien o.J.; Iv 5: 56–60). Bei Bedarf stehen für Patient*innen über 400 Spitalsbetten zur Verfügung (vgl. Barmherzige Brüder Krankenhaus Wien o.J.). Die im Krankenhaus tätigen Sozialarbeiter*innen übernehmen vor allem das Entlassungsmanagement, die Prüfung auf das Recht von Leistungen und die trialogische Funktion der Vermittlung zwischen Patient*innen, Krankenhaus und Angehörigen (vgl. Iv 3: 2–17). Außerdem sind sie für die Abklärung von Ansprüchen auf Versicherungsleistungen in Österreich oder im Heimatland zuständig (vgl. Iv 5: 69–78).


4.3 neunerhaus Gesundheitszentrum

Die Organisation neunerhaus befindet sich im 5. Wiener Gemeindebezirk und wurde 1999 von Bürger*innen ehrenamtlich gegründet. Zusätzlich zur Wohnungslosenhilfe umfasst das Angebot auch ein Gesundheitszentrum (vgl. neunerhaus o.J.). Grundsätzlich hat jeder Mensch die Möglichkeit, in das Zentrum zu kommen, sich Informationen zu holen und ein sozialarbeiterisches Gespräch zu führen. Die Leistungen können also sowohl von versicherten wie auch nicht-versicherten Menschen in Anspruch genommen werden (vgl. Iv 4: 423).

In der Wiener Versorgungslandschaft für nicht-versicherte Menschen übernimmt das neunerhaus bewusst die hausärztliche Funktion. Es wird Wert daraufgelegt, den Patient*innen ihre Erkrankung und deren Folgen zu erläutern, ihnen Orientierung im österreichischen Gesundheits- und Versicherungssystem zu geben sowie eine beständige Betreuung zu bieten (vgl. Iv 2: 496–502). Allgemeinmedizinisch wird alles angeboten, wozu die Ressourcen und die Kapazitäten ausreichen (vgl. Iv 4: 174–175). Alle zwei Wochen haben die Patient*innen vom neunerhaus Gesundheitszentrum die Möglichkeit, das Angebot einer augenärztlichen Untersuchung wahrzunehmen (vgl. ebd.: 46–48). Zusätzlich gibt es im Gesundheitszentrum eine Zahnarztpraxis. Die dort ehrenamtlich behandelnden Zahnärzt*innen bieten alle Leistungen an, welche in einer regulären Ordination von der Krankenkasse finanziert werden (vgl. Iv 4: 71). Bei allen medizinischen Problemen und diagnostischen Methoden, die über das Angebotsspektrum vor Ort hinausgehen, wird auf das erarbeitete Fachärzt*innen-Netzwerk zurückgegriffen (vgl. ebd. 182–188). Kooperationen mit dem Diagnosezentrum Urania und labors.at stellen eine große Ressource dar. (vgl. ebd.: 72–75).

Alle drei Einrichtungen werden teils durch Spenden, den Fonds Soziales Wien und Zuschüssen der Wiener Gebietskrankenkasse finanziert. Eine medizinische Grundversorgung nicht-versicherter Personen liegt im Interesse der Wiener Gebietskrankenkasse, weil dadurch die Zahl teurer Akutbehandlungen dieser Personengruppe in staatlichen Krankenhäusern verringert wird. Die Finanzierung von medizinischen Einrichtungen für nicht-versicherte Patient*innen stellt demnach eine Kosteneinsparung für das Gesundheitssystem dar (vgl. Iv 2: 427–438)


5. Versorgungslücken

Die Auswertung der Interviews hat gezeigt, dass zu den größten Herausforderungen in der gesundheitlichen Versorgung illegalisierter Menschen medizinische Leistungen zählen, die für illegalisierte Personen bzw. Nicht-Versicherte gar nicht, nur schwer oder mit etwaigen Hürden zugänglich sind. Solche Lücken existieren in den Bereichen Chirurgie (orthopädische Chirurgie, Unfall- und Kieferchirurgie), psychologische Betreuung und Psychiatrie, bei der Behandlung von chronischen Erkrankungen, in der Onkologie sowie in der Pflege und Nachsorge. Folgend werden diese Versorgungslücken für illegalisierte Menschen ausgeführt.

Das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder kann gewisse medizinische Eingriffe bis hin zur Herzoperationen durchführen (vgl. Iv 3: 302–203). Herausfordernd sind dahingegen orthopädische Beschwerden oder Unfallverletzung von Personen ohne Versicherung. Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder gibt es keine Abteilung für Unfallchirurgie oder Orthopädie und Patient*innen werden für solche Anliegen in ein Unfallkrankenhaus weitervermittelt (vgl. ebd.: 300–302; Iv 5: 126–128, 193–195). Laut dem Arzt des Krankenhauses kann es dabei allerdings vorkommen, dass die Patient*innen aufgrund ihrer fehlenden Versicherung von den anderen Krankenhäusern abgewiesen werden (vgl. Iv 5: 168–170). Im Akutfall ist ein solches Vorgehen problematisch (vgl. ebd.: 309–311).

Das neunerhaus Gesundheitszentrum hat für orthopädische Operationen eine Kooperation mit dem orthopädischen Spital Speising, allerdings ist das Kontingent für solche Eingriffe begrenzt (ca. zwei bis vier Mal im Jahr) (vgl. Iv 4: 184–186). Für Personen ohne Versicherung gibt es allgemein keine Garantie dafür, dass aufwendige Operationen durchgeführt werden können. Im Bedarfsfall wird von Professionist*innen versucht, mit den Krankenhäusern und nicht-versicherten Menschen in Dialog zu treten und eine Lösung für eine Behandlung zu finden (vgl. Iv 3: 300–304; Iv 2: 148–149). Für eventuell anfallende Kosten „lässt sich erfahrungsgemäß immer eine Lösung finden“ (Iv 5.: 166). Das neunerhaus hat einen Schwerpunkt auf Zahnmedizin. Es können dort Weisheitszähne entfernt werden, große kieferchirurgische Eingriffe sind allerdings nicht möglich (vgl. Iv 2: 517–518). Die Einrichtung vermittelt in solchen Fällen zur Universitätszahnklinik (vgl. ebd.: 520).

In der psychologischen, psychotherapeutischen und psychiatrischen Betreuung herrscht ein Mangel an Versorgungsmöglichkeiten für Personen ohne Versicherung (vgl. Iv 2: 142–143, 852). „Psychiatrische Versorgung ist schon für versicherte Menschen nicht leicht zugänglich. Hat man ein akutes psychiatrisches Problem, hat man einen Termin für in ein paar Monaten zu suchen“ (ebd.: 854–855), betont die Sozialarbeiterin vom neunerhaus. Begründet wird dieser Umstand mit einem Ärzt*innenmangel in diesem Bereich (Iv 1: 222, 231). Das neunerhaus kooperiert bei psychischen sowie psychiatrischen Problemen mit dem Psychosozialen Dienst (vgl. ebd.: 144; Iv 4: 197–198). Dort werden Menschen unabhängig von ihrem Versicherungsstatus behandelt (vgl. ebd.: 271–272). AmberMed hat zwei Fachärzt*innen der Psychiatrie und einen Kinder- und Jugendpsychiater in ihrem ehrenamtlichen Team (vgl. Iv 1.: 221–222, 229–233). Dieses Angebot ist jedoch „quantitativ eingeschränkt“ (vgl. ebd.: 233–234).

Der Zugang zu aufwendigen Behandlungen, die bei schwerwiegenden und chronischen Erkrankungen notwendig sind, ist mit gewissen Schwierigkeiten verbunden und vom Einzelfall, den Finanzierungsmöglichkeiten sowie Entscheidungen der öffentlichen oder privaten Krankenhäuser abhängig. Es gibt beispielsweise kein Angebot für kostenlose Chemotherapie für nicht-versicherte Krebspatient*innen. Die Sozialarbeiter*innen erklären, dass die Möglichkeit für eine solche Behandlung im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder aufgrund der hohen Kosten nicht für alle besteht. Es gibt ein Auswahlverfahren, wobei die Lebenssituation, die Art der benötigten Chemotherapie, das Stadium der Krebserkrankung sowie die Erfolgswahrscheinlichkeit berücksichtigt werden. Die Entscheidung trifft die kaufmännische Direktion gemeinsam mit den Ärzt*innen und der Krankenhausleitung (vgl. Iv 3.: 241–242). Finanziert werden diese Behandlungen dann vom Orden (vgl. ebd.: 229–245).

In den Einrichtungen neunerhaus und AmberMed kann eine Chemotherapie für nicht-versicherte Patient*innen nur in Einzelfällen organisiert werden. Die größte Problematik besteht in der Finanzierung. Genauer gesagt ist die Möglichkeit einer Chemotherapie abhängig davon, ob ein Krankenhaus oder Privatspital gefunden werden kann, welches sich bereit erklärt, die Kosten für die onkologische Behandlung zu übernehmen. Die Einrichtungen übernehmen hier die Aufgabe, bei den Krankenanstalten anzufragen und die Patient*innen bei einer Zusage der Kostenübernahme dorthin zu vermitteln (vgl. Iv 1: 300–206; Iv 2: 573–579; Iv 4: 223, 241–245). Wenn Patient*innen schon einmal in einem Spital akut oder stationär behandelt worden sind, kann es sein, dass das Krankenhaus die Kosten für weitere Therapien übernimmt (vgl. ebd.: 223–230); dies ist jedoch vom Einzelfall abhängig (vgl. ebd.: 225–226).

Die Interviews mit den Expert*innen haben gezeigt, dass fehlende Angebote im Bereich der Pflege und Nachsorge für nicht-versicherte Menschen „aktuell die größte Lücke“ (Iv 3: 408) darstellen. Der Bedarf an solchen Angeboten ist sehr hoch, auch weil die Klient*innen vermehrt ein höheres Alter erreichen (vgl. Iv 4: 416–417). Besonders aus medizinischer Sicht ist es wichtig, dass Patient*innen nach einer schweren Operation oder Erkrankung weiter betreut werden und zumindest eine Schlafmöglichkeit haben. Fakt ist allerdings, dass es in Wien keine einzige Einrichtung gibt, die Personen ohne Versicherung eine pflegerische Betreuung, beispielsweise nach einem längeren Krankenhausaufenthalt, ermöglicht (vgl. Iv 3: 65–67, 79–80). Im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder spüren die Sozialarbeiter*innen einerseits den Druck vom Spital oder der Station, Patient*innen zu entlassen, wenn diese keine medizinische Behandlung mehr benötigen (vgl. ebd.: 67–71). Andererseits gibt es keine Möglichkeit der Weitervermittlung und Betreuung für pflegebedürftige nicht-anspruchsberechtigte Menschen (vgl. ebd.: 79–80). Diese Problematik besteht schon seit einiger Zeit und bisher übernimmt niemand für das fehlende Angebot die Verantwortung. Die Sozialarbeiterinnen des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder begründen damit auch, dass noch keine entsprechende Einrichtung geschaffen wurde (vgl. ebd.: 80, 399–400). Es gibt zwar Einrichtungen wie das VinziBett oder die Zweite Gruft, die nicht-anspruchsberechtigte Klient*innen in Notsituationen kurzfristig eine Unterbringung und Versorgung bieten. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass keine Pflegebedürftigkeit besteht (vgl. ebd.: 402–408).

Weitere Herausforderungen sind im Bereich der Nachsorge feststellbar. Davon betroffen sind vor allem Menschen, die einen Schlaganfall, Herzinfarkt, einen Unfall oder eine größere (orthopädische) Operation hatten. Es gibt kein Angebot an Physio- oder Ergotherapie sowie an Reha für nicht-versicherte Patient*innen (vgl. Iv 1: 264–267; Iv 4: 253–258, 286–288). Auch Hausbesuche können nicht durchgeführt werden (vgl. Iv 1: 209–210, 267–268); Ausnahmen gibt es nur ganz selten (vgl. Iv 4: 259). Die Ärztin des neunerhaus Gesundheitszentrum erzählt, dass die Nachfrage nach solchen Therapieangeboten aber groß ist. Aktuell ist nur im neunerhaus, als einziger der befragten Einrichtungen, ehrenamtlichen ein Physiotherapeut tätig (vgl. ebd.: 254–256). Dieser kann allerdings auch nicht mit mehr als einer Person gleichzeitig arbeiten (vgl. ebd.: 187–189).

In den oben genannten medizinischen Bereichen gibt es Leistungen, die nur in Einzelfällen angeboten werden. Manche Behandlungen können außerdem hohe Kosten für die Patient*innen verursachen. Benötigte finanzielle Ressourcen sind bei der Zielgruppe aber oftmals nicht vorhanden (vgl. Iv 2: 319–320). In manchen der von den Expert*innen beschriebenen Fälle wurden jedoch folgende Lösungen gefunden: Es wurde eine Ratenzahlung oder ein „symbolischer Beitrag“ (Iv 1: 259) vereinbart; die Rechnung wurde von der medizinischen Einrichtung übernommen oder eine Stundung beantragt (vgl. ebd.: 258–259; Iv 2: 561–562; Iv 5: 244–246); Leistungen wurden außerdem durch Spenden finanziert oder ein Pharmaunternehmen erklärte sich dazu bereit, anfallende Kosten zu begleichen (vgl. Iv 1: 512–513; Iv 2: 583–586). Beim Schwangerschaftsabbruch gibt es der Sozialarbeiterin des neunerhaus zufolge beispielsweise keine Möglichkeit einer kostenfreien Behandlung. Somit muss auf die oben genannten Maßnahmen zurückgegriffen werden (vgl. Iv 2: 555–558). Der Arzt des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder weist außerdem darauf hin, dass die Hemmschwelle der beforschten Gruppe, medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen, aus Angst vor einer hohen Rechnung steigt (vgl. Iv 5: 70–71).


6. Sprachliche Herausforderungen

Die Kommunikation zwischen Ärzt*in und Patient*in spielt für die Behandlung eine zentrale Rolle. Wie die Leiterin des neunerhaus Gesundheitszentrums betont, kann es vorkommen, dass Behandlungen mangels Übersetzung nicht durchgeführt werden können (vgl. Iv 2: 208–210). Um Sprachbarrieren bestmöglich zu überwinden, wurden unterschiedliche Herangehensweisen bzw. Lösungsversuche entwickelt. Diese sind stark von dem jeweiligen finanziellen Spielraum der Einrichtung abhängig.

AmberMed greift zur Übersetzung der am häufigsten gebrauchten Sprachen auf ehrenamtliche Dolmetscher*innen zurück (vgl. Iv 1: 67–71). Die Einrichtung bietet an jedem Wochentag ein anderes Übersetzungsangebot an (vgl. AmberMed 2020b). Als Nachteil dieser Herangehensweise nennt die Leiterin von AmberMed, dass für selten gesprochene Sprachen keine Übersetzung möglich ist (vgl. Iv 1: 60–65).

Das vom neunerhaus Gesundheitszentrum verwendete Videodolmetsch-System bietet Übersetzungen in insgesamt 50 verschiedenen Sprachen an. Davon sind 20 Sprachen jederzeit verfügbar, für alle weiteren ist eine Terminvereinbarung erforderlich. Neben dem breiten Übersetzungsangebot hat dieses System den Vorteil, dass alle Dolmetscher*innen fachspezifisch geschult sind. Die Expertinnen des neunerhaus Gesundheitszentrums berichten, dass dadurch komplexe medizinische Inhalte bzw. psychisch belastende Thematiken in allen angebotenen Sprachen besprochen werden können (vgl. Iv 2: 672–698; Iv 4: 289–301). Das Videodolmetsch-System ist allerdings sehr teuer und somit beispielsweise für AmberMed nicht leistbar (vgl. Iv 1: 60–65).

Das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder verfügt über eine Liste aller Mitarbeiter*innen, die über Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Diese können als Dolmetscher*innen hinzugezogen werden, wenn eine Übersetzung benötigt wird. Zusätzlich wird ein Telefondolmetsch-System verwendet, welches laut der interviewten Sozialarbeiterin jedoch nur eine stark begrenzte Auswahl an Sprachen bietet (vgl. Iv 3: 307–316). Der interviewte Arzt kritisiert zudem eine schlechte Sprachqualität und lange Wartezeiten. Er berichtet, dass Patient*innen aus diesem Grund häufig selbst Dolmetscher*innen mitbringen müssen oder andere wartende Patient*innen, die sich zur Übersetzung anbieten, herangezogen werden (vgl. Iv 5: 286–296).

Beim Vergleich der unterschiedlichen Herangehensweisen lässt sich feststellen, dass Videodolmetsch die umfassendste und effizienteste Lösung darstellt. Der hohe Preis des Angebots führt allerdings dazu, dass es nicht für jede Stelle leistbar ist. Ehrenamtliche Dolmetscher*innen stellen eine kostensparende Alternative dar, können jedoch nur eine vergleichsweise niedrige Bandbreite an Sprachen abdecken. Das Telefondolmetsch-System weist Mängel in Bezug auf die angebotenen Sprachen, die Qualität der Anrufe und die Wartezeit auf. Die Variante, Angestellte oder Patient*innen zum Zweck einer Übersetzung hinzuzuziehen, kann laut Sozialarbeiterin des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder keine professionelle Übersetzungsarbeit ersetzen (vgl. Iv 3: 311f.).


7. Sozialisationsbedingte Herausforderungen

Sozialisationsbedingte Herausforderungen in der medizinischen Behandlung illegalisierter Patient*innen ergeben sich häufig durch kulturelle und strukturelle Unterschiede zwischen Österreich und den Herkunftsländern der Patient*innen und können die Behandlung erschweren. Illegalisierte Menschen kennen sich häufig nicht mit dem österreichischen Gesundheitssystem aus und haben Angst, damit in Kontakt zu kommen (vgl. Iv 2: 380–384). Laut der Sozialarbeiterin des neunerhaus Gesundheitszentrums ist auf diesem Gebiet ein Mangel an Aufklärung festzustellen (vgl. ebd.: 706–715). Illegalisierte Menschen sind von behördlicher Erfassung und Abschiebung bedroht (vgl. Iv 1: 364). In den medizinischen Einrichtungen sind sie allerdings geschützt, weil Datenschutzrichtlinien die Weitergabe von Patient*innendaten an die Behörden verbieten (vgl. Iv 3: 99–106). Dennoch führt die Angst vor rechtlichen Auswirkungen dazu, dass viele illegalisierte Patient*innen erst im äußersten Notfall eine*n Ärzt*in aufsuchen. Der Arzt aus dem Krankenhaus der Barmherzigen Brüder betont, dass ursprünglich einfach zu behandelnde Erkrankungen dadurch ein lebensgefährliches Ausmaß erreichen können und auf der Intensivstation behandelt werden müssen (vgl. Iv 5: 70–75, 217–218).

Lebensstil und Krankheitswahrnehmung der Patient*innen können ebenfalls zu Herausforderungen in der Behandlung illegalisierter Menschen führen. Die prekäre Lebenssituation vieler illegalisierter Menschen kann langfristige Auswirkungen auf den Gesundheitszustand haben (vgl. Iv 3: 193–195). Die Ärztin des neunerhaus Gesundheitszentrums weist darauf hin, dass Ernährung ein Teil des Lebensstils ist, zu dem Personen mit unterschiedlicher kultureller Prägung und Bildungsniveau verschiedene Zugänge haben. Daher darf beispielsweise nicht davon ausgegangen werden, dass jede diabeteskranke Person weiß, wie schädlich Zucker für ihn*sie ist (vgl. Iv 4: 305–308, 312–315).

Kulturelle Gegebenheiten können laut der Sozialarbeiterin des neunerhaus Gesundheitszentrums dazu führen, dass gewisse Erkrankungen bzw. Beschwerden nicht beim Namen genannt werden. Menstruationsbeschwerden werden beispielsweise in manchen Kulturen als Tabuthema angesehen und daher häufig als Rückenschmerzen beschrieben. Missverständnisse in der Behandlung sind eine mögliche Folge (vgl. Iv 2: 699–702). Die individuelle Krankheitswahrnehmung sieht die Sozialarbeiterin als einen weiteren Grund, aus dem viele illegalisierte Personen nicht zur*m Ärzt*in gehen. Bei illegalisierten Patient*innen kommt es häufig dazu, dass die von den Ärzt*innen verschriebene Therapie vorzeitig abgebrochen wird, was den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen kann (vgl. ebd.: 344–346). Der Arzt des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder teilt diese Sicht und berichtet, dass Therapieabbrüche häufig passieren, sobald eine Besserung eintritt und sich die Patient*innen wieder gesund fühlen. Ein Wiederaufkommen von Erkrankungen zu einem späteren Zeitpunkt kann die Folge sein, wodurch eine erneute Behandlung erforderlich wird (vgl. Iv 5: 270–273, 278–282). 


8. Fazit

In Wien gibt es verschiedene Angebote an medizinischer Versorgung für nicht-versicherte Patient*innen, die von illegalisierten Personen genutzt werden können. Die Einrichtungen AmberMed und das neunerhaus Gesundheitszentrum bieten ambulante, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder zusätzlich stationäre Dienste an. Im Vergleich zu versicherten Personen gibt es für Nicht-Versicherte bedeutende Zugangsbarrieren zu Leistungen des Gesundheitsbereichs. Diese Herausforderungen treffen illegalisierte Menschen besonders, da diese aufgrund ihrer Lebensumstände, beispielsweise aufgrund der Angst vor einer drohender Abschiebung, mit zusätzlichen Belastungen umgehen müssen.

Aktuell sind Versorgungslücken in den Bereichen Onkologie, Chirurgie (Orthopädie und Unfallchirurgie), Psychiatrie, Psychotherapie sowie Pflege und Nachsorge festzustellen. Einige Leistungen aus diesen Bereichen können nur im Einzelfall durchgeführt werden. Wird eine Rechnung ausgestellt und kann keine Kostenübernahme gewährleistet werden, kommt es zu finanziellen Belastungen für die Patient*innen. Angebote der Pflege und Nachsorge und die damit verbundenen Therapieangebote stehen illegalisierten Personen nicht zur Verfügung. Es gibt eine hohe Nachfrage nach diesen Leistungen, aber keine Stelle, die sich dafür verantwortlich zeigt.

Durch die unterschiedlichen Erstsprachen stellt die Kommunikation zwischen den Patient*innen und den Angestellten der Einrichtungen eine weitere Herausforderung dar. Sprachbarrieren sind durch die Verwendung von Videodolmetsch sehr gut überwindbar, allerdings kann dieser Service aufgrund der hohen Kosten nicht von allen Institutionen angeboten werden. Die Angst vor behördlicher Erfassung und Unsicherheiten bezüglich des Funktionierens des österreichischen Gesundheitssystems können dazu führen, dass ärztliche Hilfe erst bei Auftreten von starken Beschwerden gesucht wird. Meist sind die Diagnosen dann wesentlich schwerwiegender, da die Erkrankung unbehandelt fortschreiten konnte. Ein durch prekäre Lebensverhältnisse bedingter ungesunder Lebensstil und eine unterschiedliche Krankheitswahrnehmung können zu zusätzlichen gesundheitlichen Risiken führen.

Gemäß Art. 25 Abs. 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ hat jede*r ein Recht auf ärztliche Versorgung. Die Sozialarbeiterin des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder beschreibt das österreichische Gesundheitssystem als „ein ausschließendes System, in dem privilegierte Menschen gut abgesichert sind […] und prekär lebende, nicht-anspruchsberechtigte Menschen nicht gut abgesichert sind. Und das ist natürlich zu kritisieren“ (Iv 3: 372–375).


Literatur

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ICESCR – Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, BGBl. Nr. 590/1978, idF. BGBl. Nr. 423/1985: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000629 (09.03.2020).

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KaKuG – Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz, BGBl. Nr. 1/1957, idF. BGBl. Nr. 27/1958: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10010285 (09.03.2020).

Karl-Trummer, Ursula/Metzler, Birgit/Novak-Zezula, Sonja (2009): Gesundheitsservices im Niemandsland: Funktionale Ignoranz und informelle Solidarität. Wien. http://mighealth.net/at/images/9/95/Gesundheitsservices_im_Niemandsland.pdf (25.05.2018).

Messinger, Irene (2000): Illegalisierte Flüchtlingsjugendliche allein in Wien. Möglichkeiten und Grenzen sozialpädagogischer Arbeit. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Wien.

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WHO – World Health Organization (2018): Constitution of WHO: principles. Genf. http://www.who.int/about/mission/en/ (12.06.2018).


Interviewverzeichnis

Iv 1 – Interview 1: DSA Carina Spak, Einrichtungsleitung AmberMed, 12.10.2018.

Iv 2 – Interview 2: Mag.a (FH) Barbara Berner, Leitung Niederschwellige Sozialarbeit neunerhaus Gesundheitszentrum, 23.10.2018.

Iv 3 – Interview 3: Greta Hanten, BA, DSA Petra Steinbock, Sozialarbeiterinnen Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien, 25.10.2018.

Iv 4 – Interview 4: Dr. Helga Leidenfrost, Ärztin neunerhaus Gesundheitszentrum, 05.11.2018.

Iv 5 – Interview 5: OA Med. Dr. Thomas Ströbele, Arzt amp; med. Leiter der Ambulanz für Gehörlose Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien, 15.11.2018.


Über die AutorInnen

Antonia-Christina Dallinger
dallinger.ac@gmail.com

Studierende der Sozialen Arbeit an der FH Campus Wien.

Michael Mörtl
michael.moertl2@gmail.com

Studierender der Sozialen Arbeit an der FH Campus Wien.

Sophie-Thérèse Lenauer
sophie.lenauer@gmx.at

Studierende der Sozialen Arbeit an der FH Campus Wien.