soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Einwürfe/Positionen“ / Standort Innsbruck
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/686/1286.pdf


Initiativkreis Care.Macht.Mehr:

Großputz! Care nach Corona neu gestalten

Ein Positionspapier zur Care-Krise aus Deutschland, Österreich, Schweiz


Ausgangspunkt

Die Auswirkungen der Corona-Krise im Care-Bereich sind nicht überraschend. Denn Krise war schon vorher im Erziehungs- und Gesundheitsbereich, in Sozialer Arbeit und im Familienalltag. Wir haben sie im länderübergreifenden Care-Manifest vom Sommer 2013 als Care-Krise bereits skizziert:

„Care in allen Facetten ist in einer umfassenden Krise. Hierzu gehören unverzichtbare Tätigkeiten wie Fürsorge, Erziehung, Pflege und Unterstützung, bezahlt und unbezahlt, in Einrichtungen und in privaten Lebenszusammenhängen, bezogen auf Gesundheit, Erziehung, Betreuung u.v.m. – kurz: die Sorge für andere, für das Gemeinwohl und als Basis die Sorge für sich selbst, Tag für Tag und in den Wechselfällen des Lebens. Care ist Zuwendung und Mitgefühl ebenso wie Mühe und Last. Gleichwohl ist Care keine Privatangelegenheit, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Auch wenn derzeit einzelne Themen öffentlich verhandelt werden (Kita-Ausbau, Pflegenotstand, Burnout etc.), sind grundsätzliche Lösungen nicht in Sicht. Das Ausmaß der Krise zeigt sich erst, wenn alle Care-Bereiche zusammen gedacht werden.“

Die Krise in Care-Bereichen, die durch die Corona-Pandemie nun noch viel deutlicher zu sehen und zu spüren ist, zeigt sich am ohnehin schon bestehenden Mangel an Pflegefachpersonen ebenso wie an der Not von 24-Stunden-Betreuerinnen aus osteuropäischen Ländern. Sie betrifft auch Familien mit Kindern, vor allem durch die Gleichzeitigkeit von Home-Office und Home-Schooling – für Alleinerziehende eine unlösbare Aufgabe. Angehörige von Menschen mit Behinderungen sind betroffen, die nach der Schließung von Betreuungseinrichtungen als Unterstützungspersonal in Verantwortung genommen wurden. Nicht zuletzt leiden Kinder und Jugendliche, die nicht mehr in Kindertagesstätten (Kitas), Horte und Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit gehen können. Zutage treten auch die Probleme, die entstehen, wenn Sozialarbeits-, Gesundheits- und Pflegestrukturen vor allem nach ökonomischen Kriterien ausgerichtet werden. Dies zeigt der eklatante Mangel an Personal und Ausrüstung. Deutlich wurde auch, dass diejenigen, die Care leisten, einerseits endlich als „systemrelevant“ sichtbar und als solche auch beklatscht wurden, aber andererseits in den Krisenstäben und Expertengremien nicht oder nicht angemessen vertreten waren.

In der noch andauernden Pandemie wird einmal mehr deutlich, dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit. Menschen können – in jedem Alter – ohne Care nicht (über-)leben. Frauen sind als Care-Gebende sowohl in Familien als auch in Care-Berufen überproportional aktiv. Dass Care-Tätigkeiten in beiden Bereichen sinnstiftend und erfüllend sein können, entdecken aber auch immer mehr Männer. Wir sollten Care jenseits von Geschlechterklischees denken und adressieren, ohne Geschlechterhierarchien zu verfestigen. Und: Care-Arbeit muss geschlechtergerecht finanziert werden.

Die Krise kann dann eine Chance sein, wenn nicht nur Prämien und Held*innentitel verteilt werden, sondern die Gelegenheit genutzt wird, unsere Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssysteme und somit die Gesamtheit von Care-Arbeit gesellschaftlich solidarischer zu organisieren und zu finanzieren. Wir haben dazu erste Arbeitspakete vor dem Hintergrund unserer Forschungen zusammengestellt, die an einigen Stellen exemplarisch auf die besondere Situation in den drei Ländern Deutschland, Österreich, Schweiz Bezug nehmen.


Care-Reform-Arbeitspakete

1. Care Mainstreaming einführen!

Abhängigkeiten von Anderen und die Sorge füreinander sind keine Randerscheinungen, die auf kleine Gruppen der Gesellschaft reduziert sind. Vielmehr besteht menschliches und gesellschaftliches Leben aus Interdependenzen, denen mit unterschiedlichen Arten von Care begegnet wird. Eine faire Gesellschaft muss deshalb an diesen – für die Existenz aller – notwendigen Tätigkeiten und Bedarfen ausgerichtet werden. Überall in ökonomischen und sozialpolitischen Planungsprozessen soll Care von Beginn an mitgedacht werden: Care Mainstreaming heißt, dass bei allen politischen Maßnahmen aller Ressorts die Auswirkungen auf Menschen, die Care-Verantwortung tragen, die Care-Tätigkeiten leisten oder die Care benötigen, als verpflichtende Dimension bei Entscheidungen berücksichtigt werden. Es braucht dafür eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung darüber, wie wir Care gemeinsam organisieren wollen, in der die Stimmen aller Beteiligten gehört werden. So startet z.B. derzeit in Österreich ein digitaler Beteiligungsprozess zur Zukunft der Pflege, der in der parlamentarischen Entscheidungsfindung seinen Niederschlag finden muss.


2. Professionelle Care-Arbeit angemessen finanzieren und entlohnen!

Die Finanzierung von Kliniken, Pflege-, Sozial- oder Erziehungseinrichtungen basierend auf öffentlichen Mitteln und Beitragszahlungen muss so geändert werden, dass die Erfüllung des sozialpolitischen Auftrags im Vordergrund steht, statt die Erwirtschaftung von Renditen. Dies betrifft vor allem gute Rahmenbedingungen für Nutzer*innen und Beschäftigte. Das Beispiel Österreich zeigt, dass es möglich ist, dies auch politisch umzusetzen: So sind dort in mehreren Bundesländern Altenpflegeheime verpflichtend gemeinnützig zu führen.

Auch in Care-Berufen, die spezialisierte, oft hochqualifizierte Ausbildungen erfordern, ist eine angemessene Tarifierung von Care-Arbeit, die den spezifischen Anforderungen der Tätigkeiten entspricht, wesentlich. Seit den 1980er Jahren gibt es ausgearbeitete Modelle der Arbeitsbewertung, die sowohl Beziehungskompetenzen als auch die unmittelbare Verantwortung für Menschen einbeziehen.

Care-Arbeiter*innen in der Pflege, der Erziehung, der Sozialen Arbeit, aber auch Arbeitende in der Gebäudereinigung sind gewerkschaftlich wenig organisiert. Zudem ist in Deutschland der Anteil der tarifgebundenen Arbeitgeber*innen, die in Verbänden organisiert sind, in vielen dieser Branchen gering. Damit fehlen wesentliche Voraussetzungen für erfolgreiche Tarifverhandlungen und auch für Flächentarife. Um mehr Macht in Tarifauseinandersetzungen zu haben, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen auszuhandeln, ist es erforderlich, dass sich deutlich mehr Beschäftigte aus dem Care-Bereich zusammenschließen und gewerkschaftlich organisieren. Solange dies nicht der Fall ist, ist die Politik gefordert, entsprechende Rahmenbedingungen und Mindeststandards zu setzen, wie dies aktuell in Deutschland im Bereich der Pflege geschieht: Neben dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn wird für die Pflege durch eine „Pflegekommission“ bestehend aus Vertreter*innen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Branchenmindestlohn verhandelt. Dies kann aber nur ein Schritt zu einem System angemessener und gerechter Löhne sein. Das wäre auch für viele weitere Care-Berufe mit geringem Organisationsgrad notwendig.


3. Arbeitsbedingungen in Care-Berufen verbessern!

Der Mangel an Menschen, die in Care-Berufen wie Pflege, Sozialer Arbeit oder Kindererziehung und -betreuung arbeiten wollen, ist über bessere Bezahlung alleine nicht zu beheben. Ein wesentlicher Faktor sind die Bedingungen, unter denen professionelle Care-Arbeit heute geleistet wird. Das gesellschaftliche Image als zweite, schlechtere Wahl gegenüber der ‚eigentlichen‘ Versorgung oder Betreuung in Familien ist dabei nur ein Aspekt. Imagekampagnen, die hervorheben, dass die Lebensbedingungen in Heimen besser sein können als ihr Ruf und dass Kitas besonders gute Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten können, reichen nicht aus. Für die Umsetzung qualitativ hochwertiger professioneller Care-Arbeit braucht es neben gut ausgebildetem Personal vor allem angemessene Betreuungsschlüssel und Fallzahlen, hinreichend Zeit für Kommunikation, um Care-Aufgaben im Dialog gestalten zu können, und auf das Wesentliche fokussierte Dokumentationspflichten. Hierzu gehört z.B. gesellschaftlich-politisches Engagement wie die „Pflegeinitiative“ des Berufsverbandes SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner: www.pflegeinitiative.ch). Dann können Fachpersonen das tun, wofür sie ausgebildet sind: Menschen unterstützen in einem selbstbestimmten Leben. Ebenso braucht es eine Arbeitswelt mit flachen Hierarchien, Mitsprache bei der Gestaltung der Arbeitsprozesse sowie Möglichkeiten für kontinuierliche Fort- und Weiterbildung. Ein weiteres positives Beispiel ist aus Deutschland mit aktivistischer Organisierung gelungen, rund um die Arbeitskämpfe an der Berliner Charité 2014. Hier wurde ein erweiterter Pflegeschlüssel und das Wieder-‚Insourcing‘ von Berufsgruppen in die Klinik (z.B. Reinigungskräfte, Hausmeister*innen) erkämpft.

Prekarisierte Angebote in Pflege und Betreuung, wie etwa die häusliche 24-Stunden-Betreuung, müssen neu geregelt werden: Ausreichende Sozialversicherung, angemessene Entlohnung, fairer Zugang zu Sozialleistungen, kontrollierte Arbeitsbedingungen mit genügend Freizeit und Erholung, menschenwürdige Lebensbedingungen in den Haushalten sowie ein sicherer Aufenthaltsstatus sind vorzusehen. Dies sollte ohne Pseudo-Selbständigkeit und Abhängigkeiten von Vermittlungsorganisationen umgesetzt werden. Darüber hinaus braucht es gesamteuropäische Zugänge, damit nicht die Lösung von Problemen in einem Land durch migrantische Arbeitskräfte zu einer Verschärfung der Care-Krise in deren Herkunftsländern führt.

Ein erster Schritt dazu wäre die Ratifizierung (Österreich) bzw. Umsetzung (Deutschland, Schweiz) der ILO Konvention 189 zum Schutz von Hausangestellten. Die Kampagnen dazu sollten von Selbstvertretungsorganisationen der migrantischen Pflege- und Betreuungskräfte, Gewerkschaften und NGOs gemeinsam getragen werden. Zudem braucht es lokale Informationskampagnen, um die migrantischen Arbeitskräfte über die ihnen zustehenden Rechte aufzuklären und die Haushalte über ihre Pflichten zu unterrichten.


4. Mehr Zeit für Care im Alltag und im Lebenslauf!

Care braucht Zeit – im Beruflichen und im Privaten. Die jeweiligen Aufgaben folgen einer eigenen Logik, nicht einem standardisierten Takt, und davon hängt die Qualität von Care stark ab. Deshalb müssen Menschen über ein Recht auf Zeit für Care-Aufgaben verfügen, das sie beim Berufseinstieg erhalten. Das Verhältnis von Ausnahme und Regel bei der Inanspruchnahme von persönlichen Care-Zeiten wird damit umgekehrt. Denn bislang gilt jede Unterbrechung oder Verkürzung der Erwerbsarbeit als Abweichung von der ‚normalen‘ Erwerbsbiografie. Da verstärkte Care-Bedarfe zu jedem Zeitpunkt auftreten können und oft unvorhersehbar sind, ist mit starren Einzelregelungen – etwa nach der Geburt eines Kindes – nicht viel geholfen. Das Care-Zeit-Budget sollte daher über den gesamten Lebensverlauf hinweg selbstbestimmt und flexibel für unterschiedliche Care-Aufgaben genutzt werden können. Und es muss, da es um gesellschaftlich relevante Tätigkeiten geht und die Erwerbsgesellschaft auf diese angewiesen ist, auch mit einem Lohnersatzanspruch und sozialer Sicherung einhergehen. Ein solches „Optionszeitenmodell“ (www.fis-netzwerk.de) zielt darauf, berufliche Unterbrechungen oder Arbeitszeitreduzierungen für Care-Aufgaben für alle Menschen zu einer neuen Normalität zu machen. Wenn diese selbstverständlich werden, tragen nicht mehr vor allem Frauen die Risiken für Care-bedingte berufliche Auszeiten.

Dieses Zeitmodell kann nur dann geschlechtergerechte Wirkung erzielen, wenn es flankiert wird durch begleitende steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Regelungen (z.B. bei Renten und Pensionen) sowie durch Abschaffung des Gender Pay Gap.


5. Digitalisierung und die Auswirkungen auf Care-Arbeit: Kritisch reflektieren und geschlechtergerecht organisieren!

Der hohe Ökonomisierungsdruck in Care-Institutionen treibt digitale Rationalisierungs- und Standardisierungsprozesse voran. Care-Arbeit ist aber nicht ohne weiteres durch digitale und virtuelle Angebote ersetzbar. Sie braucht unmittelbare menschliche Interaktion, Kommunikation sowie Beziehungen aufgrund persönlichen Vertrauens.

Eine mögliche Gefahr der Digitalisierung liegt darin, dass die impliziten technologischen Möglichkeiten als Lösung für problematische Arbeitsbedingungen gelten, ohne die nötigen strukturellen Reformen für Betroffene und Beschäftigte anzugehen. Wo in Care-Berufen viele Frauen beschäftigt werden, sind Weiterbildungen und betriebliche Schulungen nicht so verankert wie in der Industrie, auch weil Frauen oft in Teilzeit arbeiten und ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen. Für Alleinerziehende ist die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Weiterbildung noch herausfordernder. Care-Beschäftigte dürfen aber nicht abgehängt werden von den digitalen Entwicklungen in ihrem beruflichen Umfeld.

Neue Perspektiven sind nötig, um eine geschlechtergerechte und diskriminierungsfreie Technik zu entwickeln. Hierfür braucht es mehr Frauen als Entwickler*innen, die auch Care- Arbeiter*innen an der Technikentwicklung beteiligen, um ihr Erfahrungswissen einzubeziehen. Es braucht einen Wandel auf gesellschaftlicher Ebene, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschlechtergerecht zu organisieren. Mobiles und flexibles Arbeiten bietet hierfür Chancen. Dabei sind aber unter den neuen Möglichkeiten der Digitalisierung klare Regularien und Betriebsvereinbarungen notwendig, die sich nicht einseitig zum Vorteil der Arbeitgeber*innen ausrichten.

Durch neue Online-Anbieter*innen, die flexibel buchbare Care-Arbeitskräfte vermitteln, breitet sich aktuell ein neuer prekärer Markt in Privathaushalten aus. Eine Reihe von Start-ups der digitalen Plattformökonomie erzielen Gewinne mit App-basierter Vermittlung von Dienstleistungen. Die angepriesene Flexibilität bezahlen jedoch die Arbeitskräfte, auf die die sozialen Risiken abgewälzt werden. Deshalb braucht es spezifische arbeitsrechtliche Regulierungen in diesem Feld und einen umfassenden Schutz der Care-Arbeitskräfte in der Plattform-Ökonomie.


6. Caring Communities: Sorgende Nachbarschaften fördern!

Wenn wir in der Corona-Krise eines gelernt haben, dann, dass es eine hohe Bereitschaft gibt, zusammenzuhalten, aufeinander zu achten und füreinander zu sorgen. Nachbarschaften sind eine wichtige Ressource für das Alltagsleben, können aber nicht auf Dauer Leerstellen des Sozial- und Wohlfahrtsstaates füllen. Deshalb braucht es heute und auf lange Sicht unterstützende Strukturen, z.B. Hauptamtliche aus der Sozialen Arbeit, die freiwilliges Engagement vernetzen und stärken. Sie sollen auch Menschen stützen, die in Familien, Wohngemeinschaften und Nachbarschaften Betreuungs- und Pflegearbeit übernehmen, und mit Informationen versorgen. Zudem sind Anlaufstellen vonnöten, wie etwa Stadtteilcafés oder Dorfläden. Beteiligungsprozesse in der Stadt- und Regionalplanung, um Begegnungsräume und ausreichende Infrastrukturen zu schaffen, sind dazu ebenso unumgänglich wie barrierefreies Bauen.


7. Ausreichend Schutz vor Gewalt!

Care ist eine emotional aufgeladene Tätigkeit, da Sich-Sorgen auf Beziehung und Kontakt beruht, ob im familialen oder professionellen Feld. Sorgen braucht das Sich-Einlassen in einem asymmetrischen Kontext sowohl von Seiten der Sorge-Gebenden als auch von Seiten der Sorge-Nehmenden. Eigene und fremde Wünsche, Ängste, Wut, Scham und andere Gefühle müssen bewältigt und Vorgehensweisen ausgehandelt oder zumindest gegenseitig akzeptiert werden. Care schließt daher mögliches Scheitern durch Missverstehen, Vernachlässigung, Übergriffigkeit oder Gewalttätigkeiten ein und stellt eine Gratwanderung zwischen Hingabe und Abgrenzung, Verantwortung und Bevormundung, Desinteresse und Selbstausbeutung dar. Care-Beziehungen sind besonders dann gefährdet, wenn sie von Machtverhältnissen durchzogen sind wie z.B. Eltern-Kind-Beziehungen, Fürsorge für Kinder in Einrichtungen, Pflege zu Hause und in Einrichtungen und auch Partnerbeziehungen zwischen Frauen und Männern aufgrund von Hierarchien. Besonders in Zeiten von Abschottungen wie während der Corona-Pandemie bleibt Gewalt oft unsichtbar, obwohl viele Anzeichen dafürsprechen, dass aufgrund eingeschränkter Möglichkeiten einander auszuweichen einerseits und steigender Belastungen andererseits, Übergriffe zunehmen. Wie sich Gewalt in Familien und in Einrichtungen in und seit der Corona-Krise verändert hat, muss wissenschaftlich untersucht werden, ebenso die Frage, wie vorhandene Schutz- und Beratungseinrichtungen greifen, wen sie erreichen, wen nicht und wie diese Maßnahmen ausgebaut werden müssen.

Bezogen auf Häusliche Gewalt fordert bereits die Istanbul-Konvention des Europarates (seit 1.8.14 in Österreich, 1.2.18 in Deutschland, 1.4.18 in der Schweiz in Kraft) regelmäßiges Monitoring von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, Sicherung des Schutzes aller von Gewalt Betroffenen, bedarfsgerechte Schutz- und Beratungseinrichtungen, wirksame Schutzrechte von Kindern und Abbau von Kooperationshindernissen zwischen beteiligten Institutionen, um das Recht aller Menschen auf Unversehrtheit zu wahren.


8. Selbst- und Mitbestimmungsrechte von Care-Empfänger*innen ernst nehmen!

Im Zuge der Corona-Maßnahmen wurden freiheitsbeschränkende Entscheidungen in Institutionen, etwa Besuchs- und Ausgangsverbote, ohne die Einbeziehung von kontrollierenden Instanzen getroffen. Es war nicht mehr überall möglich, dass die Zuständigen für Heimaufsicht und gesetzliche Betreuer*innen/Erwachsenenvertreter*innen Besuche machen konnten. In den Krisenstäben waren Care-Empfänger*innen, z.B. Menschen mit Behinderungen, nicht vertreten. Die gesetzliche Verpflichtung zur Bereitstellung der erforderlichen Mittel für Inklusion wurde in Frage gestellt. Prinzipien der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) müssen jedoch auch in der Krise gelten. Gleiches gilt für die Prinzipien der Kinderrechtskonvention. Dies bedeutet, dass Partizipation im Sinne von Mitbestimmung („Mit uns, nicht über uns“) an allen Entscheidungen, die Care-Empfänger*innen betreffen, umfassend verankert und umgesetzt werden muss. Das heißt auch, dass Nutzer*innen mit ihrer Expertise in die Entwicklung von Konzepten und Maßnahmen aktiv einbezogen werden sollen. Dazu braucht es Teilhabe fördernde Strukturen und Prozesse wie Selbstvertretungsorgane in Einrichtungen, partizipative Hilfe- und Sozialplanung.


9. Europäische und internationale Solidarität stärken!

Die Corona-Krise hat gezeigt: Bei Gefahr wurde der Nationalstaat gestärkt und vor allem in diesem Rahmen Solidarität gezeigt. Europa steht aber für internationalen Zusammenhalt, grundsätzlich und gerade in Krisenzeiten. Es braucht deshalb Katastrophenschutzpläne, die länderübergreifend gelten, sowie unbürokratische Kooperationen, die gegenseitige Hilfe bei Care-Bedarfen ermöglichen. Zudem müssen Grundrechte wie Asyl und Recht auf reproduktive Selbstbestimmung garantiert bleiben. Die 2017 vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission verabschiedete Proklamation „Europäische Säule sozialer Rechte“ mit den drei Bestandteilen „Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang“, „Faire Arbeitsbedingungen“ sowie „Sozialschutz und soziale Inklusion“ muss zügig umgesetzt werden - auch mit einer Einladung an die Schweiz, daran mitzuwirken (https://ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/social-summit-european-pillar-social-rights-booklet_en.pdf).


Diese Liste an Arbeitspaketen ist nicht abschließend. Aber wer sich beim Aufräumen und Umbauen allzu viel vornimmt, schafft meist nichts. Lassen Sie uns also damit anfangen. Zur alten ‚Normalität‘ wollen wir nicht zurück!


Neue Bündnisse schmieden!

Der kommende Großputz wird nur zu bewerkstelligen sein, wenn alle - gerade auch die unterschiedlichen Interessensgruppen - zusammenwirken. Wir als Initiativkreis von Forscher*innen können sozial- und gesundheitswissenschaftliche Expertise liefern. Aber es braucht zusätzlich Fachwissen aus der Praxis, von Nutzer*innen und Beteiligten aus allen Care-Bereichen: Pflege, Betreuung, Versorgung, Erziehung, Beratung, Soziale Arbeit. Unverzichtbar sind dabei die Wohlfahrtsverbände, Verwaltungen, Gewerkschaften und Initiativen, die sich mit einzelnen oder übergreifenden Care-Themen befassen.


Initiativkreis

Prof. Dr. Margrit Brückner, Frankfurt; Prof. Dr. Eva Fleischer, Innsbruck; Prof. Dr. Claudia Gather, Berlin; Dr. Karin Jurczyk, München; Dr. des. Frank Luck, Basel; Prof. Dr. Maria S. Rerrich, München; Prof. Dr. Barbara Thiessen, Landshut; Dr. Bernhard Weicht, Innsbruck.

Link: www.care-macht-mehr.com
Kontakt: V.i.S.d.P. Prof. Dr. Barbara Thiessen, Am Lurzenhof 1, D-84036 Landshut


Wir danken Deborah Oliveira (Zentrum Gender Studies, Universität Basel, Schweiz), Katharina Pühl (Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Deutschland) und Dr. Sarah Schilliger (IZFG Universität Bern, Schweiz) für Beratung und Anregungen.