soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“ / Standort Vorarlberg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/695/1256.pdf


Tatjana Tschabrun:

Soziale Arbeit ist auch sexy

Sexuelle Bildung in der Sozialen Arbeit


1. Einleitung

Dieser Artikel beschäftigt sich mit Sexualität, sexueller Gesundheit und sexueller Bildung im Kontext Sozialer Arbeit. Grundlage dieses Beitrages ist die Masterthesis Sexuelle Bildung in der Sozialen Arbeit – Entwurf einer Lehrveranstaltung für das Bachelorstudium Soziale Arbeit in Österreich (Tschabrun 2018), die von der Autorin an der FH Vorarlberg 2018 eingereicht wurde.

Der Terminus sexuelle Bildung umfasst und versteht Sexualität in allen Facetten und über alle Lebensalter hinweg, beinhaltet aber auch die traditionellen Begriffe Sexualerziehung, Sexualaufklärung und Sexualpädagogik. In den 1960er und 1970er Jahren sprach man von Sexualaufklärung, in den 1980er und 1990er Jahren etablierte sich der Terminus Sexualpädagogik (vgl. Valtl 2013: 127). Die Bezeichnung sexuelle Bildung tauchte erst in den 2000ern als neuer Leitbegriff zur Beschreibung der gegenwärtigen Form der Sexualpädagogik auf und ist immer noch dabei, sich zu etablieren (vgl. ebd.: 125). Trotz der weitreichenden Akzeptanz des Begriffs sexuelle Bildung werden die alten Termini weiterhin verwendet, zumal auch ältere Fachliteratur nach wie vor Gültigkeit hat.

Soziale Arbeit beschäftigt sich einerseits aus dem gesellschaftlichen Auftrag, andererseits aus ihrem fachlichen Selbstverständnis heraus mit Krisenbewältigung, Problemlösung und Stabilisierung ihrer Adressat_innen. Per se ergibt sich daraus eine Defizitorientierung als Folge der Fokussierung auf die zu lösenden Problemlagen und Lebenskrisen. Um die Adressat_innen einzubinden, zu aktivieren, zu bemächtigen und sie letztlich möglichst langfristig zu stabilisieren, wird die Defizitorientierung von der modernen Sozialen Arbeit umgedeutet in eine Ressourcenorientierung. Dies meint, dass positive, stärkende Lebensbereiche, Persönlichkeitsanteile, Fähigkeiten und Interessen entdeckt, benannt und aktiviert werden. Dadurch sollen die Adressat_innen nicht nur durch aktive Unterstützung der Sozialen Arbeit, sondern auch durch Empowerment und Aktivierung ihres persönlichen Engagements und vorhandener geistiger, körperlicher, spiritueller, personaler und sozioökonomischer Ressourcen stabilisiert werden. Die psychischen, physischen und spirituellen (im Sinne von Lebensenergie) Dimensionen der Sexualität muss die Soziale Arbeit, um ihrem Anspruch der Ganzheitlichkeit gerecht zu werden, im Sinne einer positiven Lebensenergie und Ressource miteinbeziehen.

Humanitäre und demokratische Ideale als Wertepfeiler Sozialer Arbeit resultieren aus der Achtung der Gleichheit und Würde aller Menschen und somit aus den Menschenrechten. Soziale Arbeit schöpft Motivation aus den Menschenrechten und der Idee sozialer Gerechtigkeit und ist diesen aus ihrem Selbstverständnis heraus verpflichtet (vgl. IFSW 2000: 1). Soziale Arbeit versteht sich als Menschenrechtsprofession, woraus sich auch ihre Verpflichtung gegenüber der sexuellen Bildung ergibt. Sexuelle Bildung bezieht sich in ihrem Selbstverständnis, ihrer gesellschaftlichen als auch individuellen Notwendigkeit und Berechtigung sehr stark auf die Menschenrechte. Insbesondere bilden das Recht auf Bildung und das Recht auf (sexuelle) Gesundheit zentrale Bezugspunkte der sexuellen Bildung.


2. Der Bildungsauftrag in der Sozialen Arbeit

Bildung findet informell im Alltag statt und geht formalisierter und nicht formalisierter Bildung immer voraus. Formalisierte Bildung findet im Rahmen des Schulsystems statt, nicht formalisierte Bildung passiert in unterschiedlichen Sektoren wie der Erwachsenenbildung, Kulturpädagogik oder auch in der Sozialen Arbeit (vgl. Otto/Thiersch 2011: 166f.).

Bildungsangebote und -prozesse in der Sozialen Arbeit stellen einen Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation ihrer Adressat_innen dar und sind meist an konkreten Zielen und Inhalten zum besseren Gelingen des Lebens orientiert (vgl. ebd.: 163f.). Lernen ermöglicht es den Menschen, ihr Leben in Freiheit zu gestalten und die gesellschaftlichen Anforderungen und Aufgaben anzunehmen. Wissenserweiterung fördert und verlangt Selbsttätigkeit, welche auch wesentlicher Teil der sexuellen Bildung ist. Durch Bildung setzt sich der Mensch mit der Welt auseinander und eignet sich sein Bild der Wirklichkeit an (beispielsweise zur Natur, zu politischen und sozialen Normen und Regeln oder zu kulturellen Themen). Gegenwärtig haben das rapide Wachstum von Technologie und Wissensbeständen, gesellschaftliche Pluralisierung und die Zunahme der Lebensgestaltungsmöglichkeiten und damit verbunden die neue Verteilung von Lebenschancen bzw. -ungerechtigkeiten starken Einfluss auf das Thema Bildung (vgl. ebd.: 163f.).

Im Spannungsfeld zwischen Selbstentwicklung und gesellschaftlich geforderter Persönlichkeitsentwicklung entsteht ein Bildungsprozess, in dem gesellschaftliche Normen und Werte mit persönlichen Lebenszielen, Handlungswegen und Einstellungen verschmelzen. Da diese auch für gesundheitsrelevante und somatische Lebensaspekte gelten, kann Gesundheitsförderung (inklusive der sexuellen Gesundheit) auch als Bildungsprozess definiert werden. In Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung als Teil des Bildungsprozesses schließt diese auch die Ausbildung von Kohärenzsinn und Resilienz mit ein. Durch diese stark sozial bedingten Faktoren wird die ausgeprägte soziale Dimension von Bildung sichtbar, die insbesondere in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit und somit auch in der sexuellen Bildung von hoher Relevanz ist. Gesundheitsbezogene Bildung in der Sozialen Arbeit ist also auch soziale Bildung, hinter der allerdings kein eigenständiges Konzept steht. Vielmehr ist soziale Bildung Bestandteil des umfassenden Bildungsprozesses der Gesamtperson (vgl. Homfeldt/Sting 2006: 118).

Für die Soziale Arbeit, aber insbesondere auch für die sexuelle Bildung gilt folgender Leitsatz: „Eine gesundheitsförderliche Lebensweise zu entwickeln bedeutet zu lernen, sich für die eigene Person zuständig zu fühlen – unter Einbezug der sozioökonomischen, ökologischen und politischen Aspekte von Lebensweisen und -welten.“ (Homfeldt/Sting 2006: 81) Gelingen kann dies unter Einbeziehung biografischer Aspekte der Adressat_innen, sozioökonomischer, ökologischer und (sozial-)politischer Lebensbedingungen und Zukunftserwartungen (vgl. ebd.: 81). Dabei steht die Soziale Arbeit vor der Herausforderung gesundheitlicher Ungleichheiten in unserer Gesellschaft. Trotz dem gut ausgebauten österreichischen Gesundheitssystem, zu dessen Leistungen alle Menschen gleichermaßen Zugang haben sollten, fördert soziale Benachteiligung in der Gesellschaft auch eine Benachteiligung im Zugang zu Angeboten und Leistungen des Gesundheitssystems. Dies wiederum erhöht gesundheitliche Belastungen und Beeinträchtigungen. Generalisierende Strategien im Gesundheitswesen berücksichtigen zudem keinerlei geschlechts-, alters- oder herkunftsbezogene Differenzen, was für ohnehin schon marginalisierte Personengruppen den Zugang nochmals erschwert. Dieselben Zugangserschwernisse gelten auch für den Bildungsbereich. Diese gegenwärtigen Phänomene, erzeugt durch Pluralisierung und Globalisierung, ziehen strukturelle, milieu- und herkunftsbedingte Ausgrenzungen nach sich und akzentuieren die Aufträge Sozialer Arbeit und sexueller Bildung neu (vgl. ebd.: 99f.).

Um die Umsetzung von und den Zugang zu Bildung menschenrechtskonform zu erfüllen, müssen folgende Anforderungen erfüllt werden: Bildung muss verfügbar (d.h. ausreichend vorhanden) und wirtschaftlich, physisch und nichtdiskriminierend zugänglich sein. Die Annehmbarkeit in Form von bedürfnisorientierten und an Lebenslagen von Kindern und Eltern angepassten Angeboten und die Einhaltung der in den UN-Konventionen festgeschriebenen Bildungsziele muss gewährleistet sein (vgl. ebd.: 21). Auch der österreichische Sexualpädagogik-Erlass von 2015 bezieht sich auf diese menschenrechtlichen Rahmenbedingungen (vgl. BMBF 2015: 2).

Legt man den eben diskutierten Bildungsauftrag der Sozialen Arbeit auf die Ebene der Sexualität um, eröffnet sich das breite Feld sexueller Bildung. Sexuelle Bildung sieht die Sexualität als Teil des Lebens eines jeden Menschen, wobei Gestalt und Implikationen in den verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich sind. Unabdingbar ist, dass alle, auch spezifische und marginalisierte Gruppen (neben Kindern und Jugendlichen beispielsweise auch Senior_innen, Migrant_innen, kranke Menschen, Menschen mit Behinderung), Unterstützung bezüglich ihrer sexuellen Gesundheit erfahren und Zugang zu sexueller Bildung erhalten. Dies umfasst neben der Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Wertvorstellungen auch die Sicherstellung, dass alle Bedarfsgruppen über die gesamte Lebensspanne hinweg Zugang zu evidenzbasierten Informationen und gesundheitsbezogenen Angeboten haben (vgl. WHO 2011: o.S.).


3. Sexuelle Bildung

Der traditionelle Begriff der Sexualerziehung impliziert, dass die erziehende Person die Handlung bestimmt, die Lernenden also erzieht. Der Bildungsbegriff geht hingegen von der Aneignung der Welt durch die lernenden Personen aus, die erziehende Person begleitet diesen Prozess lediglich (vgl. Valtl 2013: 128).

„Der Begriff Bildung ergreift damit Partei für die Lernenden und setzt den Akzent auf selbstbestimmte Lernformen und auf Förderung von Autonomie, und wir sollten wagen, dieses Verständnis von Bildung auch auf Sexualität anzuwenden.“ (Valtl 2013: 128)

Sexuelle Bildung weist nach der Systematik von Karlheinz Valtl folgende Charakteristika auf: Sie ist selbstbestimmt, auf ihre Adressat_innen zentriert, ist konkret und brauchbar gestaltet. Sexuelle Bildung hat an sich einen Wert, sie folgt dem Prinzip der Ganzheitlichkeit und bezieht auf kognitiver, sozialer und spiritueller Ebene alle Lebensalter mit ein. Nicht zuletzt ist sexuelle Bildung auch politisch, zumal Sexualität explizit auch als Kulturprodukt verstanden werden muss (vgl. ebd.: 125).

Hat der Pädagogikbegriff im Laufe der Zeit seinen visionären Charakter eingebüßt, so erfährt der Bildungsbegriff, auf Sexualität angewendet, gegenwärtig eine breitere Akzeptanz. Dass er sich hier etablieren konnte, ist vermutlich auf die positive Besetzung von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstformung in unserer Gesellschaft zurückzuführen (vgl. ebd.: 125f.). Hinzu kommt, dass die Thematisierung von Sexualität „unter dem Label ‚Bildung‘“ (ebd.: 129) eher auf fruchtbaren Boden fällt, weil dadurch die Problemanbindung der Sexualpädagogik nicht vorrangig ist. Fragt man nämlich Praktiker_innen nach den Anlässen für sexualpädagogische Angebote, so stehen diese meist in Verbindung mit dem Gefahrendiskurs um sexualisierte Gewalt, Missbrauch, sexuell übertragbare Infektionen und ungewollte Schwangerschaften (vgl. ebd.: 129). Doch nicht nur die Prävention bzw. Aufarbeitung erlebter sexualisierter Gewalt und somit die Wiederherstellung sexueller Gesundheit ist Auftrag der Sozialen Arbeit, sondern auch die Bemächtigung ihrer Adressat_innen zu einem gesunden und erfüllten Sexualleben: Betonung von Sexualität als Ressource und Schaffung von Zugängen zu Angeboten und Inhalten sexueller Bildung.


4. Fokus sexuelle Gesundheit

Die erste Definition sexueller Gesundheit der WHO stammt aus dem Jahr 1975: „Sexual health is the integration of the somatic, emotional, intellectual, and social aspects of sexual being, in ways that are positively enriching and that enhance personality, communication, and love.“ (WHO 1975: 6)

Bemerkenswert erscheint hier die Erwähnung der Liebe, die in all den anderen im Rahmen des vorliegenden Artikels gesammelten Definitionen nie explizit genannt wird. Eine aktuellere Definition der WHO aus dem Jahr 2017 hält dahingegen fest, dass sexuelle Gesundheit mit der allgemeinen Gesundheit, dem Wohlbefinden und der Lebensqualität untrennbar verbunden ist. Sexuelle Gesundheit definiert sich nicht nur durch das Fehlen von Krankheit und Funktionsstörungen. Vielmehr stellt sie das sexualitätsbezogene physische, emotionale, mentale und soziale Wohlbefinden in den Mittelpunkt. Dazu gehören unter anderem eine positive und respektvolle Haltung und die Fähigkeit zur Gestaltung sexueller Beziehungen. Sexualität soll in einem sicheren und angenehmen Rahmen erfahren werden können. Abschließend postuliert die WHO, dass sexuelle Gesundheit nur erlangt werden kann, wenn auch Achtung, Wahrung und Schutz der sexuellen Rechte aller Menschen gewährleistet werden können (vgl. WHO 2017: o.S.).

In Entre Nous, dem Europäischen Magazin für sexuelle und reproduktive Gesundheit der WHO, wird die WHO-Definition der sexuellen Gesundheit konkretisiert:

„Sexual health, including healthy sexuality, is fundamental to the physical and emotional health and well-being of individuals, couples and families. (…) the ability of men and women to achieve sexual health and well-being depends on the access to comprehensive information about sexuality, knowledge about the risks they face, their vulnerability to the adverse consequences of sexual activity, their access to good quality sexual health care, and an environment that affirms and promotes sexual health.“ (Dortch/Ketting/Lenoir/Winkelmann 2013: 4)

Die genannten sexuellen Rechte bzw. menschenrechtlichen Dimensionen von Sexualität werden im folgenden Kapitel erläutert.

Die New Yorker Ford Foundation definiert sexuelle Gesundheit in Sexuality and Social Change wie folgt:

„Sexual Health is the ability to express one’s sexuality free from the risk of sexually transmitted infections, unwanted pregnancy, coercion, violence and discrimination. It means being able to have an informed, pleasurable and safe sex life, based on a positive approach to human sexuality and mutual respect in sexual relations. Sexual health strengthens self-esteem and self-determination, and enhances communication and relationships with others.“ (Ford Foundation 2006: 18)

Menschliche Sexualität wird geformt vom sozialen, kulturellen, religiösen und politischen Umfeld jedes Individuums. Der Umgang mit Sexualität (sexuelle Orientierung und Geschlecht eingeschlossen) in unterschiedlichen Kulturen oder Gesellschaften kann darüber bestimmen, ob jemand in Sicherheit oder Gefährdung, gerecht oder ungerecht behandelt, gebildet oder ungebildet und letztlich gesund oder krank lebt (vgl. Ford Foundation 2006: 32). Sexualität ist ein heißes und hart umkämpftes Politikum, das von Machthabenden ausgespielt werden kann, beispielsweise wenn Regierungen und/oder Glaubensgemeinschaften aufgrund von dogmatischen Haltungen und Ideen Inhalte sexueller Bildung beeinflussen, vorschreiben oder verbieten. Dies hat den erschwerten Zugang zu oder das Verbot von sexueller Bildung und Angeboten zur Förderung sexueller Gesundheit zur Folge. Dies geht wiederum meist mit negativen Diskriminierungen, sexualisierter Gewalt und Missbrauch aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung einher, nicht zuletzt mit gesundheitlichen Gefährdungen aufgrund zurückgehaltener Information (vgl. Dortch et al. 2013: 4). Somit weist sexuelle Gesundheit auch einen starken Bezug zur politischen Dimension von Sexualität und zu sexuellen Rechten auf.


5. Fokus sexuelle Rechte

Sexuelle Rechte sind Teil der Menschenrechte, welche allgemeingültig und unteilbar sind und im Einklang mit den Antidiskriminierungs-Grundsätzen stehen. Zahlreiche internationale Instrumente, Normen und Standards erkennen wichtige Grundsätze an, die sich auf Sexualität beziehen. Die Erklärung sexueller Rechte der International Planned Parenthood Federation (IPPF) beruft sich auf grundlegende, international gültige Menschenrechtsinstrumente und -abkommen und deren verbindliche Auslegungen und daraus resultierende Rechtsansprüche in Zusammenhang mit Sexualität. Auch wenn nationale und regionale Besonderheiten und Unterschiedlichkeiten in Geschichte, Kultur und Religion nicht außer Acht gelassen werden dürfen, können und sollen Organisationen und einzeln agierende Individuen auf der ganzen Welt die Erklärung der sexuellen Rechte in ihre Tätigkeiten, Angebote, Regelwerke und Konzepte integrieren. Diese integrative und ganzheitliche Verknüpfung von Menschenrechten, Sexualität und sexueller Gesundheit unterstützt die Förderung und Verteidigung sexueller Rechte und umgekehrt (vgl. IPPF 2006: 8). Die IPPF hält dazu fest:

„Sexuelle Rechte sind spezifische Normen, die entstehen, wenn bestehende Menschenrechte auf die Sexualität angewandt werden. Sexuelle Rechte schützen besondere Identitäten, gehen aber darüber hinaus und sichern das Recht aller Menschen, ihre Sexualität unter Beachtung der Rechte anderer und innerhalb des Regelwerks der Nichtdiskriminierung verwirklichen und ausdrücken zu können. […] Ihre Anwendung ist von besonderer Bedeutung für die Armen, marginalisierte Gruppen, von der Gesellschaft Ausgeschlossenen und Benachteiligten, unabhängig davon, ob solche Merkmale historisch bedingt oder erst kürzlich aufgetreten sind.“ (IPPF 2006: 22)

Konkret umfassen diese Rechte laut IPPF das Recht auf

Diese Rechte stehen in Wechselwirkung mit den sieben Grundsätzen, auf denen die IPPF-Erklärung der sexuellen Rechte basiert:

  1. Schaffung positiver Rahmenbedingungen, innerhalb derer Sexualität als wesentlicher Teil der menschlichen Persönlichkeit angesehen wird und alle sexuellen Rechte als Teil eines Entwicklungsprozesses in Anspruch genommen werden können.
  2. Rechte und Schutzmaßnahmen für Minderjährige unterscheiden sich von denen Erwachsener und berücksichtigen deren sich in Entwicklung befindliche Fähigkeit zur Durchsetzung ihrer Rechte.
  3. Nichtdiskriminierung bildet die Basis aller Menschenrechte.
  4. Bekenntnis zu Freiheit und Schutz vor Schaden als Sicherstellung sexueller Rechte für alle Menschen.
  5. Sexualität und sexuelle Lust bilden zentrale Aspekte des Menschseins – unabhängig vom Wunsch nach Fortpflanzung und Familienplanung.
  6. Sexuelle Rechte dürfen nur Beschränkungen unterliegen, die gesetzlich festgeschrieben sind.
  7. Achtung, Schutz und Verwirklichung für alle sexuellen Rechte und Freiheiten (vgl. IPPF 2006: 16–20).

Sexuelle Rechte und deren Durchsetzung müssen auch Teil des Auftrags der Sozialen Arbeit sein – nicht zuletzt, da die Soziale Arbeit mit benachteiligten und marginalisierten Personengruppen arbeitet. Als Menschenrechtsprofession mit advokatischem Auftrag kommt hier der Sozialen Arbeit eine große Verantwortung zu, auch dieses Menschenrecht zu verinnerlichen, nach innen und außen zu vertreten und einzufordern.

Im übergeordneten Spannungsfeld der Politik stellt die Realisierung sexueller Rechte ebenfalls eine besondere Herausforderung dar. Auch wenn sexuelle Rechte in globalen Abkommen definiert werden (UN, NRO), sagt diese Tatsache allein noch nichts über ihre konkrete Umsetzung aus. Begleitende Kontroversen und Debatten weisen auf etwaige Unschärfen, Fehlinterpretationen und Lücken hin. Dadurch werden permanente Weiterentwicklungen notwendig und forciert. Sexuelle Rechte sind unabdingbar für die Durchsetzung einer geschlechtsunabhängig selbstbestimmten Sexualität frei von Gewalt und Diskriminierung. Sexuelle Rechte sind wesentliche Instrumente im Kampf gegen die Verbreitung von sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten und Ungleichbehandlung, in weiterer Folge auch für die globale Armutsbekämpfung. Sexuelle und reproduktive Rechte müssen immer in globalen Politikagenden präsent bleiben, um deren Durchsetzung forcieren zu können. Dazu braucht es über die traditionellen politischen Bündnisse hinaus Kooperationen und neue Allianzen, beispielsweise unter den regierungsunabhängigen Menschenrechts- und Gesundheitsorganisationen. Deren gemeinsames Ziel ist die Beschleunigung der Umsetzung sexueller Rechte und der Forderungen nach sexueller und reproduktiver Gesundheit und, die Politik in die Pflicht zu nehmen (vgl. Thoss 2013: 533f.).


6. Die Praxis sexueller Bildung in der Sozialen Arbeit

Im Kontext Sozialer Arbeit ist sexuelle Bildung als lebenslanger Lernprozess auf die Selbstaneignung und die Selbsttätigkeit des Menschen innerhalb dieses Prozesses gerichtet. Dadurch erscheint der Begriff sexuelle Bildung für die Gesamtheit sozialarbeiterischer Handlungsfelder anschlussfähiger als der Begriff der Sexualpädagogik, welcher sich traditionell auf Kinder und Jugendliche konzentriert. Letzterer bleibt dennoch ein anerkannter Begriff, unter dem sich eine Vielzahl qualifizierter Bildungsangebote, Konzepte, Medien und Fachzirkel verorten. Beide Begriffe werden gegenwärtig auch synonym verwendet (vgl. Schmauch 2016: 40). Die Diplom-Heilpädagogin und Professorin für Soziale Arbeit und Gesundheit Ulrike Schmauch hebt in Sexualpädagogik kontrovers das beiden gemeinsame Verständnis von Sexualität hervor:

„Beide Ansätze, sexuelle Bildung und Sexualpädagogik, sind sich darin einig, dass menschliche Sexualität als komplexes Ganzes zu betrachten ist, das sich aus biologischen Grundlagen, gesellschaftlichen Einflüssen sowie individuellem Erleben und Gestalten zusammensetzt.“ (Schmauch 2016: 40)

Sexualität kann in der Sozialen Arbeit in allen Handlungs- und Praxisfeldern, in der Arbeit mit allen Adressat_innengruppen und in unterschiedlichsten Settings Thema werden. Dabei sind die Situationen, in deren Rahmen Sexualität virulent wird, äußerst unterschiedlich. Sie tritt sowohl direkt als auch indirekt und häufig auch widersprüchlich in Erscheinung. In der Sozialen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, sowohl in stationären als auch ambulanten Settings, ist Sexualität im Rahmen der enormen Entwicklungsaufgaben in der Kindheit und im Jugendalter ein (häufig indirektes) omnipräsentes Thema, zu dem sich viele Fragen und herausfordernde Situationen für die Soziale Arbeit ergeben. Im Erwachsenenalter werden sexuelle Themen konkreter und greifbarer, beispielsweise in Beratungen zu Partnerschaft, sexueller Gesundheit, Familienplanung, in der Schwangerschaftskonfliktberatung, aber auch in der Arbeit mit Opfern oder Täter_innen sexualisierter Gewalt. Kurzgefasst bedeutet dies, dass „sich kindliche und erwachsene Sexualität strukturell und qualitativ unterscheiden“ (ebd.: 41). In der jüngeren Vergangenheit wurden in den Handlungsfeldern mit Menschen mit Beeinträchtigungen und alten Menschen zunehmend sexualitätsbezogene Bedarfslagen der Adressat_innen wahrgenommen und deren Anerkennung und Auflösung somit auch zur Aufgabe Sozialer Arbeit (vgl. ebd.: 35).

Genauso unterschiedlich wie die sexualitätsbezogenen Lebensäußerungen in verschiedenen Lebensaltern, gesellschaftlichen Milieus und kulturellen sowie institutionellen Bezügen stellt sich die Vielfältigkeit von Sexualität, Liebe und Erotik in ihrer Ausgestaltung dar. Mit dieser Vielfältigkeit sind Sozialarbeitende in ihrem Berufsalltag konfrontiert, welcher dadurch „wie im echten Leben“ anmutet, wo Lebens- und Liebensweisen, Geschlechtsidentitäten und Orientierungen mannigfaltig, individuell und sehr unterschiedlich sind. Sichtbar wird diese Vielfältigkeit auch an der Ausprägung stereotyper Vorannahmen seitens der Sozialarbeitenden, wenn es beispielsweise Irritation hervorruft, wenn das Gegenüber nicht, wie angenommen, heterosexuell, sondern homosexuell ist; oder wenn sich tabuisierende Wahrnehmungsmuster mit der Realität kreuzen, wenn beispielsweise Sexualität in einer Wohneinrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen negiert wird. Hier müssen Leitungspersonen und Teams in sozialen Einrichtungen ausgrenzende Denk- und Handlungsmuster reflektieren und gezielt revidieren bzw. abbauen (vgl. ebd.: 36).

Auf der Ebene der sozialen Organisationen und Einrichtungen bedeutet dies, dass prinzipiell ein sexualfreundliches Klima, das gleichzeitig auch ein Schutzklima sein muss, herzustellen ist. Eine sexualfreundliche Haltung seitens der Einrichtungen und ihrer Fachkräfte ist ein wesentliches Element der Prävention von sexualisierter Gewalt – ausgeübt von Fachkräften, aber auch innerhalb der Peergroups (vgl. Wolff 2013: 471f.). Sexualität zu tabuisieren oder ihr mit Unterdrückung oder Bestrafung zu begegnen, kann Menschen auch traumatisieren, wie zu viele Fälle insbesondere im Kontext von Heimunterbringungen zeigen. Sexualität gebührt ein sichtbarer und adäquater Stellenwert in der Sozialen Arbeit – vor allem um ihrer selbst willen, nicht ausschließlich zum Schutz von Adressat_innen und Personal (vgl. Schmauch 2016: 33).

Berufliche Beziehungen im Feld Sozialer Arbeit erfordern ein ausgewogenes und professionelles Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Fachkräften und Adressat_innen. Die Nähe zu Adressat_innen ist Teil der Vertrauensbildung und des Auftrages Sozialer Arbeit. Im Doppelmandat Sozialer Arbeit hat Nähe aber auch einen Kontrollaspekt, den Soziale Arbeit fallweise und auch im institutionellen Auftrag zu erfüllen hat, wodurch sie Macht über ihre Adressat_innen gewinnt. Gleichzeitig ist es unabdingbar, zu Adressat_innen eine professionelle Distanz zu wahren. Die Notwendigkeit dieser Distanzeinhaltung entsteht aus dem institutionellen Auftrag und der beruflichen Rolle Sozialarbeitender heraus. Soziale Arbeit definiert sich in diesem Kontext auch als bezahlte Tätigkeit, der ein Studium vorangeht und eine wissenschaftliche Fundierung und eine einschlägige Methodik zugrunde liegen. Die professionelle Distanz muss immer wieder berufsethisch geprüft, reflektiert und nachjustiert werden (vgl. ebd.: 33f.).

Insbesondere auf körperlicher Ebene, so zum Beispiel in der Alltagsbegleitung, in Arbeitsfeldern mit pflegerischen Aufgaben, in Konfliktsituationen oder auch in emotionalen Situationen, die Trost, Umarmungen oder Händereichen verlangen, ist die Wahrung von Distanz und gegebenenfalls die Verbalisierung von Grenzen und Grenzüberschreitungen eine Herausforderung für die Soziale Arbeit. Im Umgang mit Adressat_innen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, ist seitens der Sozialarbeitenden besonders sensibles Vorgehen und Achtsamkeit gefordert (vgl. ebd.: 34f.). Dafür bietet sexuelle Bildung ein Konzept, in dem befreiende und bedrohliche Aspekte der menschlichen Sexualität gleichermaßen anerkannt werden: Die Vermittlung von Sexualität als etwas durchgängig Schönem verklärt die Realität und schließt Menschen aus, die auch die dunkle Seite der Sexualität kennen und erlebt haben. Sozialarbeitende müssen diese Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten menschlicher Sexualität erkennen und ertragen können und allen Anteilen – sowohl den lustvollen als auch den übergriffigen – Aufmerksamkeit und Achtung entgegenbringen. Ein weiterer Widerspruch, welcher in der Sozialen Arbeit häufig in Erscheinung tritt, ist die Übermächtigkeit der Belastungen und der Alltagsanforderungen, in denen Sexualität beinahe als Luxusproblem erscheint. Hier hat die Soziale Arbeit die Aufgabe, diesen Widerspruch und den daraus entstehenden Leidensdruck als solchen anzuerkennen (vgl. Schmauch 2016: 41f.).

Das Thema Sexualität kann auch bei gut ausgebildeten Fachkräften Unsicherheiten und Schamgefühle hervorrufen. Dieses Phänomen hängt unter anderem auch mit dem Nähe-Distanz-Verhältnis zwischen Sozialarbeitenden und Adressat_innen zusammen, beispielsweise wenn die Fachkraft zu große Nähe als Grenzüberschreitung empfindet. Dies kann verursacht werden „durch physische Berührung, verbale Distanzlosigkeit oder emotionale Vereinnahmung“ (ebd.: 37) seitens der Adressat_innen. Ein weiterer Grund für Verunsicherung kann das persönliche Verhältnis zur Sexualität sein, wenn dieses beispielsweise schambehaftet ist oder wenn Differenzen zwischen der eigenen und der Sexualmoral der Adressat_innen bestehen. Häufig wird die Unsicherheit auch durch fehlende Sprache verursacht, welche Sozialarbeitende zur Verbalisierung sexueller Themen brauchen (vgl. ebd.: 37).

Durch sexuelle Bildung können hier bestehende Lücken gefüllt werden, indem sich sowohl Praktiker_innen als auch Studierende Sozialer Arbeit mit adäquater Sprache, mit der Reflexion des praktischen Handelns und mit der Selbstreflexion im berufsbezogenen Spannungsfeld Sexualität auseinandersetzen. Sexuelle Bildung ermöglicht auch die Aneignung spezifischer Kompetenzen, insbesondere Gender-, Regenbogen- und interkultureller Kompetenz. Nicht zu vergessen sind auch angehende Sozialarbeiter_innen, die im Rahmen des Studiums Praktika in unterschiedlichen Arbeitsfeldern absolvieren. Eine deutsche Studie belegt, dass sexuelle Bildung für Studierende der Sozialen Arbeit nicht nur für die sozialarbeiterische Praxis, in der sie eine wichtige Multiplikator_innenrolle erfüllen, gewinnbringend ist. Vielmehr sind sie als meist junge Erwachsene selbst Zielgruppe sexueller Bildung und erhalten so die Möglichkeit, sich nicht nur beruflich, sondern auch persönlich weiterzubilden und zu entwickeln. Diese Kombination von Wissensvermittlung und Selbsterfahrung bildet die Basis für die Entwicklung einer professionellen Haltung und eines authentischen und kompetenten Auftretens gegenüber Adressat_innen (vgl. Altenburg 2016: 94).


7. Plädoyer für sexuelle Bildung in der Sozialen Arbeit

In Bezug auf Sexualität besteht in der Sozialen Arbeit ein starker, historisch gewachsener Defizitfokus. Dieser zeigt sich einerseits in Gender-Diskussionen und feministischen Debatten, in denen berechtigterweise und selbstverständlich geschlechtsbezogene Benachteiligungen, Unterdrückung, gesellschaftliche und strukturelle Machtverhältnisse, welche geschlechtsbezogene Diskriminierung fördern, aufgezeigt und diskutiert werden (vgl. Thole/Höblich/Ahmed 2014: 75). Noch stärker zeigt sich die Notwendigkeit gesellschaftlicher und fachlicher Diskurse beim Thema sexualisierte Gewalt. Leider hat das permanente Befassen mit eben diesen dunklen Seiten der Sexualität aber auch zur Folge, dass die Lustbetonung und die Sichtweise auf die Sexualität als positive Lebensenergie verloren geht bzw. sie viel zu selten als Ressource wahrgenommen wird. Dies gilt es in der Sozialen Arbeit zu lehren und im Rahmen fachlicher Reflexion immer wieder als wertvolle Lebensenergie und Ressource freizulegen.

Stellen wir uns folgende Situation aus dem Alltag als Sozialarbeiter_in vor: Erstellt man mit einem Menschen, der sich in einer tiefen Lebenskrise befindet, eine Liste sowohl positiver als auch negativer Lebensbereiche, ist die negative Spalte meist wesentlich umfangreicher als die positive. Wahrscheinlich ist es auch so, dass auf recht wenigen Listen das Sexualleben überhaupt aufscheint. So ist es doch schade, wenn hier das wichtige Lebenselement Sexualität übersehen wird – vor allem dann, wenn man es auf der Liste unter den positiven Lebensbereichen verbuchen könnte. Im Sinne einer Ressource darf und soll das Sexualleben thematisiert werden – auch wenn es auf den ersten Blick im jeweiligen Handlungsfeld oder Setting nicht wichtig erscheint. Die Reaktion der Adressat_innen wird zeigen, ob sie für einen Blick auf diesen Lebensbereich offen sind oder eben nicht. Es liegt aber an der Sozialen Arbeit, sich proaktiv auf dieses sehr intime Terrain zu begeben und dadurch eventuell eine Ressource zu identifizieren. Dafür soll sexuelle Bildung das nötige Fachwissen und die dazugehörigen Skills für die Praxis Sozialer Arbeit zur Verfügung stellen.

Verfolgt man die Sichtweise auf Sexualität als Lebensenergie über die gesamte Lebensspanne hinweg, liegt es hier an den Praktiker_innen, sich ihrem Handlungsfeld entsprechendes Fachwissen anzueignen, zumal sich Soziale Arbeit an alle Alters- und unterschiedlichste Bedarfsgruppen richtet (vgl. Thole et al. 2014: 36). Somit ist auch die Organisations- und Leitungsebene gefordert, ihren Mitarbeiter_innen auf die jeweiligen Adressat_innen maßgeschneiderte Fortbildungsangebote zu offerieren. Diese Bildungsangebote sollten aber nicht nur von externen Anbietern abgehalten werden (u.a. ISP und IFP Wien, Verein Amazone Vorarlberg), sondern auch in den standardisierten Abläufen einer Organisation Eingang finden, beispielsweise in Reflexionsteams zum übergeordneten Thema Sexualität. Gerade in Bereichen, die noch immer mit der Tabuisierung von Sexualität zu kämpfen haben, kann die Wissenserweiterung eine Chance zur reflektierten Öffnung sein. Dies betrifft insbesondere Wohneinrichtungen (beispielsweise der Wohnungslosenhilfe), die sich mit der Frage befassen, ob und wie sexuelle Kontakte im Haus erlaubt sein sollen, ob Paare als solche einziehen dürfen und wie mit Paarbildungen unter Bewohner_innen umgegangen wird. Um beim Beispiel der Wohnungslosenhilfe zu bleiben, muss im Sinne des Anspruchs der Ganzheitlichkeit auch der Bereich Sexualität zumindest mitgedacht, bei Bedarf thematisiert und miteinbezogen werden. Auf dem Weg zu einer langfristigen Stabilisierung darf Sexualität von institutioneller Seite nicht ausgeklammert, negiert oder verboten werden.

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sieht sich sexuelle Bildung mit der Herausforderung konfrontiert, auf die allgegenwärtige visuelle und multimediale (Über-)Sexualisierung zu reagieren. Mit stereotypen Geschlechterbildern, die dabei transportiert werden, mit einer Idealisierung des perfekten Körpers und folglich des perfekten Sexlebens. In einer digitalisierten, schnelllebigen und pluralisierten Welt, die insbesondere Adressat_innen Sozialer Arbeit vor große Anpassungsanforderungen stellt, ist Bildung (eben auch auf sexueller Ebene) sehr wichtig, um adäquat auf Herausforderungen reagieren und eigene Anpassungsschwierigkeiten einordnen und ausgleichen zu können. Sexuelle Bildung soll Adressat_innen Sozialer Arbeit dahingehend stärken, dass sie ihre sexuelle Gesundheit erhalten bzw. verbessern und aus einer erfüllten Sexualität Energie schöpfen können.

Inwieweit ein erfüllendes Sexualleben idealisiert wird oder eben überhaupt thematisiert, adäquat bewertet und eingeordnet werden kann, hängt davon ab, ob die passende Sprache dafür zur Verfügung steht. Dabei kann Soziale Arbeit unterstützen, indem sie diese Sprache spricht und ihren Adressat_innen mit dem nötigen Respekt für sie und ihre Lebenswelt und mit der unabdingbaren professionell-reflektierten Distanz gegenübertritt. Sie begegnet den Bedürfnissen ihrer Adressat_innen, welche aus spezifischen Mangelgefühlen entstehen, mit einem fundierten sexualitätsbezogenen Fachwissen auf biologischer, psychologischer und soziokultureller Ebene und trägt so zum Abbau von mangelbedingten Spannungszuständen (vgl. Thole et al. 2014: 36) bzw. zur Verbesserung der Lebens- und Liebensqualität bei.

Eine besondere Herausforderung für die Soziale Arbeit stellt die Digitalisierung als Phänomen unserer Zeit dar, wodurch Sozialarbeitende gefordert sind, sich die entsprechende Medienkompetenz anzueignen. Es mag Arbeitsfelder geben, in denen digitale Medienkompetenz nicht sehr wichtig erscheint, wie beispielsweise in der Arbeit mit alten Menschen. Aber auch hier gibt es die sogenannten silver surfers, die sich im World Wide Web bewegen – auch mit sexuellen Bedürfnissen im Hintergrund. Insbesondere mit Sexualitätsbezug sind Medienkompetenzen dahingehend wichtig, als dass das Internet eine unermesslich große Plattform für die Darstellung und Vermarktung von sexuellen Handlungen ist. Es hält für alle Interessensgruppen und Vorlieben die passenden Inhalte bereit. Pornographie ist für alle leicht und jederzeit zugänglich geworden, was in die sexuelle Bildung unbedingt miteinfließen muss (vgl. Stecklina 2013: 438f.). Damit es Sozialarbeitenden möglich ist dies zu thematisieren, soll eben auch die Medienkompetenz dahingehend erweitert und regelmäßig aktualisiert werden. Insbesondere im Arbeitsfeld Kinder und Jugendliche ist diese Kompetenz mittlerweile unverzichtbarer Bestandteil des Anforderungsprofils qualitativ hochwertiger Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Möller 2013: 503).

Die Herausforderung für die Soziale Arbeit besteht hier keinesfalls darin, den Konsum sexualitätsbezogener Inhalte ihrer Adressat_innen moralisch zu bewerten, abzusegnen oder zu verurteilen (solange nicht andere zu Schaden kommen oder illegale Inhalte konsumiert werden). Vielmehr hat Soziale Arbeit ihren Bildungsauftrag zu erfüllen, indem sie Darstellungen verzerrter, simplifizierter, entpersonalisierter Sexualität ins rechte Licht rückt. Es geht hier darum, in der Auseinandersetzung mit den Adressat_innen aufzuzeigen, dass mediale Darstellungen von Sexualität bestimmte Vorlieben bedienen und diese in extremer Weise darstellen müssen, da die sensorische Wahrnehmung am Bildschirm immer reduziert ist, da nur zwei von sechs Sinnen aktiviert werden (visuell, auditiv). Die olfaktorische, taktile und geschmackliche Perzeption wird nicht angeregt (vgl. Möller 2013: 480).

Sexuelle Bildung reflektiert hier die Umlegung pornographischer Inhalte auf das eigene Sexualleben, da ein Nacheifern unweigerlich zu Gefühlen von Frustration und Unzulänglichkeit führt. Das Pornobusiness ist eine Industrie, die menschliche Sexualität mit gecasteten Schauspieler_innen anhand überzogener, reizüberflutender Handlungen mit wenig Realitätsbezug darstellt. Pornographie an sich hat durchaus ihre Berechtigung, muss aber sehr kritisch betrachtet werden. Dem Wunsch nach ihrem Verbot, wie es Anti-Porno- oder Zensur-Positionen fordern, nachzukommen, wäre wohl realitätsfremd. Diese Kampagnen haben ihre Berechtigung, weil sie aufzeigen, dass Pornographie auch die Herabwürdigung und Erniedrigung von Frauen beinhaltet (Porno-Sparten wie beispielsweise FemPorn ausgenommen) und sogar gewaltverherrlichende Inhalte bietet (vgl. Döring 2013: 266ff.). Würde Pornographie allerdings verboten, entstünde ein kriminalisierter Schwarzmarkt mit noch schlechteren Bedingungen für Darsteller_innen und Konsument_innen. Vielmehr sollte Pornographie und ihre heute sehr leichte Zugänglichkeit als Teil der heutigen Lebensrealität anerkannt werden, denn nur dann kann sie auch bearbeitet werden.

Man darf (insbesondere erwachsenen) Menschen durchaus zutrauen, dass sie aus eigener Erfahrung wissen, dass Pornographie größtenteils Fiktion ist. Handelt es sich bei den betreffenden Adressat_innen um Kinder und Jugendliche, die sich in Entwicklung befinden, so muss darauf selbstverständlich adäquat reagiert werden. Nicht nur, weil der Konsum pornographischer Inhalte für Minderjährige nicht erlaubt und die Schaffung von Zugang zu solchen Inhalten strafbar ist, sondern auch, weil junge Menschen in dem Fall unbedingt begleitet werden müssen. Der Kontakt mit Pornographie bereits im sehr frühen Jugendalter ist heute eine Realität, für die die Soziale Arbeit gewappnet sein muss. Junge Menschen erhalten von der Sozialen Arbeit Unterstützung darin, nach der Konfrontation mit Pornographie gegebenenfalls verstörende Inhalte einordnen und verarbeiten zu können. Dabei eröffnen sich außerdem viele Themen der sexuellen Bildung wie sexuelle Gesundheit, Geschlechterrollen, Respekt und Achtung als tragende Säulen erfüllender Sexualität u.v.m. Altersinadäquate pornographische Inhalte bringen die Persönlichkeit in sich stabiler junger Menschen nicht zwingend ins Wanken, trotzdem ist eine Reflexion im Rahmen Sozialer Arbeit in vertraulichem Setting immer angebracht und entwicklungsfördernd. Instabile, in ihrer Entwicklung beeinträchtigte junge Menschen hingegen benötigen hier intensivere Unterstützung, um einer negativen Beeinflussung durch den Konsum nicht altersgerechter Sexualitätsdarstellungen entgegenzuwirken. Sexuelle Bildung stellt hier die Basis für eine adäquate Bewertung und Interpretation von Gesehenem dar. Gleichzeitig eröffnet sie die Chance, sexualitätsbezogene Situationen und eigene Erfahrungen benennen und verbalisieren zu können und sie in passendem Setting reflektieren zu dürfen. Soziale Arbeit begleitet ihre Adressat_innen dabei bestmöglich in ihrer Entwicklung, indem sie sexuelle Bildung lebensweltnahe zugänglich und verfügbar macht (vgl. OBDS 2005: 3f.).

Sei es das Schürfen nach positiven Lebensressourcen unterschiedlichster Adressat_innen in ebenso unterschiedlichen Lebenslagen und -welten, der Wunsch nach Respekt, Anerkennung und gegenseitiger Achtsamkeit jedes Menschen im Kleinen und die besondere Verpflichtung Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession gegenüber sexuellen Rechten im Großen – aus all diesen und vielen weiteren Gründen muss sich Soziale Arbeit den Prinzipien und Forderungen sexueller Bildung verpflichten. Es gehört zum Profil moderner Sozialer Arbeit, das Feld der sexuellen Bildung auch in das Studium einzuführen, sie in der Praxis in ihr Selbstverständnis einzubauen und für ihre Handlungsfelder jeweils weiterzuentwickeln. Soziale Arbeit darf eben auch „sexy“ sein!


Literatur

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Über die Autorin


DSA Tatjana Tschabrun, MA
tatjana.tschabrun@fhv.at

Lehrtätigkeit an der FH Vorarlberg (Handlungsfeld Gesundheit, BA). Freiberufliche Tätigkeit in der antirassistischen Jugendbildung, in der Sexualpädagogik mit Jugendlichen und in Sexueller Bildung für Jugendarbeiter_innen. Zwischen 2004 und 2015 in der niederschwelligen Sozialarbeit tätig: im Kontaktladen mit Drogenkonsumierenden, Streetwork und stationäre Betreuung randständiger und wohnungsloser Jugendlicher; u.a. Leitung der Einrichtungen a_way und reStart der Caritas Wien.