soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 23 (2020) / Rubrik "Einwürfe/Positionen" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/668/1207.pdf


Andreas Hallas:

Eine kritische Perspektive auf das Konzept Radical Help


1. Warum sich mit dem Konzept Radical Help beschäftigen?

Dieser Essay ist als Reaktion auf das Ilse Arlt Symposium 2019 entstanden, welches unter dem Titel „Radikal sozial: Soziale Arbeit quer gedacht und getan“, am 18. und 19. September 2019 an der Fachhochschule St. Pölten stattfand. Die Veranstaltung hatte sich zum Ziel gesetzt, bisherige Pfade zu verlassen, überkommende Denkmuster und Handlungslogiken in der Sozialen Arbeit grundlegend in Frage zu stellen und die Soziale Arbeit von Grund auf neu zu denken. Im Zuge des Vortrages von Andrea Trenkwalder-Egger und Michaela Moser mit dem Titel „Radikal.Sozial. Von Empty Risky Spaces und der Re-Radikalisierung Sozialer Arbeit“ wurde unter anderem das Konzept Radical Help von Hillary Cottam (2018) vorgestellt. Dieses war insofern interessant, als es einen möglichen Weg zur radikalen Veränderung von Sozialer Arbeit aufzeigte und aufgrund bereits durchgeführter Experimente einen starken praktischen Zugang hat. Im Weiteren soll das Konzept in groben Zügen vorgestellt und anschließend einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Die zentrale Fragestellung lautet dabei wie folgt: Bietet das Konzept Radical Help einen Zugang, der dazu beitragen könnte Soziale Arbeit radikal zu verändern oder wird die Verantwortung für die Bearbeitung sozialer Problemlagen an die Klient*innen abgegeben?


2. Radical Help – eine Skizze

“At the heart of this new way of working is human connection. I have learnt that when people feel supported by strong human relationships, change happens. And when we design new systems that make this sort of collaboration and connection feel simple and easy, people want to join in. This is not surprising, and yet our current welfare state does not try to connect us to one another, despite the abundant potential of our relationships.” (Cottam 2018: 15).

Der Ausgangspunkt in Cottams Buch Radical Help ist die Frage, wie ein gutes Leben möglich ist. Dabei kritisiert Cottam den britischen Wohlfahrtsstaat, den sie für nicht mehr angemessen für das 21. Jahrhundert hält. Sie geht davon aus, dass dieser nicht mehr zu reparieren, sondern nur noch zu revolutionieren sei. Aus ihrer Sicht gründet der Wohlfahrtsstaat auf der Idee unpersönlicher Bürokratie. Einer Idee, welche den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, wie z.B. dem Altern der Gesellschaft oder der Globalisierung der Arbeitswelt, nicht mehr gewachsen sei (vgl. Cottam 2018: 29ff.).

Im Zentrum des Konzeptes von Cottam, die ihres Zeichens Social Entrepreneurin ist, stehen die Beziehungen, die Menschen zueinander aufbauen. Diesem Gedanken folgend hat sie Prinzipien für moderne Sozialsysteme entwickelt. So geht es nach Cottam darum, ein gutes Leben zu ermöglichen, anstatt ausschließlich an der Behandlung von Symptomen interessiert zu sein. Cottam ist an der Entwicklung von capabilities interessiert und nicht dem Managen von Problemen. Sie fordert die Verbindung vielfältiger Ressourcen, das Schaffen von Möglichkeiten und die Öffnung des Wohlfahrtsstaates für alle (vgl. Cottam 2018: 14ff.).

Ihrer These nach basiert der heutige (britische) Wohlfahrtsstaat immer noch auf Maximen und Mechanismen des 20. Jahrhunderts. Mechanismen, die über Hierarchien funktionieren und in denen es darum geht, durch die Verteilung von finanziellen Ressourcen Probleme zu managen. Dahingegen, so Cottam, braucht der Wohlfahrtsstaat eine stärkere Orientierung an Gemeinschaft und Beziehungen. Eine stärkere Einbeziehung der Gemeinschaft, des sozialen Umfeldes und eine Erweiterung dieses sozialen Umfeldes durch das Knüpfen neuer stabiler Beziehungen sind nach Cottam Schlüsselelemente auf dem Weg zu einem Wohlfahrtsstaat des 21. Jahrhunderts. Damit setzt sie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips an der niederschwelligsten Stufe Sozialer Arbeit an, nämlich an den Ressourcen der*s Einzelnen, zu denen auch die sozialen Kontakte und das soziale Umfeld zählen. Die Idee dahinter ist, dass durch das Aktivieren des sozialen Umfeldes oft keine Professionist*innen mehr gebraucht werden, weil die zur Erreichung des subjektiven Wohlempfindens benötigten Handlungen auch durch Menschen ohne institutionellen Background vollbracht werden können. Daher ist für Cottam nicht die Frage wichtig, wie ein bestimmtes Symptom behandelt werden kann, sondern wie Menschen sich ein gutes und erfülltes Leben vorstellen.

Cottam beschreibt in ihrem Buch insgesamt vier Experimente, in denen versucht wird bestimme Problemlagen von Menschen zu bearbeiten. Die Experimente fokussieren dabei jeweils auf unterschiedliche Lebensbereiche z.B. auf das Arbeitsleben oder die Gesundheit. Sie fanden allesamt in Großbritannien statt und waren außerhalb der Strukturen des Wohlfahrtsstaates angesiedelt. Allen Experimenten liegt ein Design-Prozess zugrunde. Dieser ist so gestaltet, dass im ersten Schritt Recherche betrieben wird. Hier wird der Austausch mit den Menschen gesucht, die von einer bestimmten Problemlage (z.B. Arbeitslosigkeit) betroffen sind, um das jeweilige Problem dieser Menschen zu verstehen. Anschließend wird versucht, Möglichkeiten zur Bearbeitung des Problems zu finden sowie Ideen zur Umsetzung zu entwickeln. Erst im zweiten Schritt geht es dann um das Entwickeln von Prototypen und das Ausprobieren möglicher Lösungen (vgl. Cottam 2018: 216ff.). In der Arbeit mit Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, stellt Cottam beispielsweise ein Programm namens Backr vor, bei dem Menschen in Beschäftigungsverhältnissen und arbeitssuchende Menschen zusammenkommen. Das Ziel dieses konkreten Programms ist dabei die Stärkung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit.


3. Kritisch-reflexive Betrachtung von Radical Help

Im Folgenden soll das Konzept von Cottam näher beleuchtet und mit der Frage konfrontiert werden, ob es dem selbsterhobenen Anspruch, den Wohlfahrtsstaat zu revolutionieren, gerecht werden kann. Ihr Konzept erscheint insofern schlüssig, als dass es sich mit bereits vorhandenen und etablierten Ansätzen der Sozialen Arbeit (z.B. der Lebensweltorientierung nach Thiersch) verbinden lässt. Im Konzept der Lebensweltorientierung wird davon ausgegangen, dass es unerlässlich ist, sich an den Adressat*innen zu orientieren und dass es dafür unumgänglich ist, sich mit deren Lebenswelt zu beschäftigen (Grunwald/Thiersch 2005: 1136). Die genannten Aspekte finden sich auch im Konzept Radical Help wieder, weil auch hier im ersten Schritt versucht wird, zunächst die Bedürfnisse der Klient*innen zu erkunden (vgl. Cottam 2018: 216ff.). Das Konzept weist von außen betrachtet jedoch potenzielle Ambivalenzen auf. Durch die Fokussierung auf Ressourcen, Netzwerke und Bewältigungsmöglichkeiten außerhalb der sozialen Dienste kann die Situation eintreten, dass die Verantwortung zur Lösung gesellschaftlich entstandener Probleme dem Individuum aufgebürdet wird.

Der wünschenswerte Effekt, der durch Radical Help herbeigeführt werden soll, ist die Aktivierung des sozialen Umfeldes durch die Fokussierung auf Beziehungen. Dies ist ein auf den ersten Blick nachvollziehbarer und wünschenswerter Ansatz, arbeitet doch die Soziale Arbeit ebenfalls lebensweltorientiert mit dem Ziel „sich überflüssig“ zu machen (vgl. Heiner 2010: 37). Hier wird die Entbürokratisierung des Sozialstaates ebenfalls als ein wünschenswerter Effekt betrachtet. Wenn Entbürokratisierung eine Reduktion administrativer Tätigkeiten bedeutet, ist dies als ein hilfreicher Schritt zu bewerten, zeigt die eigene Erfahrung und Beobachtung in der sozialarbeiterischen Praxis doch, dass durch den häufig hohen Verwaltungsaufwand die Beziehungsarbeit auf der Strecke bleibt. Auch eine Entwicklung hin zu mehr selbstständiger Entscheidungskompetenz von Professionist*innen der Sozialen Arbeit wäre zu begrüßen. Wenn es jedoch vorwiegend um Kostenreduktionen geht, ist diese ökonomisch-marktwirtschaftliche Perspektive durchaus mit Skepsis zu betrachten. Das Individuum selbst, so könnte argumentiert werden, sei verantwortlich dafür, das eigene soziale Umfeld zu aktivieren, um dem staatlichen System finanzielle Ausgaben zu ersparen. Somit würde auch der Druck auf die Klient*innen steigen, Strategien zur Aktivierung der eigenen sozialen Kontakte zu entwickeln. Damit entspricht das Konzept in gewisser Weise auch zunehmenden Individualisierungstendenzen. Frei nach dem Motto: Jede Person kann die eigenen Probleme selbst lösen, wenn die persönlichen Ressourcen hinreichend ausgeschöpft werden.

Die Verantwortung für die Bearbeitung von sozialen Problemen verlagert sich damit vom staatlich-öffentlichen Sektor auf das Individuum. Den politischen Entscheidungsträger*innen werden dadurch eine plausible Argumentation und Legitimation an die Hand gegeben, mit denen sie die Verantwortung für systemimmanente Ungleichheiten und Probleme dem Individuum übertragen können. Dies würde einen weiteren Rückzug des Wohlfahrtsstaates bedeuten, statt eine Revolutionierung desselben voranzutreiben. Die Botschaft würde dann noch verstärkter lauten: Alle Schwierigkeiten sind von Individuen selbst lösbar, wenn diese sich nur ausreichend anstrengen. In weiterer Folge könnte das dazu führen, dass Soziale Arbeit aus manchen Hilfsangeboten gänzlich abgezogen wird. Dies ist vor allem dann gefährlich, wenn Initiativen, die sozialstaatliche Strukturen ersetzen, sich als nicht dauerhaft erfolgreich herausstellen.


4. Der Versuch eines Resümees

Vorhergehend wurden die positiven als auch die potenziell kritischen Aspekte von Cottams Konzept der Radical Help gegengestellt. Dabei wurde die These herausgearbeitet, dass mit Radical Help an sich keine grundlegende Veränderung der Sozialen Arbeit eingeleitet wird, weil die Rahmenbedingungen nicht radikal angegriffen werden. Das Konzept ist aus meiner Sicht ambivalent zu beurteilen, da es viel Potenzial hat, sowohl auf positive als auch auf negative Art und Weise ausgelegt zu werden. Wird das Konzept so verstanden, dass Professionist*innen mehr Zeit dafür verwenden können, direkt mit Klient*innen an der wechselseitigen Beziehung zu arbeiten, wäre das ein Schritt in die richtige Richtung, denn Soziale Arbeit steht und fällt mit der Beziehungsgestaltung mit Klient*innen. Auch die Tatsache, dass durch die Aktivierung des sozialen Umfelds eine Form von Entbürokratisierung ermöglicht werden kann, ist durchaus positiv zu bewerten. So könnte auch die oft überbordende Vielzahl an unterschiedlichen Professionist*innen, die für einen „Fall“ zuständig sind, reduziert werden und Kompetenzen könnten durch die Aktivierung des sozialen Umfeldes gebündelt werden. Andererseits könnte das Konzept als Begründung für Einsparungspolitiken ausgelegt werden, die mit dem neoliberalen Abbau wohlfahrtsstaatlicher Strukturen einhergehen. Dies kann problematische Effekte haben, wie etwa die verstärke Individualisierung von sozialen Risiken. Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklungen die Überlegungen von Cottam anstoßen werden und in welcher Form sich Radical Help in Zukunft entwickeln wird.


Literatur

Cottam, Hillary (2018): Radical Help. How we can remake the relationships between us and revolutionise the welfare state. London: Virago.

Grunwald, Klaus/Thiersch, Hans (2005): Zur Entwicklung des Konzepts Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. In: Dies. (Hg.): Handbuch Sozialarbeit / Sozialpädagogik. München/Basel: Ernst Reinhardt, S. 1136–1148.

Heiner, Maja (2010): Kompetent handeln in der Sozialen Arbeit. München: Ernst Reinhardt.


Über den Autor

Andreas Hallas
spm183011@fhstp.ac.at

Studierender im Masterlehrgang Sozialpädagogik an der FH St. Pölten. Arbeitsschwerpunkt im Bereich pflichtschulmäßiger Qualifizierungsmaßnahmen zur nachhaltigen Kompetenzentwicklung. Aktuell als Studierender im Forschungsprojekt Dazugehören. Das Erleben von Zugehörigkeit in unterschiedlichen Lebensphasen und seine intersektionalen Dynamiken tätig.