soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik "Thema" / Standort St. Pölten
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/691/1225.pdf


Roman Brandstätter & Petra Paukowitsch:

Streamwork und die Vernetzung virtueller Sozialer Arbeit


1. Einleitung

Seit den 1990er Jahren ist zu beobachten, dass unser Alltag zunehmend digital wird. Der Begriff der Digitalisierung beschreibt dabei sowohl die Entwicklung neuer Technologien als auch die Transformation vom Analogen ins Digitale (vgl. Houben/Prietl 2018). So sind Computer und Smartphones feste Bestandteile unseres täglichen Lebens geworden und haben Metamorphosen wie jene von Briefen zu E-Mails erst möglich gemacht. Die daraus resultierende Entkoppelung von körperlicher Anwesenheit in alltäglichen Situationen spiegelt sich auch in neuen Formen sozialer Interaktion wider (vgl. Dickel 2019: 223).

Besonders spürbar ist dieser Wandel zu Zeiten der Covid-19-Pandemie mit dem Aufleben von Homeoffice und Video-Konferenzen. Hier wurde deutlich sichtbar, wie sehr die Zweckmäßigkeit des Digitalen unsere menschliche Adaptivität anspricht, sodass digitale Technologien heute kaum wegzudenken sind (vgl. Leistert/Röhle 2011: 7). Dirk Baecker (2007) beschreibt den Computer sogar als Ausgangspunkt maßgeblicher gesellschaftlicher Veränderungen. Er stellt die These auf, dass die Erfindung des Computers ebenso weitreichende Folgen haben wird, wie die Erfindung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Diese Prämisse vertritt auch das österreichische Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort (vgl. BMDW 2018), welches digitale Kompetenz mit Lesen, Schreiben und Rechnen gleichsetzt. Technische Fertigkeiten sowie der kompetente und reflektierte Umgang mit digitalen Medien werden als Schlüsselqualifikationen für die Partizipation an der modernen Gesellschaft bezeichnet (vgl. ebd.). Erkennbar ist dies zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen, die als sogenannte Digital Natives (vgl. Barlow 1996) eine Welt ohne Computer nicht kennen. Für sie ist die Trennung zwischen virtuellen und physischen Räumen nicht mehr relevant, da sich das eine völlig natürlich in das andere integriert und eine untrennbare Synthese entstanden ist (vgl. Kutscher 2018; Brailovskaia/Bierhoff 2018). In einem Aufsatz aus der Sicht der Generation der Digital Natives beschreibt Piotr Czerski (2012) dies bereits vor fast zehn Jahren anschaulich:

„Wir sind mit dem Internet und im Internet aufgewachsen. Darum sind wir anders. […] Wir ‚surfen‘ nicht im Internet und das Internet ist für uns kein ‚Ort‘ und kein ‚virtueller Raum‘. Für uns ist das Internet keine externe Erweiterung unserer Wirklichkeit, sondern ein Teil von ihr: eine unsichtbare, aber jederzeit präsente Schicht, die mit der körperlichen Umwelt verflochten ist. […] Wir sind im Internet aufgewachsen, deshalb denken wir anders.“ (Czerski 2012: o.S.)

Die Sorge, dass Jugendliche aufgrund der Digitalisierung Entwicklungsaufgaben verpassen, ist dabei unbegründet. In Studien wurde nachgewiesen, dass die virtuellen Räume als Erfahrungsräume dienen, die erschlossen und zur Bewältigung von Sozialisationsprozessen genutzt werden (vgl. Sander/Witte 2018: 702; Heite 2018: 68; Alfert 2015: 33; vgl. Wagner/Theunert/Gebel/Schorb 2012: 314). Aus dieser Perspektive lässt sich schlussfolgern, dass das Virtuelle die Erweiterung der Lebenswelten unserer Gesellschaft ist.

In Anbetracht dessen ist es unserer Meinung nach für eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit unabdingbar, ihr Angebot so zu gestalten, dass sie den Lebensumständen der Nutzer*innen gerecht werden kann (vgl. Galuske 2002: 298). Entsprechend lebensweltorientierten Ansätzen sollen Nutzer*innen in ihrem Alltag und ihren (Selbst-)Hilfemöglichkeiten gestärkt werden, die Aufgabe der Sozialen Arbeit ist es hierbei, die aktive Teilhabe am Verbesserungsprozess und einen nachhaltigen Transfer dieser Verbesserungen in den Alltag zu unterstützen (vgl. Füssenhäuser 2006: 127; Möbius 2010: 14). Davon ausgehend muss sich die Soziale Arbeit auch der Digitalisierung stellen, um mit den rasanten Entwicklungen im Leben der (jungen) Nutzer*innen Schritt halten zu können (vgl. Brock 2017; Kutscher/Ley/Seelmeyer 2015). Angesichts neuer Herausforderungen wie zum Beispiel der digitalen Kommunikation oder der digitalen Spaltung (digital divide, d.h. unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten zu digitalen Medien und Diensten) ist es umso wichtiger für die Soziale Arbeit, sich auch weiterhin tiefgehendes Wissen und Handwerkszeug zu digitalen Medien sowie zu ethischen, rechtlichen und methodischen Standards im virtuellen Raum anzueignen. Nur so kann sie auch in Zukunft eine kompetente und qualitätsvolle Arbeit gewährleisten (vgl. Mayrhofer/Neuburg/Schwarzl 2017; NSAW 2017; Seelmeyer/Ley 2018).

In unserer Masterarbeit Streamwork – Die Exploration des Erstkontaktes der virtuellen Sozialen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf sozialen Medien unter Berücksichtigung der Datenschutz-Grundverordnung (Brandstätter/Maier/Paukowitsch/Stuhr 2020) haben wir diese Herausforderungen zum Thema gemacht und uns in vier unterschiedlichen Forschungsprojekten mit der Gestaltung von virtueller Sozialer Arbeit für Jugendliche und junge Erwachsene auf sozialen Medien auseinandergesetzt. Die Ergebnisse der Projekte werden in diesem Artikel vorgestellt: (1) die Bedeutung und Umsetzung des Datenschutzes in der Sozialen Arbeit, (2) eine Auseinandersetzung mit algorithmischer Kontaktaufnahme auf Facebook, (3) eine Analyse der Beratung durch Lai*innen auf Tumblr und (4) Erfahrungen aus dem Online-Streetwork-Projekt „Jamal al-Khatib“. Dabei hat sich gezeigt, dass es bereits viele Projekte und Studien zur virtuellen Sozialen Arbeit gibt. Allerdings entstand der Eindruck, dass diese häufig unabhängig und losgelöst voneinander entwickelt bzw. geführt werden. Die Vernetzung und Bündelung der Erkenntnisse hätte allerdings großes Potenzial für die Zukunft der Profession und der Disziplin, denn nur so können Projekte in der Praxis voneinander lernen und die Wissenschaft kann sich weiterentwickeln.

Im Folgenden wird in einem ersten Schritt der Begriff Streamwork eingeführt und näher beleuchtet. Im zweiten Schritt werden die Ergebnisse der Masterarbeit vorgestellt. Abschließend werden im dritten Schritt der Zusammenhang zwischen Forschung und Streamwork hergestellt und die möglichen Ableitungen für die Soziale Arbeit diskutiert.


2. Die Entwicklung des Begriffs Streamwork

Als eines von drei Teilprojekten zum Thema „Soziale Arbeit 4.0 in digitalen Lebenswelten“ wurde die Untersuchung im Zeitraum von November 2018 bis Mai 2020 unter der Projektleitung von Florian Zahorka und Marina Tomic-Hensel durchgeführt. Zu Beginn der Forschung wurde der Neologismus Streamwork kreiert. „Stream“ leitet sich vom englischen Wort für Datenstrom ab, „work“ wurde von social work abgeleitet. Mit ihm wurde zu anfangs lediglich die digitale und proaktive, also virtuell-aufsuchende Soziale Arbeit auf Plattformen der sozialen Medien wie Facebook, Instagram und ähnlichen beschrieben. Diese Plattformen werden im Folgenden als Social Network Sites (SNS) bezeichnet.

Ausgehend von dieser Festlegung wurde zunächst das Forschungsfeld eingegrenzt: Die anfängliche Definition des Begriffs Streamwork stellte die Basis für eine Untersuchung der verschiedenen Möglichkeiten des Erstkontaktes zur Zielgruppe im Internet dar. Erstkontakt wurde dabei auf dreifache Weise definiert: (1) als Präsenz von Hilfsorganisationen und helfenden Akteur*innen auf sozialen Medien, (2) als mögliche Formen der Kontaktaufnahme und (3) als konkrete Erstinterventionen und Hilfsangebote. Im Prozess zeichnete sich jedoch ab, dass der Begriff Streamwork modifiziert bzw. erweitert werden muss. Streamwork kann sehr viel umfangreicher gedacht werden: als ein Überbegriff, das Dach, unter dem jegliche Form der virtuellen Sozialen Arbeit – ob aufsuchend oder nicht – zusammengefasst und beschrieben werden kann. Diese Vernetzung aller Formen digitalen Handelns hat das Potenzial, den Austausch in der Praxis und der Forschung voranzutreiben und Entwicklungen zu fördern. Erst durch diese Vernetzung kann es möglich werden, die virtuelle Soziale Arbeit in die Reihe der klassischen Methoden der Sozialen Arbeit, also die Einzelfallhilfe/case work, soziale Gruppenarbeit, Familienarbeit, soziale Gemeinwesenarbeit und Sozialplanung (vgl. OBDS 2004: 2), aufzunehmen. Angelehnt an Baecker (2007) ermöglicht Streamwork einen wichtigen Schritt auf einer übergeordneten Ebene, damit die Soziale Arbeit auch weiterhin mit den rasanten, gesellschaftlichen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung Schritt halten kann.


3. Die Datenschutz-Grundverordnung in Hilfsorganisationen

Die Auseinandersetzung mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist unabdingbar für Sozialarbeiter*innen, um eigene Unsicherheiten in der beruflichen Praxis zu minimieren und Nutzer*innen ihre Rechte bezüglich ihrer Daten verständlich machen zu können. Darüber hinaus muss die Einwilligung der Nutzer*innen für die Verarbeitung ihrer Daten eingeholt werden. Dies kann aufgrund sprachlicher Barrieren und spärlicher zeitlicher Ressourcen von Sozialarbeiter*innen eine Hürde sein und Einfluss auf die Qualität des Datenschutzes haben. Der Fokus der nachfolgenden Darstellung liegt entsprechend auf der Wahrnehmung potentieller Konsequenzen, welche die DSGVO auf die Arbeit mit Nutzer*innen hat und ist in drei Teile gegliedert: (1) Die Anwendung von zwei DSGVO-Grundsätzen in der Sozialen Arbeit, nämlich die Datenminimierung und Transparenz, (2) organisationsinterne Prozesse, die mit der neuen Gesetzeslage zur DSGVO verbunden sind und (3) die Bedeutung für die virtuelle Soziale Arbeit. Die Überlegungen sind dabei von der Frage geleitet, welche Faktoren bei der Gestaltung einer datensicheren und digital präsenten Sozialen Arbeit beachtet werden müssen.

Orientiert an der Methode des problemzentrierten Interviews (vgl. Flick 2016: 210–214) wurden vier leitfadengestützte Interviews mit Professionist*innen aus drei unterschiedlichen Settings der Sozialen Arbeit durchgeführt: (1) physisch nicht-aufsuchend in einem Jugendzentrum und einer WG, (2) virtuell nicht-aufsuchend in einer Online-Erstberatungsstelle und (3) physisch aufsuchend in einer Streetwork-Einrichtung. Die Interviews wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet. Zusätzlich wurden Daten aus dem Forschungsprojekt zur algorithmischen Kontaktaufnahme auf Facebook verwendet, um auch die Meinungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum Thema DSGVO abzubilden. Der Grundsatz der Datenminimierung der DSGVO besagt, dass von einer Person nur so viele Daten wie nötig und so wenig wie möglich verarbeitet werden. Dieser greift vor allem im virtuellen Setting und in niederschwelligen Angeboten der Sozialen Arbeit. Hierbei sollen die Daten jeweils einzeln betrachtet werden, um zu entscheiden, ob sie schlussendlich auch gespeichert werden müssen. Dafür gilt es immer, die Frage zu stellen, ob Organisationen dieselbe Arbeit mit einem reduzierteren Ausmaß an personenbezogenen Daten leisten können. Anhand der Interviews wird deutlich, dass sich zwei der untersuchten Organisationen in einem Spannungsfeld befinden: Einige Handlungen der Sozialarbeiter*innen werden nicht allen Anforderungen der DSGVO gerecht, lassen sich allerdings durch professionsbedingte Überlegungen rechtfertigen. Ein Beispiel ist die Aufrechterhaltung der Beziehung zu den Nutzer*innen, die durch strikte Durchsetzung der DSGVO, beispielsweise durch die schriftliche Einwilligung der Nutzer*innen, erschwert wird.

Der Grundsatz der Transparenz besagt, dass Informationen in leichter und verständlicher Sprache zugänglich sein sollen, damit Nutzer*innen die Bedeutung der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verstehen und dieser informiert zustimmen können. Im Kontext einer niederschwelligen Einrichtung würde eine schriftliche Einwilligung zwar die rechtlich sicherste Variante darstellen, allerdings das Erreichen der Zielgruppe verkomplizieren. Deswegen wird in den beforschten Institutionen eine mündliche Einverständniserklärung bevorzugt, welche im Sinne der DSGVO gültig ist. Auch hier ist ein Spannungsverhältnis zwischen rechtlicher Absicherung und Erreichung einer Zielgruppe im niederschwelligen Setting zu beobachten.

Anhand der geführten Interviews konnten drei Hypothesen bezüglich organisationsinterner Prozesse in Einrichtungen der Sozialen Arbeit abgeleitet werden: (1) Die praktische Umsetzung eines hoch komplexen Themas wie der DSGVO ist ein Stressfaktor, der Unsicherheit bei Mitarbeiter*innen auslöst. (2) Sobald der komplexe Inhalt für die Mitarbeiter*innen in vereinfachter Form übersetzt wird, entwickeln sich standardisierte Arbeitsabläufe. (3) Die neu erworbene Vertrautheit mit den Inhalten sowie die routinierten Handlungen bestärken sich gegenseitig, wodurch ein Austausch innerhalb des Teams im Sinne einer Optimierung der Abläufe angeregt wird. Auf organisationaler Ebene ist es eine Herausforderung, darüber Klarheit innerhalb des Teams zu schaffen, wie die DSGVO angewendet wird. Eine effektive Methode, um diese Hürde zu überwinden, kann die Beauftragung einer*s Mitarbeiter*in sein, welche*r für die Umsetzung zuständig ist und für Rückfragen zur Verfügung steht. Um der auf einer übergeordneten Ebene beobachteten Inkongruenz in den Methoden der virtuellen Sozialen Arbeit entgegenzuwirken, ist es sinnvoll, sich auf einheitliche Richtlinien zu verständigen. So können Unsicherheiten und rechtliche Risiken minimiert werden.

Bezogen auf die virtuelle Soziale Arbeit zeigen die Ergebnisse, dass die Auseinandersetzung mit der DSGVO unumgänglich und auch bei der Online-Beratung zu beachten ist. Es wurde ein deutliches Spannungsfeld zwischen Niederschwelligkeit und Datensicherheit sichtbar, welches Organisationen dazu bringt in rechtlichen Grauzonen zu agieren. Die Auswirkungen virtueller Sozialer Arbeit auf SNS (z.B. Datenverarbeitung und -speicherung der SNS) und die Rechte der Nutzer*innen, bezogen auf die Nutzung der eigenen Daten im virtuellen Raum, müssen transparent kommuniziert werden. Dahingehend lässt sich festhalten, dass die Texte zur Einwilligung der Verarbeitung personenbezogener Daten im Allgemeinen sehr komplex und schwer verständlich sind. Folgende Ideen können für eine virtuelle Einwilligung aus der Forschung abgeleitet werden: (1) Informationen in kurzen Sätzen erklären und Fremdwörter umschreiben, (2) visuelle und akustische Angebote bereitstellen und (3) ein kurzes Video abspielen, um Aufmerksamkeit und Interesse bei den Nutzer*innen herzustellen.

Das Thema der Erreichbarkeit der Nutzer*innen wurde auch bei einem weiteren Forschungsschwerpunkt behandelt. Ausgehend von algorithmischer Kontaktaufnahme auf Facebook, lag der Fokus hier auf der Präsenz von Hilfsorganisationen auf SNS sowie auf der Einstellung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu virtuellen Formen der Kontaktaufnahme der Sozialen Arbeit.


4. Hilfsorganisationen und die Verwendung von Algorithmen auf Facebook

Zu Beginn der Forschung stellte sich die Frage nach einem handhabbaren Modus zum Erreichen von Nutzer*innen auf sozialen Medien. Amerikanische Suizidpräventionsorganisationen wandten sich beispielsweise zur Erreichung von Personen mit Selbstmordintentionen direkt an Facebook, als dem größten sozialen Netzwerk der Welt (vgl. Gomes de Andrade/Pawson/Muriello/Donahu/Guadagno 2018: 674). Es entstand eine Kooperation, die eine mehrjähriger Forschung umfasste. Schlussendlich wurde ein selbstlernender Algorithmus zur Erkennung einer Selbstmordgefährdung von Facebook-User*innen entwickelt, der in Europa aufgrund der DSGVO nicht zulässig ist. Der Algorithmus analysiert User*innen-Postings und Kommentare, bewertet diese nach Gefahrenpotenzial und leitet sie an Facebooks ausgebildetes Personal weiter (vgl. Facebook 2011). Wird auf der Grundlage dessen bei User*innen eine Suizidgefährdung festgestellt, taucht ein Pop-Up mit Hilfsangeboten auf dem Bildschirm auf:

Abbildung 1
Abbildung 1: Das deutschsprachige Pop-Up zur Suizidprävention (Facebook o.J.).


Das Pop-Up war der Ausgangspunkt einer Untersuchung dazu, wie Jugendliche und junge Erwachsene über verschiedene Formen der Kontaktaufnahme durch Hilfsorganisationen auf Social Network Sites denken. Dabei wurde die Sichtweise der Sozialen Arbeit und jene der Jugendlichen und jungen Erwachsenen erhoben. Insgesamt wurden sechs Personen zwischen 14 und 25 Jahren aufgefordert, sich anhand der Think-Aloud-Methode mit einem fiktiven Facebook-Profil auseinanderzusetzen.1 Nach fünf Minuten erschien unangekündigt das Facebook-Pop-Up (Abb. 1), anschließend folgte ein semistrukturiertes Interview. Die Daten wurden transkribiert und mit Hilfe des offenen Kodierens der Grounded Theory nach Glaser und Strauss ausgewertet.

Die Ergebnisse zeigen, dass für die Befragten die Präsenz von Hilfsorganisationen auf SNS etwas völlig normales ist und eine fehlende Online-Präsenz die Hilfsorganisation für sie unattraktiver macht. Die Kompetenz der SNS sehen sie in der Bereitstellung der Infrastruktur, die eigentliche Hilfsstellung soll von einer Hilfsorganisation angeboten werden. Wichtig ist für die Befragten, dass sie aus mehreren Hilfsangeboten wählen können und dass die Unterstützung möglichst niederschwellig und auch für das virtuelle soziale Umfeld von betroffenen User*innen zugänglich ist.

Als mögliche Formen der Online-Präsenz von Hilfsorganisationen nennen die Befragten Seiten auf SNS und Homepages. Die Kontaktaufnahme könnte aus ihrer Sicht mithilfe von Algorithmen, Werbung, Privatnachrichten und einem Hilfebutton, der in das Layout der SNS eingebettet ist und per Mausklick direkt zu Berater*innen führt, stattfinden. Der Hilfebutton war eine Idee der Befragten. Er existiert auf den beforschten SNS noch nicht, könnte aber aus der Perspektive der Sozialen Arbeit einige Vorteile bringen: Das Angebot wäre sehr niederschwellig zugänglich und in die Lebenswelt der Zielgruppe eingebettet, es stünde damit allen User*innen offen und wäre nicht wie beim Algorithmus an Kontrolle gekoppelt. Es bestünde auch die Möglichkeit, die User*innen für die tatsächliche Beratung auf einen Dienst mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung umzuleiten. Als Nachteile sind festzuhalten, dass der Hilfebutton lediglich ein defensives, das bedeutet ein nicht-aufsuchendes Angebot darstellen würde. Außerdem würde durch die Kooperation mit SNS eine Abhängigkeit für Hilfsorganisationen im Erstellen und Warten des Buttons entstehen. Neben diesen virtuellen Angeboten wünschen sich die Befragten jedoch auch weiterhin Möglichkeiten der Offline-Präsenz der Sozialen Arbeit zum Beispiel in Form von Schulvorträgen oder Schulsozialarbeit .

Anhand der Auseinandersetzung der Befragten mit dem Pop-Up konnten zehn verschiedene Einflussfaktoren abgeleitet werden, welche die Einstellung der User*innen zu einem virtuellen Hilfsangebot beeinflussen. Die Einstellung einer Person führt indirekt zum tatsächlichen Verhalten (vgl. Universität Innsbruck o.J.), welches in diesem Fall entweder die Annahme oder das Ablehnen des Hilfsangebots ist. Dieses Wissen kann die Soziale Arbeit bei der Gestaltung von Hilfsangeboten auf SNS nutzen. Folgende Einflussfaktoren, die sich auf SNS und das Hilfsangebot beziehen, konnten festgestellt werden:

Die fünf anderen Einflussfaktoren beziehen sich auf die User*innen:

Für die virtuelle Soziale Arbeit und Streamwork lassen sich abschließend mehrere Kernaussagen treffen. Um in den digitalen Lebenswelten professionell Fuß fassen zu können, brauchen Sozialarbeiter*innen digitale Kompetenz. Dazu gehört u.a. Wissen zur DSGVO, algorithmischer Selektion und zu übergeordneten Themen wie der digitalen Spaltung (digital divide). Sie müssen mit dem raschen Wandel der virtuellen Lebenswelt Schritt halten können. Des Weiteren ist festzuhalten, dass ein selbstlernender Algorithmus wie jener von Facebook aufgrund des intransparenten Eingriffs in die Profile der User*innen keine Option zum Erreichen der Nutzer*innen durch die Soziale Arbeit darstellt. Das Recht auf Privatsphäre ist sowohl in den Menschenrechten (Artikel 12) als auch in der DSGVO gesichert. Gleichzeitig zeigte sich, dass die Befragten sich die Präsenz von Hilfsorganisationen auf sozialen Medien wünschen. Sie liefern dafür auch Vorschläge für die konkrete Umsetzung, wie beispielsweise den Hilfebutton.

Eine andere Form der Kontaktaufnahme wurde auf der SNS Tumblr von User*innen für User*innen entwickelt. Im nächsten Forschungsschwerpunkt wurde der Zusammenschluss von Lai*innen untersucht, die freiwillig Beratung anbieten, und daraus wurden relevante Aussagen für die Soziale Arbeit abgeleitet.


5. Lai*innenberatung auf Social Network Sites

Ausgangspunkt der Forschung waren Berichterstattungen zu Fällen von Selbstmord von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ihren Suizid auf den SNS Facebook und Tumblr angekündigt hatten (vgl. Dewey 2015). In Zusammenhang damit wurde über Blogs von Laienberater*innen berichtet, die auf der Plattform Tumblr Beratung anbieten. Obwohl dieses Feld im Wesentlichen vom Thema Suizid geprägt ist, stellt dieses nicht den Hauptfokus des Forschungsprojektes dar. Vielmehr geht es um die Untersuchung des spezifischen Lai*innen-Beratungsblogs auf Tumblr. Dabei steht die Frage im Zentrum, wie Lai*innenberatungen auf Social Network Sites am Beispiel Tumblr gestaltet sind und wie dies für die Soziale Arbeit nutzbar gemacht werden kann.

Die Bearbeitung dieser Frage ist für die Soziale Arbeit wichtig, um Klient*innen in ihrer Lebenswelt begegnen zu können. Die dahinterliegende Annahme ist, dass es Personen gibt, die virtuelle Formen der Kommunikation gegenüber physischen bevorzugen. In diesem Zusammenhang fand eine vertiefende Auseinandersetzung mit Literatur zu textbasierter Kommunikation statt, die zu einer Abgrenzung der Begriffe Ehrenamtliche, Peers und Lai*innen führte. Anschließend wurde der Blog TSWatch (vgl. Tumblr Suicide Watch o.J.) mithilfe einer Artefaktanalyse nach Lueger und Froschauer (2018) untersucht, um die Struktur, den Aufbau und die Art der Kommunikation auf dieser Plattform zu analysieren. Einzelne relevante Stellen wurden zusätzlich einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) unterzogen. Dabei wurde nicht die Qualität der Beratung der Lai*innen bewertet, sondern untersucht, ob textbasierte Beratung überhaupt auf einer SNS wie Tumblr möglich ist. Aus den Erkenntnissen wurden schlussendlich Interventionsmöglichkeiten für die Soziale Arbeit auf vergleichbaren Plattformen abgeleitet.

Tumblr ist eine SNS, die es User*innen nach einer kostenlosen Registrierung ermöglicht, in Form von eigenen Blogs Beiträge wie Texte, Bilder, Videos, Musik und vieles mehr (sogenannten user-generated content) zu veröffentlichen. Jeder veröffentlichte Inhalt wird Post genannt und kann von anderen User*innen kommentiert oder geliked werden. Interessant bei TSWatch sind die sogenannten Messages (Nachrichten bzw. Fragen an einen Blog), welche auch anonym gesendet werden können. TSWatch kann als Empfänger auf eine Frage antworten und diesen Schriftverkehr als Post auf dem Blog veröffentlichen. So findet individuelle Beratung statt, von der auch andere mitlesende User*innen profitieren können.

Die Fragen der User*innen, die im Rahmen der Forschung analysiert wurden, können in fünf Hauptkategorien mit 17 Themen gegliedert werden. Aus 81 untersuchten Posts wurden folgende Themen herausgefiltert: Allgemeines (13 Mal), Alltagsbewältigung (60 Mal), Beziehung (28 Mal), Fremd-De-Konstruktion (zehn Mal) und Selbst-De-Konstruktion (43 Mal). Dabei kam es zu Überschneidungen, wenn Posts mehrere Hauptkategorien und Themen beinhalteten. Die Kenntnis über die vorhandenen Themen ermöglicht es, diese mit den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit abzugleichen, um zukünftige Interventionen themenspezifisch abzustimmen.

Die Antworten der Laienberater*innen auf die Fragen ähneln in ihrer Kommunikationsart jener der E-Mail-Kommunikation und wurden deshalb mithilfe des Vier-Folien-Modells von Knatz (2009: 105ff.) deduktiv ausgewertet, das sich in elf Schritten – von der Formulierung von Beziehungsangeboten bis hin zur Beratung – mit Geschriebenem auseinandersetzt. Die mit Abstand häufigste Art der Begegnung durch TSWatch ist die Wertschätzung und Anerkennung der User*innen in ihrer Lebenslage. Häufig werden auch Lösungsvorschläge gemacht und diese begründet. Daran wird sichtbar, dass in textbasierter, anonymer Kommunikation schnell Lösungen vorgeschlagen werden. Das Vorschlagen von Lösungen geschieht auch im professionellen Setting schneller, sobald die textbasierte Beratung zur Anwendung kommt. (vgl. van de Luitgaarden/van der Tier 2016: 315).

Aktuell finden sich die meisten Angebote virtueller Sozialer Arbeit auf den Homepages der Organisationen Sozialer Arbeit, die über E-Mail oder Chat-Beratung mit den Nutzer*innen agieren. Möchte die Soziale Arbeit auf SNS wie Tumblr tätig werden, um Nutzer*innen in ihrer Lebenswelt zu begegnen, eröffnen sich wichtige Fragen zu den neuen Rahmenbedingungen. Diese beinhalten nicht nur Datensicherheit, sondern auch die gesamte Förderlogik und den damit verbundenen Auftrag der Sozialen Arbeit im Tripelmandat. Auf einer SNS ist es unmöglich, eine klare Trennung der Zielgruppen vorzunehmen. Geldgeber*innen haben jedoch ein Interesse daran, gezielt jene Angebote zu finanzieren, welche sich schlussendlich positiv auf das Wirtschafts- und Gesundheitssystem der Geldgeber*innen auswirken. Auch wenn hier davon ausgegangen wird, dass die Soziale Arbeit grundsätzlich keinen Auftrag der Gesellschaft braucht (vgl. Schmid 2005: 12), so leben auch Sozialarbeiter*innen in Funktionssystemen und streben einen gesicherten Zugang zum Wirtschaftssystem in Form einer entlohnten Arbeit an und sind deshalb von Geldgeber*innen abhängig.

Eine Möglichkeit, diese Förderlogik zu umgehen, wäre die Professionalisierung der Laienberater*innen. Statt vom Oxymoron der „professionellen Laienberater*innen“, wird folgend von helfenden Akteur*innen gesprochen. Es existieren bereits Projekte für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderung, bei denen (ehemals) betroffene Personen als Berater*innen tätig sind. Ein Beispiel wäre die EX-IN-Ausbildung in der Zusammenarbeit der Caritas (vgl. Denk/Weibold 2015). Ein ähnliches Projekt mit textbasierter Beratung für Interessent*innen wäre denkbar und könnte Personen eine weitere Möglichkeit bieten, sich zu engagieren. Natürlich gilt es noch zu überprüfen, in welchem rechtlichen Rahmen diese Tätigkeit stattfindet und wie die Kosten für die weitere Begleitung zu kalkulieren sind.

Ein solches Vorhaben könnte suggerieren, dass jede Person in der Lage ist, professionelle Beratung anzubieten. Eine Professionalisierung von Lai*innen bedeutet allerdings keine Deprofessionalisierung der Sozialen Arbeit, sondern die Stärkung von Individuen, selbsthelfend tätig zu sein. Die Soziale Arbeit hat das Werkzeug, um einerseits Beratungen durchzuführen, andererseits auch um einen ganzeinheitlichen Blick auf den virtuellen Lebensraum zu werfen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Soziale Arbeit eine Monopolstellung in der Beratungstätigkeit hat. Denn auch andere Professionist*innen und helfende Akteur*innen können durch das Wissen über die SNS als Lebenswelt der User*innen neue Ansätze entwickeln. Für die Soziale Arbeit bedeutet dies, dass sie sich in den Sozialwissenschaften stärker positionieren kann, beispielsweise wenn sie durch Weiterentwicklung textbasierter Kommunikation eine Vorreiterinnenrolle übernimmt. Soziale Arbeit ist in der Lage, die Vernetzung mit Kooperationspartner*innen zu fördern, die Professionalisierung von Lai*innen zu entwickeln und die Weitergabe von Know-how bezüglich textbasierter Kommunikation an andere Bezugswissenschaften zu ermöglichen. Insbesondere mit der Weitergabe von gewonnenem Wissen kann die Soziale Arbeit einmal mehr die Eigenständigkeit der Profession unter Beweis stellen.

Ein österreichisches Projekt der Sozialen Arbeit nutzt bereits die SNS Instagram, um mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Kontakt zu treten und sie für die Gefahren jihadistischer Propaganda zu sensibilisieren. Im nächsten Forschungsschwerpunkt werden die Erfahrungswerte des Projektes „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“ präsentiert und Potenziale für die virtuell-aufsuchende Soziale Arbeit abgeleitet.


6. Erfahrungswerte aus der Praxis: „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“

Im Rahmen der Masterarbeit entstand eine Kooperation mit dem Online-Streetwork-Projekt „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“. Das Projekt ist der virtuell-aufsuchenden Sozialen Arbeit zuzuordnen. Ziel ist es, jihadistischer Propaganda auf SNS entgegenzuwirken und durch die Anregung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema einen Beitrag zur Prävention hinsichtlich Rekrutierungen für den Jihad zu leisten. Die Interventionen auf SNS im Rahmen des untersuchten Projekts können auch für weitere Projekte angepasst, adaptiert und somit auf die jeweiligen Zielgruppen abgestimmt werden.

In der konkreten Untersuchung wurde danach gefragt, welche der konzeptualisierten Interventionen beim Projekt „Jamal al-Khatib – Mein Weg!“ auf Instagram zur Anwendung kamen und wie der Kontakt zu den User*innen zustande kam. Dem lag die Frage zugrunde, wie die Soziale Arbeit die Erkenntnisse aus den Gesprächsverläufen und die Erfahrung der Online-Streetworker*innen hinsichtlich der Interventionen nutzbar machen kann. Für die Erhebung der Daten wurde eine Gruppendiskussion zu den Erfahrungen der Online-Streetworker*innen des Projekts gewählt. Zudem wurden die Online-Interaktionen zwischen den Online-Streetworker*innen und User*innen in den Kommentarspalten und den direct messages auf dem Instagram-Account @jamalalkhatib_meinweg, der 596 Follower (User*innen) hat, im Zeitraum vom 16. Mai bis 18. Juli 2019 im Rahmen einer Dokumentenanalyse untersucht. Die Daten wurden durch induktiv-deduktives Kodieren nach Mayring (2016) ausgewertet. Für die Ergebnisse lassen sich drei Kategorien der Kontaktaufnahme nach Gillich (2006) unterscheiden:

Kategorien der Kontaktaufnahme
Code Erklärung Beispiel
Defensiv Kontaktaufnahme durch User*in Kommentarspalten, direct messenger
Indirekt Markierung durch Freund*in Teilen von Stories oder Content des Jamal-Accounts im eigenen Feed
Offensiv direkte Ansprache durch das Team Jamal Kommentarspalten, direct messenger

Tabelle 1: Kategorien der Kontaktaufnahme.


Als Vorarbeit wurden elf Interventionsansätze, wie z.B. der Anerkennungs-,2 Peer-to-Peer-3 und provokative Ansatz4 oder das Reframing,5 die in der Kommunikation zur Anwendung kamen, von Jamal al-Khatib ausgearbeitet. Folgend werden lediglich die vier genannten Ansätze vorgestellt, da diese am häufigsten oder gar nicht vorkamen.

Anhand der Dokumentenanalyse wurden 87 Prozent defensive Kontaktaufnahmen in den Kommentarspalten identifiziert. Indirekte und offensive Formen sind mit sechs und sieben Prozent vertreten. Hinsichtlich der Interventionen wurde das Reframing am häufigsten verwendet, welches ideologische Elemente nicht entwertet, sondern in einen anderen Betrachtungsrahmen setzt. Im Gegensatz hierzu wurde der provokative Ansatz kein einziges Mal in den Kommentarspalten angewandt, was mit der öffentlichen Einsehbarkeit der Kommentare zusammenhängen könnte. In den direct messages fanden 65 defensive und 16 offensive Kontaktaufnahmen statt. Lediglich drei User*innen konnten durch eine indirekte Kontaktaufnahme in direct messages erreicht werden, wobei der Anerkennungsansatz neben dem Reframing am häufigsten eingesetzt wurde. Der Peer-to-Peer-Ansatz kam nicht zum Einsatz, da auf die direct messages nur professionelle Online-Streetworker*innen und keine Peers Zugriff haben.

Die überwiegende Anzahl von defensiven Kontaktaufnahmen lässt sich mit dem content-based Ansatz des Online-Streetwork-Projektes erklären. Der Ansatz wurde in dem Wissen gewählt, dass die Zielgruppe nicht ausschließlich aus Followern bestehen würde, sondern auch aus Personen, welche dem Account von „Jamal al-Khatib“ nicht folgen (silent user), ihn aber sehen und potenziell den Textverlauf in Kommentarspalten mitlesen.

Im Gegensatz zum klassischen Streetwork der Sozialen Arbeit können die User*innen auf Instagram nicht entscheiden, mit welchen Online-Streetworker*innen sie in Kontakt treten möchten. Es wird zwar namentlich gekennzeichnet, wer gerade auf einen Beitrag antwortet, allerdings haben User*innen keine Möglichkeit, sich ein Bild vom Gegenüber zu machen. Aufgrund der wechselnden Dienste der Mitarbeiter*innen treten mehrere Online-Streetworker*innen mit einem*r User*in zu einem Thema in Kontakt. Dies ist insofern problematisch, als User*innen keine eindeutig zugewiesene Ansprechperson haben. Als Lösungen hierfür wurde über die Möglichkeit einer gleichbleibenden Identität auch bei einem Schichtwechsel oder über eine Fallführung wie im physischen Setting gesprochen. Bezogen auf die Interventionsmöglichkeiten fühlten sich die Online-Streetworker*innen im virtuellen Setting aufgrund fehlender Informationen über die Mimik und Gestik des Gegenübers eingeschränkt. Gleichzeitig wurde die digitale Anonymität als hilfreich empfunden, da auch schambesetzte Themen von User*innen offener angesprochen wurden. Des Weiteren haben die User*innen in dieser Form der Kommunikation die Möglichkeit, vorübergehend aus dem Gespräch auszusteigen, etwas nachzuschlagen und mit dem neugewonnenen Wissen wieder in das Gespräch einzusteigen und werden damit bestärkt.

Aus der Datenanalyse lässt sich ableiten, dass der Anerkennungsansatz und der empathische Ansatz im One-to-One-Setting geeigneter für einen Beziehungsaufbau ist als im One-to-Many-Setting. Außerdem legen die Ergebnisse nahe, dass sich die Unterteilung der Kontaktaufnahme in defensive, offensive und indirekte Formen in ein virtuelles Setting der Sozialen Arbeit übertragen lassen und auch Interventionsansätze des physischen Streetworks im virtuellen Raum anwendbar sind. Es lässt sich festhalten, dass es für zukünftige Projekte der virtuellen Sozialen Arbeit sinnvoll ist, das Nutzungsverhalten der Zielgruppe auf SNS vor dem Start des Projektes zu analysieren. Damit kann sichergestellt werden, dass die gewünschte Zielgruppe tatsächlich präsent und somit auf der jeweiligen SNS potenziell erreichbar ist. Ebenso sollten Regelungen wie beispielsweise die Geschäftsbedingungen der SNS sowie potenzielle Änderungen der SNS-Algorithmen beobachtet und in die eigene Projektplanung integriert werden. So kann sichergestellt werden, dass rechtliche und technische Veränderungen der SNS bemerkt und für das Projekt z.B. in Form von neuen Features adaptiert werden können. Darüber hinaus benötigen die Projektmitglieder eine Einschulung, um sich mit der gewählten SNS vertraut zu machen.


7. Fazit: Streamwork als Überbegriff

So unterschiedlich die Zugänge und Themen sind, die hier vorgestellt wurden, so verweisen sie allesamt auf die Möglichkeiten und Grenzen der virtuellen Sozialen Arbeit. Dabei hat der Begriff Streamwork das Potenzial, diese unterschiedlichen Aspekte zu bündeln. Die vier Forschungsprojekte können als Beiträge zum Thema Streamwork angesehen werden. Aus den Erkenntnissen geht deutlich hervor, dass sich eine lebensweltorientierte Soziale Arbeit verstärkt mit Methoden, Konzepten und rechtlichen Rahmenbedingungen der virtuellen Welt beschäftigen muss. Diese Vernetzung solcher Beiträge unter dem Überbegriff des Streamwork ermöglicht es der virtuellen Sozialen Arbeit, in die klassischen Methoden aufgenommen zu werden. Darüber hinaus könnte Streamwork sich durchaus auch als disziplinenübergreifendes Konzept dazu eignen, das Wissen anderer Disziplinen und Professionen mit dem der Sozialen Arbeit zu verbinden. Dadurch wäre ein Begriff geschaffen, der einerseits die Kommunikation vereinfacht und den Weg zur Anerkennung des virtuellen Raums als Lebenswelt der Nutzer*innen ebnet und andererseits vielfältige Ideen, mannigfaltige Methoden und innovative Interventionsmöglichkeiten zugunsten der Nutzer*innen zusammenbringt.

Streamwork stellt keinesfalls einen Ersatz für die physische Soziale Arbeit dar. Diese Methode kann der Zielgruppe allerdings eine wichtige, lebensweltübergreifende Unterstützung ermöglichen. Soziale Arbeit hat als Menschenrechtsprofession und als Motor für Inklusion die Aufgabe, den sozialen Wandel mitzugestalten. Dabei muss das Internet als öffentlich einsehbarer Raum anerkannt werden, welchen sich die Soziale Arbeit erschließen sollte. Insofern möchten wir unseren Beitrag mit einem Denkanstoß für Praktiker*innen und Forscher*innen, angelehnt an das eingangs vorgestellte Zitat von Piotr Czerski (2012), beschließen: Wir leben womöglich bald in einer Welt, in der Personen nicht mit dem Internet groß werden, sondern im Internet.


Verweise
1 Das Profil gehörte einer geschlechtsneutralen Person namens Niki Lo, die von einem Leben mit Alkohol- und Drogenkonsum sowie Schwierigkeiten mit dem Familiensystem erzählt – Themen, die im Leben vieler Jugendlicher und junger Erwachsener alltäglich sind.
2 Jugendliche werden mit ihren Erfahrungen und Erlebnissen als Subjekte ihrer Lebenswelt anerkannt. Sie verfügen über entsprechende Fähigkeiten und Ressourcen, sich von extremistischen Einstellungen zu distanzieren und alternative Positionen zu entwickeln.
3 Ein pseudonymisierter Account steht den Peers zur Verfügung, um mit der Zielgruppe in Kontakt zu treten, die Peers sind mit den Ansätzen vertraut und versuchen diese anzuwenden.
4 Indem die Haltung/Handlung der Jugendlichen (liebevoll) überzeichnet wird, gehen Jugendliche dagegen selbst in Widerstand.
5 Ideologische Elemente werden nicht entwertet, sondern in einen anderen Betrachtungsrahmen gesetzt, um Neubewertungen und inklusive Bedeutungsverschiebungen zu ermöglichen. Ideologische Elemente werden durch alternative Narrative reframed.


Literatur

Alfert, Nicole (2015): Facebook in der Sozialen Arbeit. Aktuelle Herausforderungen und Unterstützungsbedarfe für eine professionelle Nutzung. Wiesbaden: Springer VS.

Baecker, Dirk (2007): Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Über die Autor_innen


Roman Brandstätter, BA
roman.brandstaetter@outlook.com

Zurzeit in der Suchtberatung Caritas als Sozialarbeiter tätig. Abschluss des Bachelorstudiums der Sozialen Arbeit 2017 an der FH St. Pölten. Angestrebter Abschluss des Masterstudiums der Sozialen Arbeit im Juni 2021 an der FH St. Pölten. Schwerpunkte: Gender, Sexualität und Digitalisierung.


Petra Paukowitsch, BSc MA
petra.paukowitsch@gmx.at

Mehrjährige Tätigkeit als Ergotherapeutin im Bereich der Sozialpsychiatrie, Abschluss des Masterstudiums der Sozialen Arbeit 2020 an der FH St. Pölten. Aktuell hauptberuflich als Lehrende im Bachelorstudiengang Ergotherapie an der FH Campus Wien tätig.