soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Rezensionen“ / Standort Feldkirchen
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/682/1288.pdf


Mantey, Dominik (2020): Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung. Jugendliche individuell begleiten. Mit Online-Materialien. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.


216 Seiten / 16,95 Euro


Sexualität gehört zu den Grundbedingungen des menschlichen Seins (vgl. Blumenthal/Sting/Zirfas 2020). Menschen stiften vermittels ihrer Sexualität Identitäten, prägen Beziehungen und erleben Lust wie Frust (vgl. Sielert 2015). Auch stellen Teilaspekte des schillernden Begriffs Sexualität, wie der Kinderwunsch und die Sexualorgane, Grundlagen der Entstehung menschlichen Lebens und hiermit auch der gesellschaftlichen Reproduktion dar. Trotz ihrer zentralen anthropologischen, sozialen sowie sozialpädagogischen Bedeutung, wird das Thema der, stets individuellen, Sexualitäten (vgl. Sigusch 2014) erst in den letzten Jahren stärker wissenschaftlich bearbeitet. Umso erfreulicher ist es, dass der deutsche Professor der Sozialen Arbeit und Sexualpädagoge Dominik Mantey, der bei ProFamilia Praxiserfahrung gesammelt hat, heuer das Praxisbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung vorlegt. Das Buch zeichnet aus, dass es auf einer umfassenden empirischen Studie zu Sexualerziehung in Wohngruppen der stationären Erziehungshilfe, und zwar aus Sicht der Jugendlichen, beruht.


Warum das heiße Eisen anfassen?

In einer empirischen Studie hat Mantey (2017) herausgearbeitet, dass Jugendliche in den stationären Erziehungshilfen Sexualerziehung wünschen, jedoch auch an der Bestimmung des Umfangs und der Themen partizipieren möchten. Als entscheidend für eine Sexualerziehung, die auch positiv von den Jugendlichen aufgenommen wird, hat der Autor ebenso die Beziehungsebene zwischen den Fachkräften und den Jugendlichen bestimmt.

Was hat der Autor nun aus seiner empirischen Studie in Hinblick auf die konkrete Praxis übertragen? In seiner Hinleitung zum Thema „Warum das heiße Eisen anfassen?“ argumentiert Mantey, dass die Selbstreflexion der Fachkräfte bezüglich der von ihnen verinnerlichten Werte und Normen eine Grundlage der Professionalisierung sexualpädagogischen Handelns ist. Auch bietet er einige Fragen, die bei einer ersten Selbstreflektion anleiten können. Mantey verdeutlicht die Bedeutung sexualitätsbezogener Selbstreflektion von Fachkräften an einigen Praxisbeispielen und gibt mit Verweis auf Paul Watzlawick zu bedenken, dass man nicht nicht-sexualerziehen kann, genau, wie man nicht nicht-kommunizieren kann.


Vier sexualpädagogische Orientierungen für die Praxis

Zentrale Perspektiven Manteys sind der Einbezug der Bedarfe der Zielgruppe bei der Erstellung sexualpädagogischer Angebote und die besondere Aufmerksamkeit gegenüber den individuellen Kommunikationsstilen und Grenzen der Jugendlichen in der Heimerziehung. In dem Kapitel „Sexualpädagogische Grundlagen“ entwickelt Mantey, auch unter Bezug auf gut nachvollziehbare Praxisbeispiele, vier zentrale Orientierungen für die Entwicklung sexualpädagogischer Angebote für Jugendliche in Institutionen. Als zentrale Werte einer sexualpädagogischen Orientierung nennt der Autor die individuelle Anpassung der Sexualerziehung, Entwicklung & Schutz, Beteiligung sowie Handlungsbefähigung (S. 19ff.).

Die erste, empirisch hergeleitete sexualpädagogische Orientierung ist im Konzept Manteys die individuelle Anpassung der Sexualerziehung. Der Autor erläutert, dass Sexualerziehung in der Heimerziehung stets an die individuelle Gruppe, die divergierenden Bedarfe und Entwicklungsstände der Jugendlichen angepasst werden sollte. Auch die unterschiedlichen Kommunikationsstile (sehr zurückhaltend oder Nähe suchend) und Ressourcen bezüglich der selbstständigen Aneignung via (online) Medien sollen berücksichtigt werden. Weiters fasst Mantey die Beteiligung der Jugendlichen als eine grundlegende sexualpädagogische Orientierung. Der Autor argumentiert mit Rekurs auf den breiteren Fachdiskurs zu Partizipation, warum Jugendliche in die Planung und Durchführung von Sexualerziehung mit einbezogen werden sollten.

Die Kapitel „Rechte der Jugendlichen“ und „Strafrechtliche Grundlagen“ sind auf das deutsche Recht bezogen, entsprechende Quellen finden sich für Österreich etwa beim Online-Auftritt der Kinder- und Jugendanwaltschaften. Spannend sind diese Kapitel für den österreichischen Diskurs, nicht nur wegen der Parallelitäten in der Rechtsprechung, sondern auch aufgrund der Reflexionsanregungen und Anregungen für die Praxis (S. 34ff.).

Der Autor deutet gleich zu Beginn des Buches an, dass Jugendliche, die Gewalt erfahren haben, ein deutlich erhöhtes Risiko aufweisen sexuelle Gewalt zu re-inszenieren und re-viktimisiert zu werden. Im Unterkapitel „Sexualität von Jugendlichen im Heim“ werden „Sexuelle Auffälligkeiten und Risikoverhalten“ wie etwa Prostitution noch einmal anhand eines Beispiels vertieft und bezüglich fachlicher Handlungsmöglichkeiten und in ihren Ambivalenzen diskutiert (S. 70ff.).

Bezüglich des, im Rahmen von Sexualerziehung immer mitzudenkenden, Themas Geschlechtersensibilität und Vielfalt zeigt Mantey auf, dass Fachkräfte sich in einem Spannungsverhältnis befinden. Dieses verortet er zwischen gesellschaftlicher Zuschreibung von Geschlecht und den sozialen Folgen von Geschlechterstrukturen für Jugendliche auf den einen Seite sowie der erzieherischen Aufgabe, breite, über Geschlechterstereotype hinausgehende Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen auf der anderen Seite. Der Autor empfiehlt, bei der Sexualerziehung eine pädagogische Haltung einzunehmen, welche jenseits von stereotypen Zuschreibungen sexuelle Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigt (S. 78ff.).

Im Anschluss an die sexualpädagogischen Grundlagen ist der zweite Abschnitt des Buches der Praxis der Heimerziehung gewidmet. Hier finden sich eine Vielzahl von Ausführungen zu diversen Themen wie „Die Begleitung einzelner Jugendlicher“, „Umgang mit Intimität und Scham“, „Konfrontative Gespräche“, „Regeln“ und „Elternarbeit“. Das vielgliedrige, vielleicht etwas kleinteilig organisierte Praxisbuch wird abgeschlossen mit einem Abschnitt zu den „Organisationalen Rahmenbedingungen“. Hier wird die besondere Bedeutung der Leitung von Einrichtungen hervorgehoben und auch das Thema „Prävention sexueller Gewalt“ vertieft diskutiert.


Ein sehr gut lesbares Arbeitsbuch mit konkreten Beispielen und Übungen

Die stationäre Unterbringung bietet vielerlei Anlässe für eine durchdachte, am Entwicklungsstand und den Bedarfen der Jugendlichen orientierte Sexualerziehung. Daher ist Manteys Praxisbuch mit seinen vielfältigen Beispielen und Übungen eine wertvolle Ressource für Fachkräfte – und auch für die Arbeit mit Studierenden sehr zu empfehlen. Das Buch ist auf die sexualpädagogische Arbeit mit Jugendlichen zugeschnitten, spannend ist hier zu erwägen, inwiefern die dargestellten Orientierungen sich auch in der Arbeit mit Kindern bewähren könnten.

Im Sinne einer selbstkritischen Fachdebatte möchte ich abschließend unterstreichen, dass im Bereich der Heimerziehung hohe Fallzahlen sexueller Gewalt vorliegen, wie der Autor auch reflektiert. Die besondere Vulnerabilität von Kindern und Jugendlichen in Institutionen zeigt uns leider auch die Vergangenheit – im Bundesland Kärnten etwa das ehemalige Kinder- und Jugendheim in Görtschach. In der Institution kam es über mehrere Jahrzehnte zu sexueller Gewalt gegen Kinder durch einen Täterkreis rund um den Einrichtungsleiter und Primar Franz Wurst (vgl. Imsirovic/Loch/Lippitz 2019). Nicht nur, aber auch auf Grund des Vorkommens sexueller Gewalt in Institutionen sind besonders Institutionen der stationären Unterbringung gefordert, sich mit dem Thema fachlich auseinanderzusetzen. Dominik Manteys Praxisbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung in der Heimerziehung. Jugendliche individuell begleiten bietet bei dieser wichtigen Aufgabe eine ausgewogene, wissenschaftlich fundierte, gut zu lesende und mit vielen praktischen Beispielen und Übungen versehene Unterstützung.



Sara Blumenthal – sara.blumenthal@aau.at


Literatur

Blumenthal, Sara-Friederike/Sting, Stephan/Zirfas, Jörg (2020): Jugenden. Pädagogisch-anthropologische Zugänge. In: Blumenthal, Sara-Friederike/Sting, Stephan/Zirfas, Jörg (Hg.): Pädagogische Anthropologie der Jugendlichen. Weinheim/Basel: Belz Juventa, S. 9–30.

Imsirovic, Elvisa/Loch, Ulrike/Lippitz, Ingrid (2019): Totale Institutionalisierung als Gewalt an Kindern und Jugendlichen. In: Österreichisches Jahrbuch für Soziale Arbeit, Vol. 1, S. 49–76.

Mantey, Dominik (2017): Sexualerziehung in Wohngruppen der stationären Erziehungshilfe aus Sicht der Jugendlichen. Weinheim/Basel: Belz Juventa.

Sielert, Uwe (2015): Einführung in die Sexualpädagogik. Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Sigusch, Volkmar (2014): Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Frankfurt/New York: Campus.