soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Thema“ / Standort Vorarlberg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/694/1244.pdf
Christian Zinkel-Camp:
1. Der Schwarze Schwan
Nassim Nicholas Taleb berichtet in seinem Buch Der Schwarze Schwan (2018) von höchst unwahrscheinlichen Ereignissen – sogenannten Schwarzen Schwänen – und welchen Einfluss diese auf die Zukunft haben. In diesem Artikel wird davon ausgegangen, dass die Corona-Pandemie ein Schwarzer Schwan ist,1 da weder das Ausmaß noch die politischen Reaktionen oder die Folgen erwartbar waren – auch wenn Taleb die Corona-Pandemie wohl als Grauen Schwan einstufen würde, da eine Viruspandemie zu erwarten war. Aus diesem Ansatz heraus soll die Corona-Pandemie im vorliegenden Artikel als höchst unwahrscheinliches Ereignis betrachtet werden und der Frage nachgegangen werden, welche positiven und negativen Konsequenzen die Pandemie auf die Implementierung, Durchführung und Entwicklung von digitaler Sozialer Arbeit, speziell in der Offenen Jugendarbeit Vorarlberg, hat. Um die Thematik der Digitalität und ihre Auswirkungen bildlicher und nachvollziehbarer beschreiben zu können, werden anknüpfend an Talebs Begriff des Schwarzen Schwans in diesem Artikel die Metaphern des Schwarzen Schafs, des Hütehundes bzw. Wolfs und der Schäfer*innen verwendet.
Taleb beschreibt in seinem Buch höchst unwahrscheinliche Ereignisse. Die Metapher des Schwarzen Schwans rekurriert dabei auf die frühere Überzeugung von Menschen in westlichen Ländern, welche vor der Entdeckung Australiens sicher waren, dass alle Schwäne weiß seien. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz und auf der Grundlage von Beobachtung anscheinend bestätigt wurde – bis die Entdeckung von schwarzen Schwänen das gesamte Wissen über Schwäne ungültig machte oder zumindest grundlegend in Frage stellte. Taleb erläutert, dass alle Ereignisse, welche er als Schwarzen Schwan bezeichnet, über drei Attribute verfügen: Erstens ist das Ereignis ist ein Ausreißer, das heißt es liegt außerhalb der regulären Erwartungen und nichts in der Vergangenheit verweist überzeugend auf die Existenz. Zweitens hat das Ereignis massive Auswirkungen. Und drittens kann das Ereignis nur im Nachhinein erklärt werden, allerdings nicht in der Vorausschau (vgl. Taleb 2018:19–20).
Trotz der Nicht-Bezugnahme auf Graue Schwäne in diesem Artikel bedarf die Bezeichnung dennoch einer kurzen Erklärung. Wenn die Wissenschaft durch Forschung und Wissenserweiterung Schwarze Schwäne und ihre Auswirkungen erklärbar oder vorhersagbar macht, sind es keine Schwarzen Schwäne mehr. Mit dem Zunehmen an Vorhersagbarem werden sie zu Grauen Schwänen. Unter Grauen Schwänen versteht Taleb also im Vorhinein erfassbare extreme Ereignisse, während Schwarze Schwäne das unbekannte Unbekannte sind (vgl. Taleb 2018: 396–397).
2. Das Schwarze Schaf
Es kann der Eindruck entstehen, dass digitale Soziale Arbeit sprichwörtlich das Schwarze Schaf unter den professionellen Handlungen innerhalb der Sozialen Arbeit, ist. Hendrik Epe (2017: o.S.) vergleicht die digitale Entwicklung oder besser die Verweigerung der digitalen Entwicklung in der Sozialen Arbeit mit dem aus den Asterix Comics bekannten letzten widerständigen Dorf Galliens. Isabell Zorn und Udo Seelmayer (2015: 7–8) sprechen diesbezüglich von einer bei Fachkräften der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik verbreiteten Technikskepsis. Im Vergleich mit anderen Fachrichtungen würden digitale Möglichkeiten weniger genutzt. Hartmut Kopf und Raimund Schmolze-Krahn (2018: 81) befürchten, dass die Soziale Arbeit aufgrund ihrer digitalen Rückständigkeit aus der Mitte der Gesellschaft herausfällt und damit den Kontakt zu ihren Adressat*innen verliert.
3. Offene Jugendarbeit Vorarlberg vor Corona
In der Offenen Jugendarbeit spielt sich die tägliche Arbeit vielfach im Wohlfühlbereich der Mitarbeiter*innen ab, d.h. sie folgt lange tradierten Wegen und versperrt sich gegen Neues. Jugendliche werden in allen Lebenslagen unterstützt, wissenschaftliche Erhebungen zeigen die Potenziale (vgl. Burtscher-Mathis 2019) und positiven gesellschaftlichen Wirkungen, speziell in den Bereichen Teilhabe, Chancengerechtigkeit und soziale Entmischung (vgl. Burtscher-Mathis/Häfele 2018). Digitale Jugendarbeit ist ein präsentes Thema, wird aber für die tägliche Arbeit nicht als zwingend notwendig erachtet. Dennoch gibt es Arbeitsgruppen und einzelne Angebote, welche sich dem Thema widmen und versuchen die digitale Lebenswelt der Jugendlichen für die professionelle Arbeit der Fachkräfte in der Offenen Jugendarbeit zu erschließen. Die Verbreitung der Angebote ist allerdings so individuell und heterogen wie die Einrichtungen und ihre Besucher*innen selbst. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Mayrhofer, Neuburg und Schwarzl (2018: 11–12) in der Studie E-YOUTH.works der Offenen Jugendarbeit bei der Umsetzung von digitalen Angeboten speziell über digitale Kanäle wie Social Media und Messengerdienste einen Aufholbedarf attestieren.
3.1 Digitale Angebote vor dem Lockdown
Das Manko an digitaler Jugendarbeit wurde sowohl von einzelnen agierenden Fachkräften als auch der Politik erkannt. Die Europäische Union hat 2016 eine Expert*innenkommission mit Teilnehmer*innen aus 21 Mitgliedstaaten eingesetzt, welche 2018 ihre Arbeitsdefinition und Handlungsempfehlungen veröffentlichte. Die Arbeitsdefinition von digitaler Jugendarbeit lautet:
„Digitale Jugendarbeit bedeutet, digitale Medien und Technologien in der Jugendarbeit proaktiv zu nutzen oder sich damit auseinanderzusetzen. Digitale Jugendarbeit ist keine Methode der Jugendarbeit – digitale Jugendarbeit kann in jedes Umfeld der Jugendarbeit einbezogen werden (offene Jugendarbeit, Jugendinformation und -beratung, Jugendclubs, losgelöste Jugendarbeit usw.). Digitale Jugendarbeit hat die gleichen Ziele wie Jugendarbeit im Allgemeinen, und der Einsatz digitaler Medien und Technologien in der Jugendarbeit sollte diese Ziele immer unterstützen. Digitale Jugendarbeit kann sowohl in Face-to-Face-Situationen als auch in Online-Umgebungen – oder in einer Mischung aus beidem – stattfinden. Digitale Medien und Technologie können in der Jugendarbeit entweder ein Werkzeug, eine Aktivität oder ein Inhalt sein. Der digitalen Jugendarbeit liegen dieselben Ethiken, Werte und Prinzipien zugrunde wie der Jugendarbeit. Jugendbetreuerinnen und -betreuer beziehen sich in diesem Zusammenhang sowohl auf bezahlte als auch auf freiwillige Jugendbetreuerinnen und -betreuer.“ (GD EAC 2018: 6)
Dieser Arbeitsdefinition folgend wurden in Österreich bereits vor der Corona-Pandemie einige Angebote der digitalen Jugendarbeit erstellt. Dabei sind neben dem News-Marketing über Social Media auch Angebote des Making-Segments wie 3D-Druck, T-Shirt-Gestaltung und -Druck, Lasergravur, Repair-Cafés und ähnliches zu nennen. Allerdings ist zu erwähnen, dass auf der sozialarbeiterischen Ebene zwar Kontakte, Interventionen und Beratungen mit Jugendlichen partiell virtuell stattgefunden haben, diese aber relativ schnell in den physisch-realen Raum verlegt wurden. Ähnliches ist auch hinsichtlich der Freizeitgestaltung zu sagen. In fast allen Einrichtungen sind digitale Medien verfügbar und für Jugendliche nutzbar, aber gemeinsame Aktivitäten zwischen Jugendlichen und Jugendarbeiter*innen fanden fast ausschließlich in den Räumlichkeiten der Einrichtungen statt und wurden nicht auf die ortsunabhängigen digitalen Räume erweitert. Diese nicht-proaktive Nutzung digitaler Medien ist auf Unsicherheiten bei der Nutzung und fehlende Kompetenzen der Jugendarbeiter*innen zurückzuführen, wie die Studie E-YOUTH.works speziell für Österreich aufschlussreich zeigt (vgl. Mayrhofer/Neuburg 2019: 105–109). Anhand der Aussagen von Jugendarbeiter*innen, welche sich in der Arbeitsgruppe „Digitale Jugendarbeit“ des Koordinationsbüros für Offene Jugendarbeit und Entwicklung (koje) engagieren, lassen sich darüber hinaus auch strukturelle Unsicherheiten ableiten, welche sich durch klare Rahmenkonzepte und Leitfäden in den Einrichtungen sowie digitale Qualifizierung mildern lassen würden (vgl. Zinkel-Camp 2020b: 3).
4. Lockdown
Mit dem Lockdown im Zuge der Corona-Pandemie ab dem 16. März 2020 war die Offene Jugendarbeit österreichweit von einem Tag auf den anderen um ihre zentralen Angebote beschnitten. Es war kein niederschwelliger physischer Kontakt mit Jugendlichen möglich, die Jugendlichen haben von einem Tag auf den anderen ihre Schutz-, Rückzugs- und Entwicklungsräume außerhalb der privaten Räumlichkeiten verloren. Für alle Beteiligten war die Verlagerung in den digitalen Raum alternativlos. Die digitale Jugendarbeit, welche bei vielen professionellen Akteur*innen und Einrichtungen verschiedene Unsicherheiten verursacht, war bisher tendenziell ausgeblendet worden. Doch das Schwarze Schaf der Jugendarbeit war das einzige Mittel, um Jugendliche zu erreichen, zu unterstützen, um Rückzugsräume zu schaffen oder um Jugendliche über den Umgang mit den Herausforderungen der Corona-Maßnahmen zu informieren. Nun zeigte sich der Nutzen und die in der Fachwelt viel propagierte Verzahnung zwischen digitaler und physischer Welt. In den Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit wurden rasch jene Mitarbeiter*innen elementar, welche ausgeprägte digitale Kompetenzen hatten, während sich die vorrangig analog agierenden Mitarbeiter*innen den Herausforderungen im Umgang mit digitalen Medien stellen mussten.
5. Lockdown – Live gehen statt Live Action
Innerhalb der ersten Woche stellte der größte Teil der Vorarlberger Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit auf digitale Angebote um. Die ersten Schritten bestanden darin auf bestehende Medien zurückzugreifen, um Jugendlichen schnell und unkompliziert die Kontaktaufnahme zu ihren vertrauten Jugendarbeiter*innen zu ermöglichen. Dabei wurden folgende erste Maßnahmen getroffen: Die Einrichtungen sind Live gegangen. Auf Kanälen wie Instagram, Facebook, Twitch und YouTube konnten die Jugendlichen niederschwellig in ihrer Lebenswelt erreicht werden. Zudem hatten die Jugendlichen die Möglichkeit, direkt mit den Jugendarbeiter*innen zu interagieren. Es wurden ingame-Angebote geschaffen, wodurch Jugendliche und Jugendarbeiter*innen zu bestimmten Zeiten gemeinsam gamen und interagieren konnten. Zudem entstanden Lernbegleitungen zur Unterstützung des Home-Schooling. Somit hatten die Jugendlichen weiterhin die Möglichkeit, mit vertrauten Personen ihre schulischen Probleme zu besprechen. Aber auch analoge Unterstützungen bildeten sich aus, so wurde ein Druckservice eingerichtet, welcher es Jugendlichen ermöglichte, ihre Unterlagen in den OJAs ausdrucken zu lassen und später aus vorbereiteten Boxen abzuholen.
Die Jugendarbeiter*innen nutzten bewusst jene Kommunikationskanäle und Social-Media-Plattformen, auf welchen die Jugendlichen bereits aktiv waren. Dies ermöglichte einerseits, dass die Jugendlichen einen möglichst niederschwelligen Zugang hatten, und anderseits sammelten viele Jugendarbeiter*innen positive Erfahrungen mit der Nutzung. Weitere Angebote bestanden darin, Jugendlichen Alternativen zu bieten und so wurden Challenges, Do-it-yourself-Videos oder auch klassische Brett- und Kartenspiele zur Freizeitgestaltung angeboten, damit mit den Ausgangsbeschränkungen umgegangen werden kann (vgl. Zinkel-Camp 2020a).
6. Lockdown – Solidarität statt Einzelkampf
Mit Andauern der Ausgangsbeschränkungen wurden die genannten Angebote ausgebaut. Zudem wuchs eine neue Solidarität zwischen den Einrichtungen, aber auch zwischen den Mitarbeiter*innen. Die digital versierten Akteur*innen teilten ihr Wissen und ihre Fähigkeiten. So wurden Anleitungen für die Nutzung unterschiedlicher Tools, Programme und Games erstellt. Bisher bei der Nutzung von digitalen Angeboten unerfahrene Mitarbeiter*innen erhielten Unterstützung dabei, qualitativ hochwertige Posts zu verfassen. Somit standen allen Einrichtungen in Vorarlberg und damit allen Besucher*innen dieser OJAs die Möglichkeiten vom virtuellen Wohnzimmer, von digitalen Spielepartien und geschützten Kommunikationsräumen zur Verfügung (vgl. Bildstein/Bergauer/Zinkel-Camp 2020).
Durch die gewonnene Sicherheit entstanden zunehmend mehr Projekte und Aufträge innerhalb des Handlungsfeldes. So wurden ganze Jugendhäuser in Minecraft nachgebaut, um Jugendlichen zu ermöglichen, sich weiterhin in ein gewohntes Umfeld zu begeben (vgl. Bergauer 2020). Des Weiteren entstanden auch Kulturangebote, beispielsweise wurde ein digitaler Poetry-Slam veranstaltet, bei welchem die Teilnehmer*innen sowie Zuschauer*innen über verschiedene Plattformen partizipieren konnten (vgl. Offene Jugendarbeit Lustenau 2020). Mit diesen Angeboten konnte die Offene Jugendarbeit in Vorarlberg Bereiche der digitalen Welt für sich erschließen und Jugendlichen ein Stück Normalität bieten.
7. Lockdown – Konsequenzen
Mit der Zeit kamen zu den schon erwähnten Angeboten und Herausforderungen noch neue hinzu. Die Jugendarbeiter*innen sahen sich unter anderem einer wachsenden Verbreitung von Verschwörungstheorien gegenüber (vgl. Dietrich/Paterno 2020). Um diesen angemessen begegnen zu können, bedurfte es neuen Wissens und neuer Handlungsempfehlungen. Zudem wuchs bei vielen Jugendlichen die Zukunftsunsicherheit: Praktika, Ferialjobs und Lehrstellen wurden aufgrund der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie reduziert. Dies betraf bzw. betrifft vor allem Jugendliche mit sozioökonomisch schwachem und/oder bildungsfernem Hintergrund und somit viele jugendliche Besucher*innen der Offenen Jugendarbeit. Neben all den digitalen Herausforderungen stand die Offene Jugendarbeit nun zusätzlich vor der Aufgabe, ihre Besucher*innen in allen wichtigen Belangen zu unterstützen, um mögliche gravierende Auswirkungen abzumindern bzw. eine gewisse Chancengerechtigkeit für die betroffenen Jugendlichen zu schaffen (vgl. Bacher/Tamesberger 2020).
Ein klarer Blick in die Zukunft ist derzeit noch nicht möglich, dennoch lassen sich aufgrund der bisherigen Erfahrungen Rückschlüsse ziehen und Hypothesen entwickeln. Eine umfassende Digitalisierung der Offenen Jugendarbeit, wie von einigen Digitalromantiker*innen erhofft, wird nicht stattfinden. Dennoch haben viele digitale Verweiger*innen erlebt und gelernt, dass digitale Mittel unterstützen und Jugendliche auf eine einfache und niederschwellige Art erreichen können (vgl. Epe/Dietrich 2020).
8. Openness und Offene Jugendarbeit
Wie die technische und digitale Openness, wie beispielsweise Open Source, Open Access, Open Hard-/Software, mit Sozialer Arbeit korreliert, erläutert Sandra Hofhues (2020). Sie stellt fest, dass die Synonyme für Openness – Freimütigkeit und Offensein für Erfahrungen – erstaunlich gut zu den Diskursen über Offenheit in sozialen Einrichtungen passen. Sie stellt ebenfalls fest, dass allumfassende Openness sich als gesellschaftstheoretische Utopie zusammenfassen lässt, welche weitestgehend idealistisch und diskursiv ist. Hofhues begründet dies damit, dass allumfängliche Openness Kritik an der Gegenwartsgesellschaft übt, Vielfalt durch Technik einfordert und nach alternativen Gesellschaftsformen fragt (vgl. Hofhues 2020: 176ff.).
Was bedeutet dies nun für die Offene Jugendarbeit, die Openness bereits im Namen trägt? Das Annähern an genau diese Utopie einer allumfassenden Offenheit definiert die Offene Jugendarbeit für sich als Qualitätsmerkmal. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, in folgenden Wirkungsdimension aktiv zu sein: Erweiterung der Handlungskompetenz, Förderung der Identitätsentwicklung, Unterstützung bei der Alltagsbewältigung, bei der Vertretung von Interessen und der Förderung von gesellschaftlicher Beteiligung von Jugendlichen (vgl. bOJA 2017: 32ff.). Um diese Wirkungsdimensionen fachlich und nachvollziehbar zu erreichen, hat der Bundesverband der Offenen Jugendarbeit (bOJA) Arbeitsprinzipien entwickelt. Prinzipien wie Offenheit, Niederschwelligkeit, akzeptierende Grundhaltung, Lebensweltorientierung, Potenzial- und Subjektorientierung spielen auch im digitalen Raum eine maßgebliche Rolle, wenn es darum geht Jugendliche auf allen Wirkungsebenen in zu erreichen. Der Vollständigkeitshalber sollen an dieser Stelle alle definierten Arbeitsprinzipien genannt werden (vgl. zum Folgenden bOJA 2017: 41–44):
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Offene Jugendarbeit könnte bei einer vollständigen Übertragung ihrer Arbeitsprinzipien in den digitalen Raum der utopischen Openness, zumindest für die Zielgruppe der Jugendlichen, recht nahe kommen. Allerdings wäre hierfür notwendig, dass die Professionellen sich dieser Aufgabe stellen und sich die dafür notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten aneignen.
Aus Besprechungen der koje-Fachstelle und dem Mitgliederservice mit Einrichtungsleiter*innen, Mitarbeiter*innen der koje-Mitgliedseinrichtungen sowie anderen Dachorganisationen der Offenen Jugendarbeit geht hervor, dass viele der durch die Corona-Maßnahmen initiierten digitalen Angebote auch über die Zeit der Beschränkungen hinaus Bestand haben werden. Zu den beschriebenen Vorteilen zählt, dass ortsunabhängige Jugendarbeit möglich wird. Außerdem stehen die Angebote einer größeren Gruppe von Jugendlichen zur Verfügung, was sich dadurch erklären lässt, dass Jugendliche über digitale Medien erreicht wurden, welche zuvor noch nie Kontakt mit der Offenen Jugendarbeit hatten. Zusätzlich wird durch digitale Jugendarbeit auch die Niederschwelligkeit der Angebote erhöht, da eine physische Präsenz nicht zwingend notwendig ist. Die digitalen Angebote können differenzierter an die Bedürfnisse und die Lebenswelt der Jugendlichen angepasst werden, was zu einer höheren Akzeptanz führt. Auf der Seite der Fachkräfte führten die während der Corona-Maßnahmen gemachten Erfahrungen dazu, dass der digitale Raum von einer größeren Anzahl Mitarbeiter*innen als gestaltbare Lebenswelt wahrgenommen wird (vgl. Zinkel-Camp 2020c).
9. Hütehund oder doch Wolf im Schafspelz?
9.1 Datensicherheit und Nutzer*innenvereinbarungen
Ein dringende Notwendigkeit, welche auch schon vor der Corona-Pandemie aktuell war, besteht darin, Programme, Apps und Geräte bezüglich ihrer Datensicherheit und ihrem möglicherweise ungewollten Eingriff in die Privatsphäre zu prüfen. In der Corona-Zeit wurde dieses Thema für die Offene Jugendarbeit noch drängender, denn die Adressat*innen der Offenen Jugendarbeit legen selten Wert auf Datenschutz oder die Nutzungsvereinbarungen der jeweiligen Anbieter*innen. Beispielsweise dürften Jugendliche unter 13 Jahren entsprechend der Nutzer*innenvereinbarungen und Jugendliche nach DSGVO bzw. dem Datenschutz-Anpassungsgesetz 2018 in Österreich die beliebtesten und verbreitetsten Apps und Messenger überhaupt nicht benutzen (vgl. Saferinternet.at 2018). Wie die folgende Abbildung, der „Jugend-Internet-Monitor 2020 Österreich“, zeigt, nutzen aber die meisten Jugendlichen mindestens eine diese Apps. Nach der Selbstbeschreibung von Saferinternet.at präsentiert der Monitor „aktuelle Daten zur Social-Media-Nutzung von Österreichs Jugendlichen.“ Die maßgeblichen Fragen hierbei sind: „Welche Sozialen Netzwerke stehen bei jungen Nutzer*innen in Österreich gerade hoch im Kurs? Welche Netzwerke werden am liebsten von Mädchen genutzt? Welche haben bei Jungs die Nase vorne?“ (Saferinternet.at 2020)
Abbildung 1: Jugend-Internet-Monitor 2020 Österreich (Saferinternet.at 2020).
Für die Fachkräfte stellen sich in diesem Zusammenhang viele Fragen: Was wollen sie mit der Nutzung einer bestimmten App erreichen? Kontaktaufnahme, Informationsvermittlung oder Freizeitgestaltung? Dazu kommen bereits genannten Fragen wie etwa danach, was mit den hinterlassenen Datenspuren geschieht. Aufgrund dieser und vieler anderer relevanter Fragen ist für viele Professionelle eine Beratung oder Intervention über Facebook, WhatsApp oder Ähnliches nur schwer vorstellbar und fachlich sowie rechtlich kaum argumentierbar (vgl. Zinkel-Camp 2020c). Doch gerade im Handlungsfeld der Offenen Jugendarbeit, in welcher die Lebenswelt der Jugendlichen im Zentrum steht, gibt es nur wenig Alternativen zu den kostenlosen Social-Media-Plattformen und Messengern. Mögliche Alternativplattformen zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie wenig oder keine Akzeptanz durch die Jugendlichen erfahren, sei es aufgrund der geringen Verbreitung, der schlechten Funktionalität oder deshalb, weil sichere Programme sehr häufig an einen Gebühr gebunden sind (vgl. Eichenberger/Gomille/Lazendic 2020: 9–11).
Ein weiteres Problem bei digitaler Kommunikation und Interaktion zeigt sich hinsichtlich digitaler Ethik und der Existenzform von digitalem Raum. Aufgrund der unterschiedlichen Nutzung und der durch Filter entstehenden Echokammern sieht und benutzt jeder Mensch ein individuelles Internet, was wiederum dazu führt, dass es keine starre und feste Basis zur Kommunikation und Interaktion gibt. Die Annahme, dass jeder Mensch ein individuelles Internet sieht und dadurch auch kein einheitliches Verständnis von der herrschenden Ethik besteht, verdeutlicht Sonja Waldgruber vom Chaos Computer Club Wien mit folgenden Sätzen:
„Es gibt keine eigene Ethik im Netz! Die im Netz agierenden Menschen handeln nach ihren individuellen ethischen Grundsätzen. Das Netz geht über Länder- und Kulturgrenzen hinweg und schafft damit einen Raum, in dem einander widersprechende Werte aufeinandertreffen. Das klassische Beispiel ist hier Facebook und die Zensur von nackten weiblichen Brüsten. Filterblasen führen zu einer Isolation gegenüber Informationen, die nicht dem Standpunkt der Benutzer*in entsprechen. Für die Jugendarbeit bedeutet dies, dass Jugendarbeiter*innen, Lehrer*innen, Eltern und Jugendliche unterschiedliche Netze sehen und eine gemeinsame Kommunikationsbasis erst geschaffen werden muss.“ (Waldgruber 2018: 37)
Mit der Corona-Pandemie ist der Ruf nach Tracing- bzw. Tracking-Apps lauter geworden. Auch in Österreich argumentierte Bundeskanzler Sebastian Kurz am 03.04.2020 in seiner Rede vor dem Nationalrat und bei der anschließenden Pressekonferenz, dass mehr Rückverfolgung von Bewegungsdaten und zwischenmenschlichen Kontakten benötigt wird, um Freiheit wiederzuerlangen. „Ich bin mir vollkommen bewusst, dass all diese Einschränkungen schwerfallen, aber diese Einschränkungen sind notwendig, damit wir die Freiheit wiedererlangen“ (Kurz 2020), so der ÖVP-Chef. Dazu wird es nach Kurz Begleitmaßnahmen brauchen, deren Basis Containment im Sinne von Tracking sein könne (vgl. Kurz 2020). Weil zwei Millionen Österreicher*innen kein Smartphone besitzen, wird, so Kurz, an Schlüsselanhängern mit derselben Funktionalität wie die der Stopp-Corona-App gearbeitet (vgl. Aigner/Farouk 2020). Doch auch ohne Schlüsselanhänger und bewusst heruntergeladener App stehen für die Regierungen in Europa, also auch für Österreich, die Bewegungsdaten ihrer Bevölkerungen bereit. Google und Apple stellten während der Corona-Krise eine Auswertung anonymisierter Bewegungsdaten den Behörden als zusätzlichen Anhaltspunkt zum Verständnis der Verhaltenstrends zur Verfügung (vgl. CHIP/DPA 2020).
Diese Beispiele zeigen, dass nicht nur Jugendarbeiter*innen, sondern alle Professionellen der Sozialen Arbeit nicht oder kaum abschätzen können, ob es sich bei einer verwendeten App oder verwendeten Gerät um ein hilfreiches, unterstützendes Tool – also um einen Hütehund – handelt oder ob die gesammelten Informationen irgendwann gegen den Willen oder die ursprüngliche Intention der Nutzer*innen eingesetzt werden und die App oder das Gerät zum Wolf werden.
9.2 Algorithmische Sozialklassifizierung
Die algorithmische Auswertung von Daten und eine daraus resultierende Prognose oder soziale Klassifizierung scheinen von vielen Regierungen aufgrund ihrer scheinbar unpolitischen und objektiven Beschreibungen ein erstrebenswertes Ziel. Dies würde zudem auch einige Überwachungs- und Kontrolltechnologien rechtfertigen (vgl. Lehner 2020: 139). Aber auch hier scheint nicht sicher, ob die genutzten Algorithmen als Unterstützung, also als Hütehund, dienen oder sich als Wolf entpuppen. Beispielhaft kann an dieser Stelle die Einführung des geplanten AMS-Algorithmus dienen. Diese wurde zwar auf den 01.01.2021 verschoben, doch die Existenz und die zukünftige Nutzung scheinen sicher. Die Ziele dieses Algorithmus liegen einerseits bei der Steigerung der quantitativen Vermittlungsrate und anderseits bei finanziellen Einsparungen, sowohl bei Klient*innen wie auch beim Personal des AMS (vgl. Kiefer 2020).
Arbeitslose Menschen sollen durch diesen Algorithmus in drei Kategorien eingeteilt werden. Dies geschieht automatisch und auf Basis der bei AMS vorhandenen Daten, wie zum Beispiel Alter, Geschlecht, Ausbildung, Daten der Sozialversicherung oder auch bisherige berufliche Erfahrungen (vgl. Czák 2019). Stellen wir uns vor, der Algorithmus des AMS würde auf eine breitere Datengrundlage zugreifen können. Beispielsweise auf sämtliche Social-Media-Daten: Was habe ich mir angeschaut, geliked, geteilt, gepostet, mit wem habe ich mich über welche Themen ausgetauscht? Stellen wir uns weiter vor, auch alle Bewegungsdaten würden registriert werden: Mit wem habe ich mich getroffen? Habe ich Sport gemacht und wie lange und in welcher Intensität? Was, wenn der Algorithmus zudem meinen Daten-Traffic auswerten könnte: Was habe ich online gesucht oder mir angeschaut, welche Serien und Filme streame ich und wieviel Zeit verbringe ich damit? Diese Informationen wären aus AMS-Sicht sicherlich interessant, falls ich meinen Bewerbungspflichten nicht nachkomme. Hinzu käme, dass diese Informationen auch von jenen Menschen vorliegen, mit denen ich interagiere und somit kann deren Einfluss auf mich ebenfalls mitberechnet werden.
Liebe Leser*in, was denken Sie, welcher Kategorie würden Sie zugeteilt werden, wenn alle oben beschrieben Inhalte als Berechnungsgrundlage herangezogen würden?
9.3 So fern und doch so nah
Alle beschriebenen Inhalte des vorhergehenden Gedankenspiels und noch einige mehr (etwa Bußgelder für Geschwindigkeitsüberschreitungen oder Falschparken, gesunde Ernährung usw.) haben beim in China geplanten Sozialkreditsystem ihren festen Platz im Algorithmus. Dort ist die Reichweite jenes Algorithmus allerdings umfangreicher und gravierender als bei jenem des AMS. Wenn Menschen innerhalb des chinesischen Social-Scoring-Systems negative Bewertungen haben, erhalten sie keine Kredite, dürfen nicht befördert werden, dürfen nicht ins Ausland oder generell reisen und auch auf staatliche Transfer- und Unterstützungsleistungen hat die Bewertung massiven Einfluss. All diese Konsequenzen sind Beispiele und können nur einen Eindruck von möglichen Folgen uneingeschränkten staatlichen Datenzugriffs vermitteln.
In westlichen Ländern wie den USA oder denen in Europa stoßen solche umfassenden Social-Scoring-Systeme auf Widerstand der Bildungsschicht, allerdings scheinen Einzellösungen fallweise gut angenommen zu werden. So gibt es beispielsweise Lebensversicherungen, die günstiger sind, wenn positive Daten des Fitnesstrackers übermittelt werden. Weiters wird von einigen Institutionen wie Lending Club oder Prosper die Kreditwürdigkeit von Personen vom Social-Score abhängig gemacht. Der bereits erwähnte AMS-Algorithmus könnte hier seinen Platz in der Aufzählung einnehmen. Der größte Unterschied zum chinesischen Social-Score besteht darin, dass alle diese Systeme noch relativ alleinstehend betrachtet werden können, während in China alle Systeme zur Ermittlung des individuellen Social-Score herangezogen und vernetzt werden (vgl. Lehner 2020: 135–137).
10. Hütehund oder Wolf?
Regierungen und technologische Konzerne möchten gerne belegen, dass eine Überwachung der Bürger*innen notwendig ist und für mehr Gerechtigkeit sorgt. Somit würden technische Hilfsmittel den Politiker*innen, unseren gewählten Schäfer*innen, wie ein Hütehund unterstützend zur Seite stehen. Doch alle Konzerne, welche der Bevölkerung und somit auch den Adressat*innen Sozialer Arbeit die digitalen Werkzeuge zur Verfügung stellen, haben eigene Interessen, welche von Profit bis zu gesellschaftlicher und politischer Macht reichen können. Zudem zeigt sich, dass insbesondere marginalisierte Gruppen stärker von Überwachung und Verdatung des eigenen Lebens betroffen sind. Speziell an den gesellschaftlichen Rändern, an denen Repressionen und bürokratisch geregelte Verteilung von Ressourcen korrelieren, sind die Menschen gezwungen, ihre Daten herauszugeben, sich permanent tracen zu lassen und damit auch die persönliche Souveränität aufzugeben, um soziale Hilfen zu erhalten (vgl. Lehner 2020: 137).
Insgesamt kann gesagt werden, dass die Offene Jugendarbeit und die gesamte Soziale Arbeit erkennen muss, dass digitale Medien und Technologien sowohl Hütehund als auch Wolf sind. Die Technik birgt nicht die Lösung für alle Probleme und kann auch selbst zu einem werden und die digitalen Medien vernetzen nicht nur, sie trennen auch (vgl. Lehner 2020: 141).
Verweis
1 Die nicht konventionalisierte Schreibweise beruht auf der Handhabe von Nassim Nicholas Taleb, welcher den Schwarzen Schwan als Metapher groß schreibt, um im Verlauf seines Textes eine klare Abgrenzung zu dem Tier zu haben. Diese Schreibweise wird hier übernommen und auch für das Schwarze Schaf angewendet.
Literatur
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Über den Autor
Christian Zinkel-Camp, BA (Soziale Arbeit)
christian.zinkel@koje.at
Fachstelle, Entwicklung und Mitgliedsservice im Dachverband der Offenen Jugendarbeit in Vorarlberg. (koje – Koordinationsbüro für Offene Jugendarbeit und Entwicklung)