soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 23 (2020) / Rubrik "Rezensionen" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/671/1213.pdf


FIPU (Hg.) (2019): Rechtsextremismus. Band 3: Geschlechterreflektierende Perspektiven. Wien: Mandelbaum Kritik & Utopie.


342 Seiten / 19 Euro

Der dritte Sammelband Rechtsextremismus Band 3: Geschlechterreflektierte Perspektiven von der Wiener Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (FIPU) wurde im April 2019 veröffentlicht und knüpft thematisch an den 2014 publizierten Sammelband Rechtsextremismus Band 1: Entwicklungen und Analysen sowie den 2016 erschienenen zweiten Sammelband Rechtsextremismus Band 2 – Prävention und politische Bildung an. In diesem Band werden Beiträge zur Thematik Rechtsextremismus und Geschlecht zusammengetragen und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.

Warum der Sammelband relevant für Sozialarbeiter*innen und Studierende der Sozialen Arbeit sein könnte, wird versucht in der nachfolgenden Rezension herauszuarbeiten. Während des Lesens war für die Rezensentin die Frage nach möglichen Anschlusspunkten für die sozialarbeiterische Praxis ständig präsent. Die einzelnen Beiträge ermöglichen es Sozialarbeiter*innen neue Handlungsstrategien gegen rechtsextreme Argumentationslogiken für die Praxis zu entwickeln. Das Lesevergnügen nimmt unter diesem Aspekt zu und so wird der Sammelband mit Freude und Lust immer wieder aufgeschlagen.

Nach dem wertschätzenden Vorwort von Brigitte Bailer, die darauf hofft, dass der Themenkomplex „Geschlechterfragen und Rechtsextremismus“ verstärkt in den wissenschaftlichen Diskurs einfließt und dass der vorliegenden Band (hoffentlich) dazu beitragen wird, wird in einem einleitenden Kapitel dargelegt, warum die FIPU den Schwerpunkt für ihren dritten Band auf den Geschlechterdiskurs gelegt hat. Danach wird in aller Kürze, aber nicht verkürzt, ein Überblick zu relevanten Begriffen im Kontext der Rechtsextremismusforschung gegeben und ein Einblick in die wissenschaftliche und historische Forschung zur Ordnungskategorie Geschlecht ermöglicht. Wer sich gegenwärtig noch nicht mit Judith Butler, Carol Hagemann-White und Raewyn Connell auseinandergesetzt hat, sollte spätestens nach dieser erfrischend-knackigen Einleitung den Wunsch dazu verspüren.

Aufbauend auf diesem theoretischen Hintergrund schafft es Judith Goetz im ersten Kapitel, sprichwörtlich Licht ins Dunkel zu bringen. Hier gibt sie einen Überblick über die geschlechterreflektierende Rechtsextremismusforschung in Österreich. Goetz spricht von einem Wandel der inhaltlichen Ausrichtung: so standen zu Beginn rechtsextreme Frauen im Zentrum der Analysen, ab den 2000er Jahren wurden gendertheoretische Ansätze vermehrt miteinbezogen (z.B. zur Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit). Mittlerweile wird der Fokus auf antifeministische Denkmuster gelegt, die auch außerhalb der extremen Rechten, gesamtgesellschaftlich an Bedeutung gewinnen. Ein beachtenswerter Aspekt ist unter anderem die mediale Berichterstattung, die sich – wenn sie zu dieser Thematik stattfindet – meistens zwischen Skandalisierung und/oder Sexismus bewegt. Aus meiner Sicht beeinflusst so zum Beispiel die verharmlosende Berichterstattung über Beate Zschäpe, eine Mitttäterin des Nationalsozialistischen Untergrunds, die öffentliche Wahrnehmung und wirkt sich auf das Alltagsverständnis sowohl der Sozialarbeitenden als auch auf deren Gegenüber aus. Gerade deshalb ist es notwendig, Darstellungen, die von den Medien produziert werden, einer Reflexion zu unterziehen.

Wie Goetz spricht auch Carina Klammer im nachfolgenden Kapitel davon, dass die Analysekategorien Gender bzw. Geschlechterverhältnisse notwendig in die Rechtsextremismusforschung miteinbezogen werden müssen. Daraus resultierende Erkenntnisse können dazu genutzt werden, faschistischen Narrativen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Klammer analysiert die Geschlechter- und Körperpolitiken des Nationalsozialismus und die Nachwirkungen, die sich im kollektiven kulturellen Gedächtnis nach 1945 manifestiert haben. Diese Überlegungen können dazu beitragen, gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse und Praktiken aus einer historischen Perspektive zu verstehen.

Die beiden nächsten Texte beschäftigen sich mit Themen, die in der Vergangenheit in der Rechtsextremismusforschung wenig Beachtung gefunden haben, jedoch notwendig sind, um ein ganzheitliches Verständnis von der Komplexität der rechten Geschlechterdiskurse zu erlangen. Im ersten Beitrag beschreibt Andreas Hechler verschiedene Strategien, wie die extreme Rechte in Österreich mit Intergeschlechtlichkeit umgeht bzw. nicht umgeht. Seine Analyse macht deutlich, dass alle Strategien – egal wie unterschiedlich sie auf den ersten Blick erscheinen mögen – diskriminierend sind. Die extreme Rechte beruft sich starr auf eine Zweigeschlechtlichkeit, die biologisch vorgegeben sein soll. Diese Berufung funktioniert bei intergeschlechtlichen Körpern jedoch nicht.

Im darauffolgenden Beitrag beschreibt Judith Goetz das Verhältnis zwischen Rechtsextremismus und Trans*. Trans*feindlichkeit kann laut Goetz als essenzieller Bestandteil von Rechtsextremismus angesehen werden. Es werden auch Strategien beleuchtet, wie rechtsextreme Trans*personen mit dem offensichtlichen Widerspruch zwischen ihrer politischen Identität und ihrer sexuellen Identität umgehen. Dieser Widerspruch wird anhand der österreichischen Aktivistin Monika Donner erörtert. Die Lektüre macht deutlich, dass sich auch Sozialarbeiter*innen mit Begrifflichkeiten wie Heteronormativität, Inter*diskriminierung, Cissexismus etc. auseinanderzusetzen haben und die genauen Definitionen dahinter kennen sollten. Auch in der Sozialen Arbeit müssen wir Wertschätzung gegenüber diversen Geschlechtsidentitäten zeigen und uns um eine Normalisierung bemühen, denn oft werden Debatten um Geschlecht auf dem Rücken von Trans*- und Inter*Personen ausgetragen. Soziale Arbeit hat die Aufgabe, Interessen von marginalisierten Gruppen öffentlich zu machen und Themen, die oft im Dunkeln stehen, ins Licht zu rücken – nicht zuletzt, um ein besseres Leben für alle Menschen zu ermöglichen.

Welchen Einflüssen Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, die mit rechtsextremen Erziehungsmethoden und Geschlechterkonstruktionen sozialisiert werden, dieser Frage geht Lisa Auzinger auf den Grund. Der Text erinnert beim Lesen an den autobiografischen Roman von Heidi Benneckenstein Ein deutsches Mädchen. Auzinger zeigt in ihrem Beitrag auf, warum ein Ausbrechen aus autoritären völkisch-rechtsextremen Familienbänden eine enorme Leistung ist und beleuchtet die Hintergründe und Wurzeln ihrer rechtsextremen Sozialisation. Benneckenstein wird zwar im Text von Auzinger nicht erwähnt, bietet jedoch eine praktische Anknüpfung zu dieser Thematik, vor allem in der offenen Kinder- und Jugendarbeit.

Im nächsten Abschnitt beschäftigen sich Matthias Falter und Verena Stern mit der geschlechterpolitischen Verortung der FPÖ. Der Begriff Gender stellt für FPÖ-Politiker*innen ein rotes Tuch dar, da aus FPÖ Perspektive Geschlecht naturgegeben und somit unveränderbar ist. Implizit geht es darum, dass traditionelle Geschlechterverhältnisse, heterosexuelle Familienkonzepte und patriarchale Strukturen weiter bestehen sollen, daher sprechen FPÖ-Politiker*innen oft von „Gender-Wahnsinn“. So will Gender Mainstreaming laut Barbara Rosenkranz das Ende von Mann und Frau heraufbeschwören und so die Auflösung gesellschaftlicher Strukturen und Werte vorantreiben. Stern und Falter gehen außerdem darauf ein, dass geschlechtersensible Sprache nicht ernst genommen, sondern mit absurden Wortkreationen ins Lächerliche gezogen wird. Die Essenz des Beitrags und die Relevanz für die Praxis der Sozialen Arbeit ist, dass der freiheitliche Diskurs zum Thema Geschlecht diametral zum Wert der Selbstbestimmung steht. So wird zum Beispiel Jugendlichen eine selbstbestimmte geschlechtliche Identitätsbildung abgesprochen, da von der Natürlichkeit von Mann und Frau ausgegangen wird. Genau deshalb ist es so wichtig, sich als Sozialarbeit*in gegen die Ideologie der Naturalisierung der Geschlechter einzusetzen: Menschen sollen die Möglichkeit haben, sich selbstbestimmt und jenseits der Binarität von Sex und Gender entfalten zu können – sofern sie dieses Bedürfnis haben.

Aufgrund der ähnlichen Thematik, dem Antifeminismus, werden die darauffolgenden beiden Kapitel zusammengefasst. Stefanie Mayer und Judith Goetz beschäftigen sich mit Ideologie und Rhetoriken von rechtem Antifeminismus, Carina Klammer und Nico Bechter steuern theoretische Überlegungen zum gegenwärtigen Antifeminismus bei. Im Beitrag von Mayer und Goetz wird ein für die Soziale Arbeit spannender Aspekt herausgearbeitet: Diffamierungskampagnen von rechtskonservativer und rechtsextremer Seite. Im Artikel wird aufgezeigt, dass sexualpädagogische Vereine, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, vielfältige Zugänge zu Erotik, Lust und Sex aufzuzeigen, verstärkt von Angriffen von rechts betroffen sind. Das Wissen um diese potenzielle Angriffsfläche macht es möglich, sich schon vorab Strategien zum Umgang damit zu überlegen. Vielleicht entsteht so auch die Chance für Vereine oder Organisationen, die negative Öffentlichkeitsarbeit zu beeinflussen und zum eigenen Vorteil zu nutzen. Klammer und Bechter stellen sich im nächsten Abschnitt der Frage, warum sich das Thema Gender als verbindendes Element von verschiedenen reaktionären Gruppen eignet. Das Kapitel ist eine Ergänzung und Vertiefung zum vorherigen und greift auf das Konzept des „kulturellen Codes“ von Shulamit Volkov zurück, um zu erproben, inwiefern dieses sich für die Analyse von „Anti-Gender“-Diskursen eignet.

Unter dem Titel „Angry White Men“ beschreibt Heribert Schiedel den gegenwärtigen Gesellschaftszustand (leider) treffend. Schiedel analysiert die Kategorie Männlichkeit in rechtsextremen Kontexten. Die Beschäftigung mit Männlichkeit(en) ist für Sozialarbeiter*in essenziell. Vor allem in der Arbeit mit (männlichen) Jugendlichen, aber nicht nur, sollte die Soziale Arbeit theoretische Konzepte von Raewyn Connell und Pierre Bourdieu stets zur Hand und im Kopf haben. Der Text von Schiedel ist hierfür eine gute Ausgangslage und bietet auch Erklärungsmuster für und Hintergründe zur Thematik „Männlichkeit und Gewalt“.

Zum Abschluss des Sammelbandes beschreiben Anna Jungmayr, Judith Goetz und Katherina Nöbl Proteste gegen Abtreibungsgegner*innen der letzten Jahrzehnte in Österreich. Beim Lesen über die feministischen Proteste wird klar wie wichtig es ist, dass sich die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession in den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung einmischt und klare Positionen bezieht. Soziale Arbeit darf nicht nur in Beratungsstellen stattfinden, sondern soll auch gesellschaftliche Diskurse mitgestalten, vor allem wenn die Politik reaktionäre antifeministische Gesetze verankern will.

Während des Lesens des Buches wird klar, dass uns viele Meinungen, Konstruktionen und Handlungsmuster der extremen Rechten auch in der Praxis der Sozialen Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen begegnen können. Egal ob in der Arbeit mit Jugendlichen oder in Beratungsstellen ist die Thematik Geschlecht allgegenwärtig: Stereotype werden von Klient*innen, aber auch von Kolleg*innen und Vernetzungspartner*innen in Gesprächen, Handlungen und im Verhalten (re-)produziert. Der vorliegende Band kann dazu beitragen die eigenen Vorstellungen von Geschlecht, Familie und Körpern einer kritischen Reflexion zu unterziehen, um neue Handlungsstrategien gegen ewig gestrige Traditionsmuster entwickeln zu können.



Ines Schnell / i.schnell@gmx.at