soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 23 (2020) / Rubrik "Rezensionen" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/670/1211.pdf


Amesberger, Helga/Halbmayr, Brigitte/Rajal, Elke (2019): „Arbeitsscheu und moralisch verkommen“. Verfolgung von Frauen als ‚Asoziale‘ im Nationalsozialismus. Wien: Mandelbaum Verlag.


377 Seiten / 29 Euro

Das Buch von Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr und Elke Rajal füllt eine Forschungslücke zur Verfolgung von als „asozial“ konstruierten Frauen und Mädchen im österreichischen Nationalsozialismus. Es handelte sich dabei um Menschen, die den Genderbildern und Arbeitsmoralvorstellungen des NS-Regimes nicht entsprachen. Sie wurden aufgrund dessen als „asozial“ kategorisiert und galten als Gefahr für die „Volksgemeinschaft“. Die Autorinnen publizieren die Ergebnisse ihres historischen Forschungsprojekts am Institut für Konfliktforschung. Im Sinne einer Quellenkritik sei erwähnt, dass die Forscherinnen sich ausschließlich auf gerichtliche Protokolle, behördliche Anträge der Opferfürsorge und nationalsozialistische Quellen beziehen. Die Autorinnen betonen selbst die fehlende Perspektive von Zeitzeuginnen.

Mit ihrem Forschungsthema setzen die Politikwissenschaftlerinnen einen wertvollen feministischen Akzent in der österreichischen Zeitgeschichte. Dabei sei angemerkt, dass es sich bei den Forschungssubjekten ausschließlich um österreichische Staatsbürgerinnen handelt. Interessant ist, dass das nationalsozialistische Konstrukt von weiblicher „Asozialität“ auf einer angeblichen moralischen und sexuellen Devianz beruht. Die Konfliktforscherinnen legen dar, dass Verstöße gegen nationalsozialistische Normen als „liederlicher Lebenswandel“, „Geheimprostitution“, „hemmungsloser Fortpflanzungstrieb“ sowie Vergehen gegen die Arbeitsmoral wie Arbeitsvertragsbruch galten. Neben einer generellen Einführung zum Thema, einer Rahmung des Forschungsprojekts und der Betonung der Aktualität des Themas hat das Buch drei Schwerpunkte: Einrichtungen der „Asozialen“-Verfolgung im NS-Österreich, „Asoziale“ Frauen in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Uckermarck sowie Kontinuitäten der Stigmatisierung von „asozialen“ Frauen im Nachkriegsösterreich.

Die Autorinnen weisen einführend nach, dass die Ursprünge des Labels „Asozialität“ in der Armenfürsorge zu verorten sind. Jene Marginalisierung wurde im Nationalsozialismus zur Staatsdoktrin entwickelt. Amesberger, Rajal und Halbmayr erwähnen die zentrale Rolle der Fürsorge, die damalige Soziale Arbeit, bei der Umsetzung der rassistischen Bevölkerungspolitik. Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme begann die systematische Stigmatisierung, Verfolgung und Ermordung von sogenannten „Gemeinschaftsunfähigen“. Orte solcher Gräueltaten waren neben Konzentrationslagern auch Arbeits- und Erziehungsanstalten. Die Politologinnen führen aus, wie im eugenischen Rassismus zwischen einer unheilbaren „endogenen Asozialität“ (durch Vererbung) und einer heilbaren „exogenen Asozialität“ (äußere Umstände) unterschieden wurde. Menschen, die der ersten Gruppe zugeschrieben wurden, wurde die Existenzberechtigung abgesprochen. Der zweiten Gruppe zugerechnete Menschen sollten durch strenge nationalsozialistische Erziehung und Zwangsarbeit „umerzogen“ werden.

Im ersten Teil wird auf Einrichtungen Bezug genommen, anhand deren die nationalsozialistische Konstruktion von „Asozialität“ nachgezeichnet wird. Darunter fallen die sogenannten Asozialenkommissionen, die als österreichische Erfindungen mit Vorzeigefunktion galten und einen weiteren Beweis für die aktive Involvierung österreichischer Behörden im Nationalsozialismus liefern. Des Weiteren gehen die Forscherinnen auf die Arbeitsanstalt Am Steinhof und die Heilanstalt Klosterneuburg, die Arbeitsanstalt Znaim und die Gauererziehungsanstalt Gleink ein. In Am Steinhof wurden „asoziale“ Frauen durch harte Zwangsarbeit zu „erziehen“ versucht. Die Heilanstalt Klosterneuburg hingegen fungierte als eine Erziehungsanstalt für Frauen mit Geschlechtskrankheiten. In der Arbeitsanstalt Znaim und der geschlossenen Gauerziehungsanstalt Gleink wurden junge Frauen und „schwererziehbare“ Mädchen inhaftiert und misshandelt. Es wurde massiv psychische und körperliche Gewalt in den Anstalten ausgeübt, zudem wurden Zwangssterilisationen durchgeführt. Eindrücklich wird im Buch durch Zeuginnenaussagen dargestellt, wie der Alltag der Frauen und Mädchen von Zwangsarbeit und strengen Erziehungsmaßen sowie KZ-artigen Verhältnissen geprägt war.

Im Falle einer Entlassung, so zeigen die Autorinnen weiterhin auf, wurden die Frauen ausschließlich den Arbeitsbereichen Hausarbeit oder Fabrikarbeit zugeordnet und durch ständige Kontrolle stigmatisiert. Bei Rückfälligkeit oder „Unerziehbarkeit“ drohte eine Einweisung ins Konzentrationslager. Die Frauen und Mädchen wurden auf ihr Geschlecht und eine konstruierte „Asozialität“ reduziert. Als Einweisungsgründe wurden moralische und sexuelle „Verkommenheit“ bzw. „Verwahrlosung“ oder die Vernachlässigung weiblicher Pflichten angeführt. Aus sozialarbeiterischer Sicht ist jene nationalsozialistische „Pädagogik“ und deren Kontinuität in der Kinder- und Jugendhilfe nach 1945 von wissenschaftlichem Interesse.

Der zweite Schwerpunkt des Buches liegt auf österreichischen Frauen in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Uckermark. Als symbolisches Merkmal für Stigmatisierung mussten Frauen und Mädchen einen schwarzen Winkel tragen. Laut Schätzungen der Antisemitismusforscherin Christa Schikorra wurden im Konzentrationslager Ravensbrück ca. 5.000 „asoziale“ Frauen inhaftiert (vgl. Schikorra 2009: 57 zit. nach Amesberger/Halbmayr/Rajal 2019: 225). Darunter befanden sich, so die von den Autorinnen ausgewerteten Quellen,1 79 österreichische Frauen; die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich höher. Wie die Autorinnen anhand von soziografischen Daten (Beruf, Bildung, Einkommen) der Inhaftierten aufzeigen können, handelte es sich bei den Opfern v.a. um Frauen aus ökonomisch benachteiligten Schichten. Eine große Rolle spielten bei den Einweisungen die Fürsorgeinstitutionen und die Sozialämter. Auch in Ravensbrück und Uckermark dominierten als Gründe für die Verfolgung Verstöße gegen nationalsozialistische Arbeits- und Sexualnormen wie „arbeitsscheu“ oder „sittliches Fehlverhalten“. Neben „Asozialität“ wirkten andere Verfolgungsgründe wie politischer Widerstand oder „rassische Herkunft“ zusammen. Auf jene intersektionalen Verfolgungsgründe wird nicht weiter eingegangen, jedoch wäre eine genaue Untersuchung intersektionaler Verfolgungskategorien, wie zugeschriebene sexuelle Orientierung, Alter, ethnische Herkunft usw., interessant.

Der Alltag der inhaftierten Frauen war in Ravensbrück und Uckermark geprägt von Gewalt, Hunger, Tod, Kälte, Zwangsarbeit und teilweise Zwangsprostitution, wie die Autorinnen eindrücklich zeigen. Im sogenannten „Jugendschutzlager“ Uckermark wurden seit 1942 „unerziehbare“ Mädchen inhaftiert. Neben einer erniedrigenden Aufnahmeprozedur durch SS-Ärzte wurden kriminalbiologische Untersuchungen zur Feststellung der „Erziehbarkeit“ durchgeführt. Das KZ Uckermark wurde erst 1970 als Konzentrationslager anerkannt.

Im dritten Abschnitt gehen die Autorinnen auf die Kontinuitäten der Stigmatisierung der Opfer in der Nachkriegszeit ein. Dabei nehmen sie Bezug auf die Leistungen des Opferfürsorgegesetzes und auf Gerichts- und Ermittlungsverfahren gegen Täter*innen. Die Autorinnen verdeutlichen im Vorfeld das gesellschaftspolitische Klima im Nachkriegsösterreich: das „große Vergessen“, die Relativierung des Leidens der Opfer und die inszenierte Opferrolle Österreichs. Ab 1947 konnten aufgrund einer NS-Verfolgung aus politischen Gründen, Abstammung, Religion oder Nationalität Leistungen der Opferfürsorge beantragt werden. Als „asozial“ verfolgte Menschen waren erst ab 2005 offiziell anspruchsberechtigt. Ein Großteil der als „asozial“ verfolgten Opfer erhielt somit keine Leistungen. Hier, so wird anhand der Darstellung deutlich, ist eine fortführende Ausgrenzung und Stigmatisierung von als „asozial“ konstruierten Frauen zu beobachten. Die Behörden im Nachkriegsösterreich entschieden anhand NS-Einschätzungen und reproduzierten somit Stigmatisierungen. In diesen Kontext ist auch die Ablehnung des Antrages auf Opferfürsorge von Leopoldine Sch. und ihre empörte Reaktion zu setzen „Ich finde es infam, mich als asoziales Element hinzustellen“ (S. 285).

Was gerichtliches Vorgehen anbelangt, gehen die Wissenschaftlerinnen auch auf Verfahren und Ermittlungen gegen Personal der Arbeitserziehungsanstalt Am Steinhof und der Gauerziehungsanstalt Gleink ein. Im Zuge des Gerichtsverfahrens gegen das Personal der Anstalt Am Steinhof, so wird gezeigt, wurden die Opfer entmündigt, ihnen Selbstverschulden vorgeworfen und aufgrund ihrer psychischen Verfassung kein Glauben geschenkt. Die Bestrafungen für das Personal fielen entsprechend mild aus. Im Ermittlungsverfahren gegen das Personal der Gauerziehungsanstalt Gleink bekundeten die Beschuldigten ihren Ekel gegenüber den Jugendlichen. Zudem wurden nationalsozialistische Charakterisierungen der Opfer vorgenommen. Die Ermittlungen zum Tatbestand Quälerei und Misshandlung gegen das Personal der Gauerziehungsanstalt Gleink wurden schlussendlich eingestellt. Die Gräueltaten und massive Gewalt wurden vom Gericht und Zeug*innen wie Leiter*innen der damaligen Jugendwohlfahrt als notwendige Erziehungsmaßnahmen deklariert.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Autorinnen die Verfolgungspraktiken von als „asozial“ konstruierten Frauen im Nationalsozialismus und Kontinuitäten ihrer Stigmatisierung im Nachkriegsösterreich eindrücklich aufzeigen. Was die Verfolgungspraktiken anbelangt, sind diese von nationalsozialistischen Genderbildern und sexuellen sowie moralischen Normen geprägt. Sexuelle Devianzen und Unangepasstheiten von Frauen und Mädchen wurden konstruiert, um Verfolgung, Zwangsarbeit, Zwangserziehung bis hin zur Vernichtung zu rechtfertigen. Anhand der analysierten Gerichtsakten machen die Sozialwissenschaftlerinnen darauf aufmerksam, dass auch in der Nachkriegszeit nationalsozialistische Diskriminierungsmuster zu erkennen sind.

Zudem weisen die Forscherinnen darauf hin, dass das Stigma „Asozialität“ weiterhin in politischen Diskursen anzutreffen ist. Geflüchtete, alte, kranke, behinderte, drogenabhängige und erwerbslose Menschen werden als „Sozialschmarotzer*innen“ tituliert. Jene Diskriminierungsformen erlebten in Österreich durch die letzte Regierungsperiode einen Aufschwung. Da wir als Sozialarbeiter*innen vielfach mit sozial marginalisierten Menschen arbeiten, sollten wir umso genauer hinschauen, um jenen, bereits im Nationalsozialismus geprägten Diskriminierungsformen entgegenzuwirken. Darüber hinaus liefert dieses Werk einen Denkanstoß und zeigt, wie gefährlich es ist, Frauen und ihre Lebenswege in starre Fremdzuschreibungen zu zwängen und daran ihren „Unterstützungsbedarf“ festzumachen. Amesberger, Halbmayr und Rajal bringen es auf den Punkt: „Die symbolische Gewalt, die von derartigen Begriffen und Bezeichnungen ausgeht, ist lediglich ein erster Schritt hin zur strukturellen und personellen Gewalt“ (S. 356).

Im Sinne einer kritischen Sozialen Arbeit ist eine Erinnerungskultur und Aufarbeitung des Nationalsozialismus in unserer Disziplin überfällig. Das Buch zeichnet Verstrickungen sozialarbeiterischer Institutionen im nationalsozialistischen Herrschaftsregime nach und liefert somit wichtigen Denkstoff, um jene Lücke kritisch zu befüllen.



Hanna Vettori MA / hanna.vettori@gmail.com


Verweise
1 Hierbei handelt es sich um die Datenbank des Instituts für Konfliktforschung zu Österreicherinnen in Ravensbrück: http://www.ravensbrueckerinnen.at (05.03.2020).