soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Thema“ / Standort Linz
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/687/1242.pdf
Charlotte Sweet & Franz Schiermayr:
1. Einleitung
Tagtäglich verwenden wir sie: digitale Informations- und Kommunikationstechnologien. Sie begleiten uns heute durch den Berufsalltag wie durch das Privatleben, über sie sind wir 24/7 verfügbar, wie sie für uns. Wir wissen um das privacy paradox, welches besagt, dass wir uns Privatsphäre zwar wünschen, aber dennoch bereitwillig unsere Daten zur Verfügung stellen im Gegenzug für die Möglichkeit, in Echtzeit digital zu kommunizieren und konsumieren.
Bereitwillig? Vielleicht doch nicht ganz. Shoshana Zuboff (2019: 217) nennt die Vereinbarungen, mittels derer wir täglich per Cursor-Klick der Analyse unseres Verhaltens in Datenform zustimmen, „uncontracts“ – auf Deutsch „Unverträge“. Denn einen Vertrag geht man in demokratisch legitimierten Rechtssystemen freiwillig ein, hier aber besteht erheblicher sozialer und wirtschaftlicher Zwang. Darüber hinaus ist es Laien schier unmöglich, derartige Verträge mit neuartigen Rechtskonstrukten in der verfügbaren Zeit zu lesen, während eigentlich erwartet wird, dass man zügig seine Arbeit erledigt oder Freund*innen seine Nachrichten und Fotos übermittelt. Noch weniger scheint es möglich, das, was man hier vereinbart hat, in seiner Komplexität zu verstehen und zu verantworten.
Vielleicht ist es also kein Paradoxon, das unsere Privatsphäre bedroht, sondern ganz normaler autoritärer Zwang. Digitale Medien haben etwas Autoritäres, etwas Brutales, schreibt Armin Nassehi (2019: 175) in seinem gesellschaftstheoretischen Werk Muster. Weil digitale Geräte auf binären Werten aufbauen – dem Stromfluss oder der Unterbrechung, dem Entweder-oder von Kontakt oder Nicht-Kontakt – sind digitale Systeme für Nassehi einerseits radikal reduziert und andererseits unbegrenzt vielfältig. Die Rekombinationsmöglichkeiten einfacher Muster seien so ausufernd, dass moderne Gesellschaften mit möglichen Optionen regelrecht überfordert würden. Aber eben nur mit solchen Optionen, die durch den Basiscode ermöglicht werden.
Für Nassehi determiniert der Basiscode die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, deren Ausdifferenzierung die Errungenschaft der Moderne darstellt. Aus der Perspektive jedes dieser Systeme (Rechtssystem, Wirtschaftssystem, Wissenschaftssystem,…) wird nur ein Teil der menschlichen Existenz beleuchtet – was auch bedeutet, dass nicht ein gesamtes Leben, nicht eine gesamte Person zum Mittelpunkt der Bewertung wird, sondern immer nur ein Aspekt dieser Person. Dadurch entstanden beispielsweise soziale Mobilität (das Geld jedes Menschen ist z.B. gleich viel wert, unabhängig von dessen gesellschaftlicher Stellung) sowie die Trennung der Gewalten (Staat, Kirche, Gesetzgebung, Exekutive, …). Für Nassehi entspricht ein digitales Medium auf technologischer Ebene dieser modernen Differenzierung einer einzelnen menschlichen Existenz in perspektivische Daten.
Soweit bereits bekannt, denn wenn die Digitalisierung lediglich die logische Folge der aufklärerischen Vernunfthaltung und Analysefähigkeit ist, dann ist sie ein alter Hut, der möglicherweise nur neu ausgekleidet wird, um dem Zeitgeist zu entsprechen. Wie aber sieht dieser Zeitgeist aus? Die Kulturwissenschaft benennt die aktuelle Ära sowohl als Spätmoderne, als Postmoderne, als auch als Post-Postmoderne, wobei der Gebrauch des Labels Postmoderne insbesondere im Zuge der Aufarbeitung der Terroranschläge von 9/11 eher in den Hintergrund gerückt ist (vgl. Kirby 2006). Auch die Autor*innen dieses Artikels verwenden den aufbauenden Begriff Post-Postmoderne, um auszudrücken, dass es sich momentan um ein gesellschaftliches Geschehen handelt, das nicht mehr primär die Dekonstruktion scheinbar autoritär vorgegebener Muster und Kategorien zum Ziel hat, sondern vielmehr die Systematik der Moderne benutzen will, um der radikalen Dekonstruktion und der grundlegenden Verunsicherung, die aus ihr entsteht, entgegenzuwirken. Eine Gesellschaft, die versucht sich einen alten Hut aufzusetzen.
Dabei gäbe es doch bereits neue Hüte – welche, die wie Tarnkappen eine neue Wirklichkeit entstehen lassen. In dieser Wirklichkeit kann nur das klar festgemacht werden, wofür sich Einzelne jeweils interessieren und worauf sie ihre Aufmerksamkeit gerade richten; alles andere ist aktuell nicht Teil der erkennbaren Realität. Wie Schrödingers Katze, die weder tot noch lebendig ist bzw. sowohl lebendig als auch tot, solange man die Schachtel nicht öffnet, in die sie mit einer Kapsel Gift eingeschlossen ist. Wie ein Partikel, dessen Aufenthaltsort nur als Wahrscheinlichkeitsamplitude dargestellt werden kann, bis eine Messung ihn definitiv festmacht (vgl. Steinhauser 2017: 569). So lautet die physikalische Beschreibung des mittlerweile metaphorischen Quantensprunges. Damit wird eine Wirklichkeit beschrieben, die Ambiguität toleriert, bis eine Beobachtung kurzfristig Eindeutigkeit herstellt, während alles andere weiterhin im Möglichkeitsbereich verschwimmt. Diese Wirklichkeit basiert nicht auf einem Entweder-oder Grundmuster, welches einen eindeutigen Wahrheitsanspruch stellt. Vielmehr heißt das Grundmuster Sowohl-als-auch.
Vielleicht ist es möglich, eine Sowohl-als-auch-Betrachtungsweise als Grundlage für Verantwortlichkeit anzusetzen, ohne Angst, die Gesellschaft könnte ihre soziale Integrität verlieren, wenn autoritärer Zwang und Strafe als Eindeutigkeitswerkzeuge aufgegeben werden? Systemkontingenzen bieten Einzelnen eine große Menge an möglichen Perspektiven – sie sind aber, anders als digitale Systeme, nicht durch vereinfachende Grundmuster begrenzt. Lassen wir sie alle zu, werden wir möglicherweise von Angst überflutet…und/oder auch auf neue Weise kreativ? Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Auslassungen der digitalen Kommunikation und den notwendigen Anpassungen für die Soziale Arbeit. Dabei geht es vorrangig um die Frage, welche Art von Kreativität und Entwicklung nötig erscheint, um die digitale Revolution zu kultivieren und sie als Werkzeug für die Soziale Arbeit und gesellschaftliche Entwicklung nützlich zu machen.
2. Systematik und Systemik – ein alter Hut?
Als traditionelle Begriffe wirken die beiden wie ein grüner Filzhut mit Gamsbart oder ein Stetson mit seinen charakteristischen Dellen. Sowohl systematisch als auch systemisch sind mittlerweile eingängige Bezeichnungen – beide positiv konnotiert und fast gleichbedeutend mit „solide, grundlegend“. Wenn Therapeut*innen systemisch arbeiten, dann gehört das sozusagen zum guten Ton; was genau damit gemeint ist, wird immer seltener thematisiert (vgl. Schlippe/Schweitzer 2012: 31–86). In jedem Fall erwarten sich Klient*innen von Therapie oder Beratung eine Orientierung über das Individuum hinaus, die das Bezugssystem einbezieht und im besten Fall ganzheitlich ist. Idealerweise ist Therapie, wenn sie systematisch die Problemlagen durchkämmt und daraufhin systemisch wirksam wird, effektiv.
Systematisch scheint also gleichbedeutend mit methodisch zu sein, im Sinne einer logikorientierten Abhandlung im modernen, aufklärerischen, vernunftorientierten Sinne. Systemische Herangehensweisen dagegen implizieren eine übergeordnete Betrachtungsweise, die ganze Systeme überblickt und ihre Interaktionen und Kontingenzen einschätzt. Beispielsweise werden in einem Familiensystem die Perspektiven der verschiedenen Mitglieder sowie deren Einordnung in eine größere Gesellschaft beleuchtet. Das führt zu verschiedensten Erkenntnissen aus unterschiedlichen Perspektiven und auf unterschiedlichen sozialen Ebenen.
Nun stellt sich allerdings die Frage, ob diese übergeordnete Betrachtungsweise von Systemkontingenzen nicht zum Schluss führen müsste, dass die Probleme des Einzelnen im System nicht gelöst, sondern sich nur durch ständige Verhandlung verändern können. Müsste sich nicht die Erkenntnis ergeben, dass das Leben selbst augenscheinlich durch kontinuierliche Verhandlung charakterisiert ist (vgl. Luhmann 1987: 25–29)? Erst mit dem physischen Tod wird in Bezug auf das physische Leben scheinbar ein definitiver Zustand festgeschrieben, der nicht mehr verhandelbar ist. Doch selbst dann versucht das menschliche Bewusstsein trotzdem weiter zu verhandeln, wie sich angesichts der zahlreichen Vermutungen bzgl. der Unsterblichkeit des individuellen Geistes erkennen lässt.
Trotz der Augenscheinlichkeit dieser andauernden Verhandlungsnotwendigkeiten finden sich in der systemisch motivierten Therapiewelt gerne manualisierte Rezeptvorschläge zur Lösung sozialer Probleme (vgl. Schlippe/Schweitzer 2014). Diese Manuale scheinen eine Tendenz zu repräsentieren, systematisch-analytisch nach Eindeutigkeit zu streben, obwohl Ambiguität so kraftvoll zu Tage tritt und man eigentlich systemisch an die Dinge herangehen möchte. Aber dass die Welt in dieser Weise widersprüchlich ist, ist sicherlich ein alter Hut. Systemisch zu betrachten hingegen, ist eine postmoderne Innovation, da sich diese Betrachtungsweise auf das Erkennen von Differenz stützt, was weiterführend auch die lose Kopplung von Zeichen und Bezeichnetem illustriert, wie Jacques Derrida das in seinem Konzept der différance beschreibt (vgl. Derrida 1973). Durch das systemische Betrachten wird die Welt um einiges komplexer, wird Komplexität aber auch wesentlich erfassbarer.
Bereits 1968, in seinem Werk Vertrauen, konstatierte Niklas Luhmann: „Auf der Grundlage sozial erweiterter Komplexität kann und muss der Mensch wirksamere Formen der Reduktion von Komplexität entwickeln.“ (Luhmann 2014: 8) In dieser Abhandlung stellte Luhmann fest, dass bereits Thomas Hobbes den Sicherheitsaspekt der sozialen Komplexität zu ernst genommen hatte und daher auf absolute Herrschaft pochte. In einer solchen autoritären Regierungsform geht der Zugewinn der einseitig hergestellten Eindeutigkeit jedoch auf Kosten der flexiblen Komplementarität der sozialen Rollen, die eben ständig ausgehandelt werden. Somit behindert autoritäre Herrschaft womöglich eine evolutionäre, kreative soziale Entwicklung. Das Misstrauen der Herrschenden verhindert scheinbar freie Entfaltung und soziale Innovation. Jedenfalls behindert es gleichberechtigtes Handeln. „Wo es Vertrauen gibt, gibt es mehr Möglichkeiten des Erlebens und Handelns“ (Luhmann 2014: 8), resümierte Luhmann vor mittlerweile 53 Jahren.
Auch aktuell wird der Gegensatz zwischen Misstrauen und Vertrauen wieder intensiv diskutiert. Gerade hat Rutger Bregman (2020) diese ideologische Voreingenommenheit in seinem aktuellen Werk Im Grunde gut zum Grundsatzthema erhoben, das möglicherweise die Entwicklung der Menschheit politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich und sozial viel massiver steuert als bisher ins Bewusstsein gerufen. Luhmann jedenfalls schien überzeugt davon, dass Vertrauen Systeme gestaltend beeinflusst, wobei die grundsätzliche Struktur der Systeme anfangs als gegeben angenommen wurde.
Die Systemtheorie entwickelte sich aus einer ursprünglichen strukturell-funktionalen Betrachtungsweise, welche davon ausging, dass Systeme notwendigerweise bestimmte Strukturen aufweisen und ihre funktionalen Leistungen dazu dienen, die bestehenden Strukturen aufrecht zu erhalten. Dabei wurde der Frage, weshalb Systeme gerade diese Strukturen aufweisen, keine Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Willke 2006: 5). Dieser theoretische Ansatz würde eine eher systematische Herangehensweise an Gestaltungsprozesse nahelegen. Werden individuelle Strukturen als naturgegeben angenommen, wäre es ausreichend, lediglich die notwendigen Funktionen zur Systemerhaltung zu betrachten bzw. diese in Unterstützungsprozessen wiederherzustellen oder eben neu zu erlernen. Bei der Betrachtung sozialer Austauschprozesse und Strukturen geht es also um eine Analyse der strukturellen Notwendigkeiten bzw. Probleme und der sich daraus ergebenden Anpassungen der notwendigen Funktionen, um die Existenz zu sichern. Ein solcher theoretischer Zugang regt an, die individuelle Struktur von Systemen umfangreich zu analysieren, um auf Grundlage dieser Analyse für die praktische Umsetzung dieser Erkenntnisse Funktionsanpassungen zu initiieren.
Solche Vorgehensweisen finden sich vielfach in manualisierten Programmen in der Beratung und Therapie und stellen sich eher systematisch, wenn auch unter Einbezug der Umwelt der einzelnen Systeme dar. Beispielsweise entdeckte die Psychotherapeutin Virginia Satir (2018) bereits in den 1970er Jahren die Wirkungen der relevanten Umwelt und etablierte die „Familienskulptur“ als Methode, dies darzustellen. Damit war sie zwar systemisch ausgerichtet, aber immer noch sehr systematisch in der Darstellung von Zusammenhängen – während Luhmann die Systemtheorie weiterentwickelte, indem er die Autopoiese in die Theorie integrierte und das neue Paradigma der „Differenz von Identität und Differenz“ etablierte (Luhmann 1987: 26). Damit steht weniger die scheinbar eindeutige Entscheidung für Vorgehensweisen oder Betrachtungen im Vordergrund, sondern der Fokus liegt auf der Aushandlung, da Ambiguität das wesentliche Merkmal für Systemerhalt darstellt.
Seit Beginn der Aufklärung scheint es, dass Menschen es genießen, Komplexität zu reduzieren, um unter kontextuell vereinfachten Bedingungen Zusammenhänge dingfest zu machen, die sich in analogen und quasi-analogen Situationen replizieren lassen. Die westliche Wissenschaft bedient sich in ihrer Empirie statistischer Methoden, um die Umwelt kontrollierbarer und steuerbarer zu machen. Besonders im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung von Informations- und Kommunikationsmedien wurde es praktisch, menschliches Verhalten in Zahlen zu messen und auszudrücken, um Menschen die für sie passende Information, das für sie passende Produkt oder den Service anzubieten, den sie sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit erhoffen. Algorithmen stehen hinter der Art von Software Engineering, die mittlerweile nicht nur im kommerziellen Bereich, sondern auch in behördlichen Verwaltungssystemen zum Einsatz kommt. Oftmals sind die Parameter, die ein Algorithmus für seine Berechnungen verwendet, sowie die Gewichtung dieser Parameter, der Fokus hitziger Diskussionen. Ein aktuelles Beispiel wäre der angedachte Algorithmus des AMS, der unter dem Deckmantel eines ressourceneffizienten Serviceangebots natürlich auch eine Ideologie einprogrammiert hat, die von vielen als diskriminierend angeprangert wird (vgl. Szigetvari 2018: o.S.). Wenn solche Diskussionen öffentlich werden und über Umsetzungen verhandelt werden kann, dann ist das demokratiepolitisch hilfreich. Die Frage ist, wie oft in Berechnungen eingebettete ideologische Annahmen tatsächlich diskutiert werden. Angesichts der Fülle an Software, digitalen Systemen und angesichts der Tatsache, dass die meisten unserer Klicks im Internet quantifiziert und ausgewertet werden, scheinen öffentliche Verhandlungsprozesse über die Zulässigkeit von Bewertung und Gewichtung selten geführt zu werden. Eher wird beim Quantifizieren menschlichen Verhaltens der Eindruck erweckt, es handle sich um naturgegebene Größen, die hier verglichen werden. Der Ökonom Thomas Piketty führt in seinem neuesten Werk Capital and Ideology immer wieder aus, dass sogenannte Fakten notwendigerweise soziale Konstrukte sind
„From ‚facts‘ alone we will never be able to deduce the ideal political regime or property regime or fiscal or educational regime. Why? Because ‚facts‘ are largely the products of institutions (such as censuses, surveys, tax records, and so on). Societies create social, fiscal, and legal categories to describe, measure, transform themselves. Hence ‚facts‘ are themselves constructs.“ (Piketty 2020: 9)
Digitales Darstellen setzt auf technischer Ebene voraus, dass man sich auf ein Grundmuster von Zeichen begrenzt und die analoge Realität als Funktion dieses Zeichensatzes berechnet. Auf diese Weise entstehen virtuelle Repräsentationen der physischen Welt, die auch beliebig vervielfältigbar sind, ohne an Qualität einzubüßen. Wenn Menschen über digitale (d.h. repräsentative und hochrechnende) Medien miteinander kommunizieren, dann wird ihr Bild, ihr Gesagtes, ihr Geschriebenes anderen Menschen übermittelt bzw. dargestellt. Was fehlt, sind jene Daten, welche lediglich aus einem nur rudimentär vorhandenen physischen und sozialen Kontext hochgerechnet wurden.
Ein Vergleich zwischen digitalen und sozialen Kommunikationsmodellen führt hier sehr schnell zum wunden Punkt: durch das Auslassen wichtiger analoger Informationen wird die Interpretation des Kommunizierten beim Empfänger massiv erschwert. Auch quantenphysikalische Informationsmodelle basieren auf der Ansicht, dass Information erst bei der Messung, d.h. in der Regel auf der Empfangsseite, aus einer Amplitude von wahrscheinlichen Informationszuständen realisiert wird. Damit geht die Überlegung einher, dass jede Messung, jede Beobachtung das beobachtete System stört und verändert. In seinen Vorlesungen in St. Andrews im Winter 1955/56 tätigte Werner Heisenberg den mittlerweile viel zitierten Ausspruch: „We have to remember that what we observe is not nature itself, but nature exposed to our method of questioning.“ (Heisenberg 2000: 25) Die Entwicklung der Quantenmechanik seit den 1920er Jahren hat sowohl physikalisch als auch philosophisch ein neues erkenntnistheoretisches Paradigma erschlossen. Heisenbergs Unschärferelation, die Quantenverschränkung sowie die informationstheoretische Erkenntnis, dass in einem Quantenbit Information enthalten ist, die nicht realisiert wird, sind im traditionellen wissenschaftlichen Sinne kontraintuitiv. Dennoch schreitet auch die Entwicklung der Quanteninformationstheorie und ihrer Technik rasch voran (vgl. Barnum/Wehner/Wilce 2018: 853–856).
Auf der Makroebene lässt sich beobachten, dass Menschen, die hauptsächlich über digitale Medien kommunizieren, den sozialen und physischen Kontext ihrer Kommunikation ständig mitgenerieren müssen, um Information festzumachen. Als soziale Wesen müssen Menschen ihre Kommunikation in Einklang mit den sozialen Systemen halten. Das geht noch relativ einfach, wenn man die Organisationen und die Menschen kennt, mit denen man digital kommuniziert. Fällt der physische Kontakt komplett aus, wird es für menschliche Gehirne immer schwieriger, diese sozialen Kontextleistungen adäquat zu erbringen. Die zentrale Herausforderung in der digitalen Kommunikation scheint daher die permanente Notwendigkeit der Rekontextualisierung der beteiligten Kommunikationssysteme zu sein.
Der alte Hut an der Digitalisierung ist somit sicher die Systematik, der Versuch einer Vereinfachung der Realität, um selbige zu begreifen und zu managen. Ganz systematisch wird versucht, zu analysieren, hochzurechnen, zu repräsentieren. Die Ausgleichsleistung des menschlichen Gehirns, die es braucht, um weiterhin analog sozial ankoppelbar zu bleiben, ist wohl ein neuer Hut. Genau wie die Leistung selbstlernender digitaler Systeme, von Wirkung auf Ursache rückzuschließen, d.h. tatsächlich abduktiv (vgl. Nassehi 2019: 234–236; Peirce 2016: 102–103) und somit originär kreativ zu sein. Menschen verhandeln kontinuierlich ihre soziale Wirklichkeit, wenn sie digital kommunizieren. Digitale Systeme verhandeln mögliche Ursachen, um sich einer analogen Wirksamkeit anzunähern. Dies ist systemisches Handeln und Denken, das sich über die Systematik hinausentwickelt.
3. Zurück zum systematischen Zeitgeist oder hin zur systemischen Menschlichkeit?
Die Kulturphilosophie ordnet der Aufklärung gerne den Begriff der Moderne zu. Darunter ist zu verstehen, dass das Magische, das Unerklärbare und das willkürlich Herrschaftliche hinter handfeste Erklärbarkeit und grundsätzliche soziale Gleichwertigkeit zurücktreten. Hier findet die logikorientierte, vernunftgetriebene, methodische Wissenschaft ihren Ausgang – und was von dieser Wissenschaft nicht erklärt oder beschrieben werden kann, bleibt „esoterisch“. Im sozialen Bereich werden die Menschenrechte zentral und die damit einhergehende Auffassung, dass jeder Mensch die gleichen Rechte und Pflichten haben soll (vgl. UNO 1948).
Wird die Moderne meist inhaltlich und teils zeitlich mit der Neuzeit gleichgesetzt, so verhält es sich mit den Begriffen Postmoderne oder gar Post-Postmoderne wesentlich kontroverser. Während viele die aktuelle Ära als Spätmoderne bezeichnen (vgl. Reckwitz 2019: 203), sprechen andere – die Autor*innen dieses Artikels eingeschlossen – von der Post-Postmoderne (vgl. Sweet/Schiermayr 2019). Wichtiger als die kategorische Terminologie ist in diesem Zusammenhang aber wohl eine ausführliche Diskussion der möglichen Bedeutung von Abgrenzungen im Zeitgeist. Offensichtlich scheint, dass die Moderne sich ideologisch stark von gesellschaftlichen Mustern, die die angeborene Ungleichheit der Menschen und die Unerklärbarkeit vieler Lebensumstände als gegeben annahmen, unterscheidet. In ähnlich ausgeprägter Weise unterscheidet sich eine auf die Moderne folgende zeitgeistige Strömung, welche die Frage aufwirft, ob man von einer eindeutigen Realität ausgehen kann. Ist diese Realität für alle Menschen in derselben Weise wahrnehmbar und nachvollziehbar mittels einer angeborenen menschlichen „Vernunft“?
Ende der 1970er Jahre schien es in Westeuropa, als würden Rechtssysteme zu Unrecht vom Maßmenschen ausgehen und die Wirklichkeiten der Menschen sich viel diverser gestalten als bisher angenommen – und das zurecht. Gesellschaften entschlossen sich, dem Druck mancher Wirklichkeiten nachzugeben. So entwickelte sich Homosexualität spätestens in den 1990er Jahren von einer Krankheit zu einem akzeptablen Lebensstil. So wurden Frauen Männern in vielen Gesellschaftsbereichen sukzessive rechtlich gleichgestellt. So begannen die Neurowissenschaften zu erforschen, wie viel/wenig unserer Gehirntätigkeit willentlich beeinflussbar ist und wie sinnhaft daher die Erörterung von Schuldfähigkeit vor Gericht ist (vgl. Eagleman 2010). Zudem eröffnete sich die Einsicht, dass Gesagtes (Symbolisiertes) und Gemeintes (inhaltlich Bedeutetes) eine sehr lose Entsprechung (Kopplung) haben, die immer wieder neu verhandelt wird. Jacques Derrida entwickelte, wie oben schon erwähnt, sein Konzept der différance (vgl. Derrida 1973) – letztlich ein systemtheoretisches Konzept, das von Luhmann und seinen Nachfolger*innen dankbar aufgegriffen wurde (vgl. Luhmann 2006: 212).
Zusammenfassend kann man feststellen, dass postmodernes Gedankengut moderne Strukturen aufweichte und damit Verunsicherung stiftete (vgl. Lyotard 1979). Dies in einer Zeit, in der durch die Methodik der Moderne gerade annähernd Sicherheit aufgebaut worden war – zumindest, bis die Gräuel des Zweiten Weltkrieges die strukturell etablierte und methodisch-wissenschaftlich angeleitete Grausamkeit so abschreckend zur Schau trugen (vgl. Barker/Barker 2016: 225–226). Das moderne Individuum wurde in seiner Suche nach Eindeutigkeit also stark verunsichert, woraufhin in der Postmoderne noch mehr Verunsicherung entstand, indem bisher brauchbare Systematik dekonstruiert wurde. Und was nun?
Nun leben wir möglicherweise in der Post-Postmoderne – einer Zeit, in der die Verunsicherung durch die Postmoderne mit den Mitteln der Moderne bekämpft wird und daran zu scheitern droht. Eine Zeit, in der systemische Perspektiven zuerst eröffnet und dann systematisch begrenzt und abgehandelt werden, wie etwa in der Psychiatrie, in der Diagnosen von Störungen gestellt und administrativ zur dauerhaften Wirklichkeit erhoben werden. Damit wird die ursprüngliche Intention der Psychotherapie – die Überwindung von Störungen durch systemische Impulse – ad absurdum geführt. Scheinbar ist es eine Zeit, in der die Wissenschaft sich gegen offenbar werdende Mehrdeutigkeit wehrt und das Analoge in ein digitales Korsett gepresst werden soll, damit die Angst weniger wird. „Wer sich führen lässt, braucht keine Angst mehr zu haben, sich zu verlaufen.“ (Bauman 2018: 183) Aber kann man weniger ängstlich werden, wenn man keine Luft bekommt?
Die Post-Postmoderne könnte also eine asthmatische, zwangsgestörte Periode sein, in der schizoide, autistische, narzisstische, auf sich selbst zurückgeworfene Persönlichkeitsstrukturen überhandnehmen. Dies auch deshalb, weil die Menschen möglicherweise völlig überfordert sind vom Fehlen des sozialen und physischen Kontexts in ihren digitalen Kommunikationswelten und systematischen Systemen. „Wir leben in einer Epoche der Brüche und Diskrepanzen, einer Epoche, in der alles – oder fast alles – möglich ist, während man nichts – oder so gut wie nichts – in der Gewissheit, es zu durchschauen, selbstbewusst angehen kann.“ (Bauman 2018: 187) Oder aber diese Epoche könnte die Menschheit zu einem Salto vorwärts zwingen in eine Zeit, in der Wahrscheinlichkeiten besser erfassbar werden, in der Mehrdeutigkeit weniger verunsichert, weil soziale Systeme flexibler auf wechselnde Umstände reagieren können – eine Zeit, in der Menschen sich gegenseitig grundsätzlich vertrauen und dadurch befähigt sind, ihre Handlungen zu verantworten. Eine Zeit, in der Verantwortung kein Damoklesschwert ist, das oben von unten trennt, sondern eine gemeinsame menschliche Haltung, die verbindet.
4. Digitale Prozessverantwortung: doppelt kontingent und partizipativ
Digitalisierung scheint durch ihre Art der Codierung und durch die enorme Rechenkapazität von Computern systematisierte Abläufe zu ermöglichen bzw. zu fördern. Während digitale Systeme durch ihren simplen Grundcode fast unbegrenzt rekombinieren können, bleiben sie letztlich doch in ihrem Grundcode gefangen, sie können sich sozusagen nur innerhalb ihrer programmierten Ideologie bewegen und entwickeln (vgl. Nassehi 2019: 174). Wie im oben bereits ausgeführten Beispiel des AMS-Algorithmus bedeutet dies, dass, wer in diesem Rahmen aus welchen Gründen auch immer nicht eingeschlossen ist, sich auch nicht mehr hineinreklamieren kann. Im AMS-Beispiel würde dies zwischen 10 und 20 Prozent der Arbeitssuchenden betreffen (vgl. Holl et al. 2018: 15). Eine Form der Exkommunikation aus sozialen Interaktionen wird vorgenommen, ohne den Betroffenen eine Möglichkeit zur Verfügung zu stellen, sich zu äußern. Digitalisierung stellt in diesem Zusammenhang eine Gefahr dar, denn digitale Systeme werden, wie bereits besprochen, mit ideologischen Annahmen gespeist und setzen diese systematisch um – oftmals, ohne diese Annahmen zu thematisieren oder auch die Möglichkeit für eine diesbezügliche Verhandlung anzubieten.
Systematisches Vorgehen versucht Kontingenz zu vermeiden und stellt Eindeutigkeit in Aussicht. Um es mit Begriffen der Logik zu sagen: Systematik ist rein deduktiv, eine lineare Wenn-dann-Logik. Sie speist sich selbst mit induktiven Beweisen, aber sie blickt nicht interessiert nach vorne und hypothetisiert kreativ auf der Basis dessen, was sich ihren Sinnen bietet. Charles Sanders Peirce (2016: 102–103) meinte, dass nur die Abduktion, der kreative Rückschluss von der Wirkung auf die mögliche Ursache, neue Erkenntnisse liefern kann. Um diese abduktive Denkleistung zu erbringen, braucht es systemisches Denken, das aus den bekannten Strukturen ausbrechen darf. Luhmanns Konzept der doppelten Kontingenz, also die bestehende gegenseitige Abhängigkeit im System, kann dazu anregen sich vorsichtig aneinander heranzutasten.
Luhmann (1987: 179) beschreibt als wichtigste soziale Folge doppelter Kontingenz – insbesondere, wenn es riskant erscheint, sich auf Umstände einzulassen –, das Entstehen von Vertrauen bzw. gegebenenfalls von Misstrauen. Selbst wenn mir klar ist, dass mein Gegenüber mich im Unklaren lassen könnte über seine*ihre Absichten, und wenn ich weiß, dass es umgekehrt ebenso ist, habe ich Interesse daran, sozialen Kontakt herzustellen. Ich kann also Anderen Vertrauen entgegenbringen und somit meine eigenen Handlungsmöglichkeiten stark erweitern. Jemandem Vertrauen entgegenzubringen impliziert auch die Möglichkeit, Misstrauen zu entwickeln, denn ein zentrales Merkmal von Vertrauen ist, dass es freiwillig geschenkt wird. Es kann nicht verordnet oder aufgetragen werden, sondern benötigt einerseits die Freiheit der Wahl und stellt andererseits einen zirkulären sozialen Tatbestand dar, welcher zu nachhaltiger Verbindung führt (vgl. Luhmann 2014: 92–93).
Wie kann nun innerhalb digitaler Kommunikation mit ihrem inhärenten Eindeutigkeitsanspruch der Umgang mit doppelter Kontingenz – also die Entwicklung von Vertrauen – ermöglicht werden? Um dies zu erreichen, ist es notwendig, den Blick auf die Wahlfreiheit zu richten. In einer digitalen Gesellschaft ist es schwierig, sich freiwillig für oder gegen die Teilnahme am Datenaustausch zu entscheiden (vgl. Zuboff 2019). Die Teilnehmenden sind zwar verantwortlich für ihre Zustimmung, können aber gleichzeitig ihren Verantwortungsbereich weder überblicken noch beeinflussen. Doch gerade der Wille zum verantwortlichen Handeln, zum vertrauensvollen Miteinander, scheint die wesentliche Grundlage zu sein, wenn es um die Entwicklung und Gestaltung menschlicher Zukunft geht. Verantwortung wird an dieser Stelle weniger als individuelle Verantwortlichkeit für einzelne Handlungen gedacht, sondern betrachtet die Komplexität und den Zusammenhalt in einer post-postmodernen Gesellschaft. Es soll daher ein systemischer Begriff von Verantwortung eingeführt werden, der eine Haltung beschreibt, die gestaltend und verbindend, kreativ und systemisch wirksam werden kann.
Systemverantwortung rechnet Handlungsfolgen nicht mehr dem menschlichen Subjekt zu – ein Konzept, welches in einer Zeit vielfältiger technischer Innovationen wie selbstfahrender Autos ohnehin überholt erscheint –, sondern betrachtet die Wirkung von Strukturen und Regeln in denen Handeln erfolgt (vgl. Wilhelms 2017: 502). Gerade die zunehmende Digitalisierung führt zu einer Verantwortungsverwirrung, da die Zuschreibungen von Handlungen und Folgen kaum mehr nachvollziehbar erscheinen: Wer ist verantwortlich für Aussagen in Social Media? Kann der Eintrag überhaupt einer Person zugeordnet werden und wer ist verantwortlich, wenn die Aussage kopiert wird und auf anderen Seiten im Internet Verbreitung findet? Gerichte versuchen genau diese Verantwortlichkeiten zu klären, allerdings mit Methoden, welche der digitalen Komplexität längst nicht mehr gerecht werden können, wie sich in Medienberichten immer wieder verfolgen lässt (vgl. Wienerin 2019: o.S.).
Die Corona-Krise hat uns möglicherweise die ideale Überraschung beschert, um unsere abduktiven Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Plötzlich kamen unsere Systeme ins Taumeln, plötzlich mussten wir unser soziales Leben ganz kurzfristig in die repräsentative Welt der digitalen Medien verlagern. Was bedeutet das für unsere soziale Zukunft? Beispielsweise war auffällig, wie sehr sich unsere Bewertung des Digitalen im Handumdrehen verändern kann: Plötzlich waren Online-Games gut für die soziale Entwicklung (vgl. Steinmüller-Schwarz 2020), plötzlich war man froh, wenn Videofilme zumindest Heimkino bieten konnten, plötzlich war man müde von den vielen Videokonferenzen und fragte sich, inwiefern diese Art der sozialen Begegnung anders bzw. mehr oder weniger anstrengend ist. Und man begann abzuwägen, ob es sinnvoller ist, an einer neuen Krankheit zu sterben, oder vereinsamt, verängstigt und halb informiert in den eigenen vier Wänden vor sich hinzuvegetieren.
Vielleicht sehen wir uns offen an, was uns begegnet und vertrauen darauf, dass wir abduzieren können, wodurch sich sinnvolle neue Perspektiven ergeben. Die Soziale Arbeit als Profession beschäftigt sich schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit gesellschaftlichen Entwicklungen, die ausschließend wirksam sind, und mit deren schmerzhaften anti-sozialen Konsequenzen. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang an der Zeit zu erkennen, dass die Klientel der professionellen Sozialen Arbeit aus jenen besteht, die von systematischen Strukturen an den Rand gedrängt werden. So gesehen stellt Soziale Arbeit das Auffanggefäß für gesellschaftliche Systemfehler dar. Aber nicht die*der Klient*in ist vorrangig fehlerhaft, sondern die Systeme, die sie zu Klient*innen machen. Anstatt die Verantwortung für ihr Schicksal hauptsächlich und moralisch-ethisch bei den Individuen zu verorten, könnte man ein systemisches Verantwortungskonzept zum Tragen kommen lassen.
Willke (2014: 158) hat bereits Vorschläge dazu gemacht, wie Gesellschaften mit zunehmenden Komplexitäten umgehen können. Er optiert für eine differenzierte Partizipation, welche mit Hilfe von NGOs, Stiftungen, Denkfabriken usw. umgesetzt werden soll. Diese Organisationen sollten die politischen Institutionen und den Staat nicht ablösen, sondern vielmehr in einer transparenten und partizipativen Art und Weise ergänzen (vgl. Willke 2014: 158). Es geht also nicht um das Ende einer wie auch immer gedachten individuellen Verantwortung, sondern vielmehr wendet sich die Aufmerksamkeit den Regelstrukturen und den Aushandlungsprozessen innerhalb dieser Strukturen zu, die Verantwortungsübernahme erst ermöglichen. So könnte die Straffälligkeit, d.h. ein Unvermögen, sich an die Gesetze zu halten, als ein gescheiterter Aushandlungsprozess gewertet werden, der wieder in Gang gebracht werden muss. Dabei ist eine Fokussierung auf Einzelverantwortung oder auf moralisch-ethische Grundwerte kontraproduktiv – vielmehr sollte es darum gehen, die Kontingenzen zu beleuchten, die es verunmöglichten, sich gesetzeskonform zu verhalten bzw. die diese Nonkonformität ans Tageslicht brachten – schließlich brechen wir alle ständig Gesetze, aber wir werden nicht alle ständig dabei erwischt, weil wir mehr oder weniger gekonnt die Kontexte der Übertretungen auswählen.
Natürlich können wir statistische Methoden gebrauchen, um das menschliche Verhalten zu erfassen, und klassisch probabilistisch zu prognostizieren, welche Faktoren darauf hindeuten, dass ein Mensch wieder straffällig werden wird bzw. in welchem Kontext. Oder wir können versuchen, Menschen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit neu zu „programmieren“. Ob eine solche errechnete Wahrscheinlichkeit jemals die Sinnqualität des einzelnen Lebens erfassen kann, bleibt fraglich – aber wäre das nicht der Anspruch der Menschenrechtserklärung, eine Gleichwertigkeit in der Diversität zu sehen? Da Gesetze nicht statisch-eindeutig sind und immer verhandelbar bleiben (sogar was das Töten anlangt), können diese auch kein Maßstab für grundsätzliche Unterscheidung und Bewertung sein. Wir können nur verhandeln miteinander, um uns Möglichkeiten und Freiheit zu gewähren – gegenseitig, d.h. doppelt kontingent.
Vielleicht ist es also an der Zeit, mit den handelnden Personen Beteiligungs- und Gestaltungsoptionen zu entwerfen, um der mit der Technisierung einhergehenden Komplexitätszunahme zu begegnen. Diese müsste mit Systemverantwortung ergänzt werden, welche sich auf die strukturellen Bedingungen von Möglichkeiten zur Verantwortungsübernahme bezieht (vgl. Wilhelms 2017: 517–522).
Um es konkreter auszudrücken, wollen wir an einem Beratungsbeispiel die mögliche Innovation erläutern. Kommt ein sogenannter suchtkranker Mensch in die Beratung, dann steht dieser Mensch bereits unter dem systematischen Druck einer Gesundheitserwartung. Diese Erwartung wird nicht ausverhandelt, sie ist vorgegeben, egal, welchen Lebenssinn der Mensch sich selbst gibt oder geben würde, wäre die Anforderung nicht bereits im Raum. Es ist fraglich, ob Systeme mit einer derartigen Sinndefinition auf Einzelne einwirken sollten. Niemand kann ernsthaft erwarten, ein Leben lang gesund zu sein, bis plötzlich der Tod hereinbricht. Insofern ist die Kategorisierung krank/gesund zu binär und damit zu mächtig. Gerade durch Digitalisierung kann eine solche systematische Selektion unreflektiert zur Wirklichkeit erhoben werden. Kein System sollte allerdings eine derartige Deutungshoheit besitzen und damit ins einzelne Leben hineinregulieren, was nicht regulierbar ist – nämlich individueller Lebenssinn. Üblicherweise verhandeln suchtkranke Klient*innen in der Sozialen Arbeit am Beginn der Beratung einen Auftrag, der zwar individuell auf die einzelne Persönlichkeit fokussiert, aber nicht in Verhandlung mit den gesellschaftlichen Organisations- und Verwaltungssystemen zustande gekommen ist (vgl. Ritscher 2005: 182–187). D.h. das Gesundheitssystem, das Rechtssystem etc. können zwar Sinnzuschreibungen an das Individuum abgeben und einfordern, umgekehrt können die Klient*innen aber individuelle Sinnvorstellungen nicht realisieren, da diese einseitig eingeengt bleiben. Somit bleibt ein Mensch, der sich in einer Gesellschaft nicht süchtig fühlt, aber als süchtig definiert wird, hinsichtlich seiner Partikularinteressen entmachtet und exkommuniziert. Digitale Systeme fördern diese Exkommunikation, indem sie auf willkürlichen Annahmen basierende binäre Codes verwenden und dadurch gleichberechtigte Aushandlungsprozesse verhindern. Unsere gesellschaftlichen Systeme bleiben also autoritär wirksam, solange sie eindeutige Regeln aufstellen und diese systematisch umsetzen. Würde man es Klient*innen ermöglichen, in einen verhandelnden Dialog mit Verwaltungssystemen oder anderen relevanten Umwelten einzutreten und ihre Bedürfnisse mit deren abzustimmen, dann wären weniger eindeutige Diagnosen und damit weniger autoritäre Machtverhältnisse nötig.
5. Ein Blick hinter die Zukunft
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass digitale Systeme definitionsgemäß vorwiegend systematisch operieren. Dadurch wird es notwendig, ihnen Vorannahmen zu liefern, auf deren Basis sie systematisch selegieren können. Die Auswahl dieser Vorannahmen wiederum ist eine Auslassung, denn sie wird vom digitalen System nicht thematisiert. Es kann von sich aus nichts verhandeln – aber es kann ausschließend (effizient) wirksam werden. Dies bedeutet ein Problem für die Soziale Arbeit, welche sich vorwiegend mit jenen beschäftigt, die vom System an den Rand gedrängt werden bzw. ganz vernachlässigt werden. Als Ansatz, um diesem Problem zu begegnen, stellen wir die Frage nach der Verantwortung für die Selektion der Vorannahmen über den Lebenssinn des Menschen. Je systematischer unsere Verwaltungssysteme ihren Basiscode umsetzen (worin digitale Systeme enorm effizient sind), desto weniger Möglichkeit besteht, Verhandlungsprozesse in Gang zu setzen und über die Grundannahmen erneut zu diskutieren. Die Soziale Arbeit ist dazu aufgefordert, ihr drittes Mandat wahrzunehmen und eventuell exkommunizierten Gruppen die Teilnahme an Verhandlungsprozessen zu ermöglichen.
Dennoch, digitale Systeme entwickeln sich bereits weiter. Selbstlernende Systeme beginnen, wirklich kreativ eigene abduktive Hypothesen zu entwickeln. Erkennen wir, dass dieser Abduktionsprozess besonders wichtig ist und insbesondere die Selektion des Phänomens, das fokussiert wird: Wer gibt digitalen Systemen vor, mit welchen Phänomenen sie sich beschäftigen, wofür sie Begründungen suchen? Wer gibt ihnen Sinn und Zielsetzung? Nehmen wir Menschen uns hier nicht systematisch aus dem Rennen, sondern entwickeln wir uns gemeinsam mit unseren Technologien systemisch weiter. Machen wir den Quantensprung ins Ungewisse, mit der Unschärfe der scheinbar komplementären Relationen. Ziehen wir unseren alten Hut und organisieren wir uns neu durch Rückschlüsse aus den Phänomenen und Überraschungen der unmittelbaren Zukunft. Gespannt dürfen wir erwarten, welche neue Kopfbedeckung unsere Welt für uns kreiert.
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Über die Autor_innen
FH-Assistenzprof. Charlotte Sweet MA, MA
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Franz Schiermayr, MSc
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