soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Nachbarschaft“ / Standort Vorarlberg
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/696/1282.pdf


Caroline Schmitt:

Inklusive Solidarität

Ethnografische Erkundungen im urbanen Raum


1. Einleitung

Der Begriff der Solidarität erlebt gegenwärtig eine Renaissance (vgl. Bude 2019). Im Jahr 2020 ist er im Zuge der Corona-Pandemie in aller Munde: Ob in der Parteienpolitik, wenn Politiker_innen in zahlreichen Ländern dazu aufrufen, sich durch physische Distanzhaltung solidarisch zu verhalten, oder in den Nachbarschaften, wenn sich Menschen beim Einkaufen unterstützen oder ihre Solidarität mit Einzelhändler_innen und Kulturschaffenden vor Ort durch Spendenaktionen zum Ausdruck bringen (vgl. Hill/Schmitt 2020). Zeitgleich zu diesen Wellen der Solidarität zeigen sich Begrenzungen darin, dass geflüchtete Menschen in Camps und Geflüchtetenunterkünften – wenn überhaupt – nur verzögert evakuiert werden und dem Virus unter beengten Lebensbedingungen ausgesetzt sind (vgl. GRITIM-UPF 2020: 5). Solidarität ist nicht selten nationalstaatlich verkürzt (vgl. Scherr 2020). Dem schillernden Begriff ist die Konstruktion eines Wir inhärent, einer Gruppe also, die sich zueinander solidarisch verhält und paradoxerweise mit der Konstruktion eines Nicht-Wir einhergeht, das aus der solidarischen Community ausgeklammert wird.

Abbildung 1
Abbildung 1: „Mir packen dat!“. Solidaritätsbekundung vor der Porta Nigra in Trier zur Zeit der Corona-Pandemie, März 2020. (Fotografin: Anna Kondziela)


Auch im langen Sommer der Migration im Jahr 2015 wurde offenkundig, dass sich solidarische Allianzen in einem Spannungsfeld bewegen und Solidaritätsappelle einerseits inkludierend sein können, andererseits aber auch zur Konstruktion von Grenzziehungsprozessen missbraucht werden. Dies etwa dann, wenn rechtsextreme Netzwerke im Wunsch nach nationalstaatlicher Abschottung und einer antizipierten Sorge vor ‚Überfremdung‘ als solidarisch bezeichnete Zusammenschlüsse formieren (vgl. Grumke 2012: 325). Diese Zusammenschlüsse lösen den Begriff der Solidarität aus seinem gerechtigkeitsorientierten Rahmen und konstruieren eine als homogen imaginierte Wir-Gruppe. Die Wir-Gruppe beruft sich auf Differenzkategorien wie Nationalität, Geschlecht oder Religion und spaltet sich von einem entworfenen Nicht-Wir, dem konstruierten Feindbild, ab. Solche Konstruktionen gehen mit gefährlichen Konsequenzen einher: Rechtsextreme Parteien erstarken gegenwärtig in zahlreichen Ländern und rassistische, antisemitische, antimuslimische und antifeministische Angriffe sowie Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte nehmen (nicht nur) in Deutschland zu (vgl. z.B. FG Migraas et al. 2020). Dem stellen sich weltoffene Allianzen vor allem in den Städten entgegen.

Städte gelten seit jeher als zukunftsweisende Räume progressiver Ideen und machen Menschen und Kollektive als „agents of change“ (Williams 2016: 4) sichtbar. Diese agents etablieren solidarische Allianzen und setzen sich für eine Teilhabe aller im urbanen Raum, aber auch auf dem Land ein (vgl. Augustín/Jørgensen 2019). Solidarische Allianzen entstehen in Form von Wohnprojekten, ökologischen und sozial verträglichen Wirtschaftsformen, zivilgesellschaftlichen Nachbarschaftsprojekten oder in migrantischen Selbstorganisationen (vgl. Al-Hussein 2020). Sie engagieren sich in den Quartieren, Regionen sowie in transurbanen und transregionalen Netzwerken und begeben sich auf die „Suche nach neuen Formen sozialer Vergemeinschaftung“ (Kaschuba 2017: 20). So orientiert sich etwa die Initiative Solidarity City: eine Stadt für alle (vgl. Solidarity City 2020: o.S.) an der Idee, urbane Teilhabe für alle – unabhängig von Pass, Aufenthaltsstatus, religiöser Zugehörigkeit, sexueller Identität oder Geschlecht – herzustellen. Im hiervon zu unterscheidenden Städtenetzwerk Solidarity Cities schließen sich Bürgermeister_innen mit dem Wunsch nach kosmopolitischen Umgangsweisen mit Fluchtmigration zusammen. In ihrer Selbstdeklaration beziehen sie sich ausdrücklich auf Solidarität als Wert menschlichen Zusammenlebens: „Solidarity Cities is open to all European cities wishing to work closely with each other and committed to solidarity in the field of refugee reception and integration“ (Solidarity Cities 2020: o.S.). Mitwirkende Städte sind u.a. Amsterdam, Barcelona, Berlin, Gaziantep, Leeds, Luzern, Ljubljana und Wien.

Der vorliegende Beitrag nimmt diese solidarischen Entwicklungen zum Ausgangspunkt, um solidarische Allianzen in der Stadt Trier zu erkunden. Vergleichsweise kleine und mittelgroße Städte wie Trier sind in der wissenschaftlichen Literatur zu solidarischen Stadtformationen bisher nur wenig im Blick. Es sind zumeist Metropolen wie Berlin oder New York City, die aus dieser Perspektive heraus beforscht und als urbane Experimentierfelder vielfach beachtet werden (vgl. Yıldız 2018: 167). Dabei finden sich auch in Städten wie in Trier mit seinen rund 110.000 Einwohner_innen (vgl. Statista 2020) urbane Entwicklungen mit gesamtgesellschaftlicher Tragweite. Trier wurde ca. im 16. Jahrhundert vor Chr. als Augusta Treverorum von den Römer_innen gegründet und gilt als älteste Stadt Deutschlands. Die Stadt ist einer der urbanen Knotenpunkte in der grenzüberschreitenden Großregion Saar-Lor-Lux (GRSLL): Diese Großregion (GR) zählt rund elf Millionen Einwohner_innen und erstreckt sich entlang der deutschen Bundesländer Rheinland-Pfalz und Saarland (Saar), der Region Lothringen in Frankreich (Lor), der belgischen Region Wallonien sowie des Landes Luxemburg (Lux) (vgl. Wille 2017: 4). Die Region zeichnet sich durch Mehrsprachigkeit aus (Deutsch, Französisch, Luxemburgisch, aber auch Portugiesisch und weitere Sprachen) und wird nicht selten als „Europa im Kleinen“ (ebd.) bezeichnet. Die geografische Nähe zwischen Trier und Luxemburg begünstigt Nationalgrenzen überschreitende Alltagspraxen (Besuche von kulturellen Veranstaltungen, Shopping, Kontaktpflege), aber auch berufliche Mobilität über die Landesgrenze hinweg. Etwa 30.000 Personen allein aus Deutschland arbeiten im nur rund 20 km entfernten Nachbarstaat (vgl. Schwalbach 2020: 459).

Der Beitrag taucht in diesen Raum ein und widmet sich Orten in Trier, an welchen ein inklusives Verständnis von Solidarität als Gegenentwurf zu gesellschaftlichen Spaltungstendenzen lebenspraktisch gestaltet wird. Er basiert auf einem Lehr-Forschungsprojekt der Autorin, das im Wintersemester 2019/2020 an der Universität Trier in der Abteilung Sozialpädagogik I gemeinsam mit Studierenden zum Thema „Orte der Solidarität“ umgesetzt wurde. Am Projekt beteiligten sich Studierende aus den Bachelorstudiengängen Erziehungswissenschaft (Sozial- und Organisationspädagogik) und Sozialwissenschaften sowie aus dem Masterstudiengang Erziehungswissenschaft (Organisation des Sozialen).1 Wir haben uns in diesen Seminarkontexten auf die Suche nach Orten begeben, an welchen solidarische Praktiken offenkundig wurden, haben uns die Materialität dieser Orte angeschaut, ihre Atmosphären gespürt, mit den Protagonist_innen gesprochen und diese Orte lesen- und kennengelernt.

Der vorliegende Beitrag bündelt die Ergebnisse. Er gibt zunächst Einblick in historische und theoretische Perspektiven auf den Solidaritätsbegriff (Kap. 2). Dem folgt ein Kapitel zur Bedeutung von Orten in urbanen Räumen und zum methodischen Vorgehen im Forschungsseminar (Kap. 3). Herzstück des Beitrags bildet das Ergebniskapitel (Kap. 4), in dem sich mit der Frage auseinandergesetzt wird, wo und wie Solidarität in der Stadt Trier sichtbar wird und wer die Gestalter_innen einer solchen Solidarität sind. Auf Basis der Ergebnisse wird das Konzept der inklusiven Solidarität entwickelt. Hiermit ist eine Solidarität gemeint, die nicht auf ausgrenzende Gruppenkonstruktionen reduziert ist und neue Bildungs- und Sozialisationsinstanzen in der Stadt entstehen lässt (Kap. 5). Der Beitrag argumentiert im Fazit, dass die untersuchten solidarischen Allianzen wegweisende Impulse auch für die Soziale Arbeit liefern, wichtige Kooperationspartnerinnen sein können und Zivilgesellschaft wie Soziale Arbeit gemeinsam in konvivialen Bündnissen solidarische Formen guten Zusammenlebens vorantreiben können (Kap. 6).


2. Solidarität. Ein schillernder Begriff

Der Begriff der Solidarität ist keineswegs eindeutig, sondern verweist auf unterschiedliche wissenschaftliche und politische Diskurslinien. Dallinger (2009: 12) differenziert zwischen einem gesellschaftstheoretischen Diskurs zu Solidarität und seiner spezifischen Begriffs-Historie. Im Römischen Reich umfasste die sogenannte Solidarobligation „die Haftungspflicht einer Gruppe für einzelne Mitglieder und das wechselseitige Einstehen der Gruppe für ihre Mitglieder“ (ebd.: 23). Erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts veränderte sich die Konnotation des Begriffs und Solidarität wurde in einen politischen Kontext transferiert. In der französischen Verfassung von 1848 wurde das Prinzip der Brüderlichkeit festgehalten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Solidarität zum Kampfbegriff der Arbeiter_innenbewegung (vgl. Bude 2019: 27). Karl Marx, der durch seine Geburt 1818 in der Stadt Trier mit dem Raum des Lehr-Forschungsprojekts eng verbunden ist, verstand Solidarität als revolutionär-marxistische sowie internationale Maxime: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ (Marx/Engels 2014: 84), so der Appell im gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Kommunistischen Manifest. Solidarität meinte in diesem Sinne das gemeinsame Einstehen der unterdrückten Arbeiter_innenklasse gegen die Produktionsmittel besitzende herrschende Klasse und kapitalistische Wirtschaftsordnung (vgl. Pühringer/Pühringer 2011: 8). Mit der Entstehung von Wohlfahrtsstaaten institutionalisierte sich das Prinzip der Solidarität in Ländern mit sozialstaatlichen Strukturen und löste sich vom Gedanken des Klassenkampfes, den es gar zu verhindern galt. Soziale Absicherung, z.B. durch Kranken- oder Arbeitslosenversicherung, geht primär für Staatsbürger_innen dieser Länder mit spezifischen Rechtsansprüchen einher und soll ein kollektives Wohlergehen absichern (vgl. Dallinger 2009: 26).

Die skizzierten Entwicklungslinien lassen sich um theoretische Reflexionen zum Solidaritätsbegriff erweitern. Eine verbreitete gesellschaftstheoretische Perspektive stammt von Emile Durkheim. Durkheim differenziert in seiner Studie Über soziale Arbeitsteilung von 1930 zwischen mechanischer und organischer Solidarität. Mit mechanischer Solidarität meint er ein Band zwischen Menschen in wenig arbeitsteiligen Communities, das durch kollektive Identitäten, lokale Verwobenheiten und Gemeinsamkeiten wie Religionszugehörigkeit zusammengehalten wird.2 Organische Solidarität bezeichnet hingegen die gegenseitige Angewiesenheit von Menschen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, deren Zusammenhalt sich durch eine gemeinsame Ausrichtung auf spezifische Interessen festigt (vgl. Durkheim 2019: 229–237). Kurt Bayertz (1998) macht darauf aufmerksam, dass solidarische Bündnisse in einem gesellschaftlichen Kräfteverhältnis angesiedelt sind. Er versteht Solidarität als Konzept mit positiver und negativer Referenz. Während sich eine Gruppe von Menschen auf Basis geteilter Interessen formiert, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, organisiert sie sich im Widerstreit zu hiervon differenten Positionen. Gegenwärtige Arbeiten stellen heraus, dass solidarische Allianzen in ihren globalen Verwobenheiten noch stärker als bisher in den Blick zu nehmen sind. Sie sensibilisieren für Potenziale, aber auch Begrenzungen von Solidarität im Zusammenspiel mit citizenship (vgl. Schwiertz/Schwenken 2020).

Diesem Beitrag liegt ein Verständnis von Solidarität nicht nur als theoretische Perspektive, sondern als gelebte Praxis zu Grunde. Solidarität wird als Verbindung von Menschen mit gemeinsamem Ziel und gemeinsamer Vision verstanden, welche aus der unmittelbar oder mittelbar geteilten Erfahrung von Unterdrückung und Suche nach gerechten Formen des Zusammenlebens erwächst (vgl. Scherr 2019). Orientiert an einem solchen Solidaritätsbegriff begibt sich der Beitrag auf die Suche nach Orten der Solidarität in der Stadt.


3. Methodisches Vorgehen. Orte in Trier erzählen Geschichten

Orte sind potenziell bedeutungsschwere Knoten. Sie „erzählen eine Geschichte“ (Ipsen 2002: 234) und sind eine verdichtete Einheit eines größer zu denkenden und sozial hergestellten Raums (vgl. Schroer/Wilde 2010: 182). Daran anschließend werden Orte im Folgenden nicht als etwas Gegenständliches verstanden, was ‚einfach da ist‘, sondern – in Anlehnung an relationale Raumtheorien – als soziales Produkt und Bedingung sozialen Handelns gleichermaßen (vgl. Löw/Sturm 2019: 16). Orte sind spezifische „(An)Ordnungen“ (ebd.: 15) von Objekten, Menschen, Geschichten und Kultur. Sie zeichnen sich durch je eigene Platzierungen von Gegenständen und Menschen in sozial hergestellten Räumen aus und sind mit sozialen Umwelten in einer spezifischen Art und Weise verbunden. Ihre Atmosphären lassen sich durch Ortsbegehungen erspüren (vgl. Schmitz 2016).

Im Zuge des Lehr-Forschungsprojekts wurden Orte aufgesucht, welche aus Sicht der Seminarteilnehmenden mit der Idee von Solidarität verknüpft sind. Hierbei leiteten die eigenen biografischen Erfahrungen, Erinnerungen und subjektiven Alltagswelten den Blick und führten zu Erkundungen ganz unterschiedlicher Orte. Die Vorgehensweise orientierte sich an der Methode der Stadtteilbegehung nach Deinet und Krisch (2009). Bei dieser Methode handelt es sich um ein Beobachtungsverfahren, das ein offenes Sich-Einlassen auf die Stadt voraussetzt. Die Teilnehmenden halten ihre Eindrücke fest und nehmen die Qualitäten von Orten wahr (vgl. ebd.: o.S.). Ziel ist, „Atmosphären, Orte und Räume auf sich wirken zu lassen, die Interaktion von Menschen zu beobachten und zu entsprechenden Rückschlüssen zu kommen“ (ebd.). Deinet und Krisch stellen das Potenzial von Stadteilbegehungen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit heraus, welche durch dieses Vorgehen die sozialökologischen Besonderheiten im Raum ihres professionellen Agierens kennenlernen. Im hiesigen Fall ging es darum, explorativ auf Spurensuche in Trier zu gehen, die Stadt aus einer solidarischen Suchbewegung heraus zu lesen und sich dafür zu sensibilisieren, wie Menschen kreative Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen entwickeln. Die Studierenden waren angehalten, eine ethnografische Haltung einzunehmen und die Stadt durch den Austausch mit den Protagonist_innen ausgewählter Orte neu zu entdecken. Sie hielten ihre Beobachtungen in Protokollform fest, machten Fotos, dokumentierten Gespräche, führten Interviews und reflektierten ihre unterschiedlichen und/oder ähnlichen Wahrnehmungen der Orte in der Forschungsgruppe. Während der Erkundungen fanden begleitende Seminarsitzungen statt, um methodische Fragen sowie Eindrücke der Felderfahrung zu besprechen. Im Bachelorseminar mündeten die Erkundungen in eine Präsentation der Ergebnisse auf einem Poster-Markt. Im Masterseminar verschriftlichten die Studierenden ihre Ergebnisse in Form von Gruppenhausarbeiten. Das Forschungsprojekt endete mit einer gemeinsamen Reflexion zum gesamten Prozess. Die Ergebnisse der Forschung sind in diesem Beitrag unter Einbezug von wissenschaftlicher Literatur und weiterführenden Überlegungen gebündelt.


4. Ergebnisse. Orte inklusiver Solidarität in der Stadt

Mit allen Sinnen haben wir uns in kleinen Forschungsteams auf den Weg gemacht. Wir haben Orte gemeinschaftlichen Wohnens, gastronomische Orte des Verweilens, Orte des Austauschs und Orte des Konsums aufgesucht. Sie alle bearbeiten und ermöglichen verschiedene „Raumbedürfnisse“ (Heimgartner 2012: 49) und können bei all ihrer Vielfalt doch unter einer zentralen Perspektive gelesen werden – dem Bedürfnis nach Solidarität. Im Folgenden werden fünf dieser Orte vorgestellt.


4.1 Solidarität baulich ermöglichen

An einem der aufgesuchten Orte, dem Trierer Schammatdorf, war besonders offenkundig, dass Architektur und solidarisches Handeln einander bedingen. Dieses Zusammenspiel wird von den Akteur_innen des Orts reflektiert. Das Schammatdorf ist ein seit 1984 bestehendes gemeinschaftliches Wohnprojekt, ein eingetragener Verein und „Ort der Vielfalt“ (Interview mit einem der Initiator_innen, Zeile 74). Die Projektgruppe erhielt in einer Ortsbegehung mit dem Vereinsvorsitzenden einen Einblick dahingehend, wie eine inklusive Ortsgestaltung und ein solidarisches Zusammenleben im Schammatdorf einander bedingen. Verteilt auf mehrere Höfe bilden barrierefreie und barrierearme Wohnungen gemeinsam mit Gemeinschaftsräumen das Dorf. Kiosk, Grillhütte, Gemeinschaftsküche, ein großer Saal und das „Kneipchen“ (Interview mit einem der Initiator_innen, Zeile 364) wurden ganz bewusst als Begegnungsorte angelegt. Hier laufen die alltäglichen Wege der Bewohner_innen zusammen. Der Vereinsvorsitzende beschreibt das Konzept des Schammatdorfs als „Förderung einer solidarisch gelebten Nachbarschaft“ (Interview mit einem der Initiator_innen, Zeile 1094) unter dem Motto „nebeneinander wohnen, miteinander leben, füreinander da sein“ (Interview mit einem der Initiator_innen, Zeile 273). In den Nachbarschaften wird ein unmittelbarer Kontakt gepflegt, Menschen unterschiedlichen Alters, Menschen mit differenten physischen, psychischen und sozialen Bedürfnissen und Fähigkeiten sowie Menschen mit wenigen und umfassenderen finanziellen Mitteln leben hier zusammen. Verbindendes Element ist die gemeinsame Vision solidarischen Wohnens und gegenseitiger Unterstützung in der Nachbarschaft. Die Ermöglichung von Inklusion ist dabei zentrales Anliegen: „[E]ine ganz bewusste Bejahung des Miteinanders von Menschen mit Handicap […], was Inklusion angeht. Und das ist sowohl in den Köpfen als auch in der Baustruktur wiederzufinden“ (Interview, Zeile 93‒96). Baustruktur und Vorstellungen guten Zusammenlebens verschmelzen im Schammatdorf zu einem inklusiven Lebensentwurf und haben eine teils seit Jahrzehnten zusammenlebende Community entstehen lassen. Viele der Bewohner_innen wollen von dort nicht mehr weg, sodass Wohnraum für neu Interessierte nur begrenzt verfügbar ist und das Schammatdorf vor neuen Herausforderungen steht: Die Bewohner_innen müssen sich der Frage stellen, wie eine intergenerationale Durchmischung weiter aufrechterhalten und das Wohn- und Lebenskonzept an jüngere Generationen weitervermittelt werden kann.

Abbildung 2
Abbildung 2: Schammatdorf Trier, Dezember 2019. (Fotografin: Hanna Nitsche)


4.2 Erfahrungen austauschen, Gefühle teilen

Ein weiterer Ort der Erkundungen ist das Queer-Café. Das Forschenden-Team wurde sehr herzlich zum Besuch eingeladen: „Kommt rein, kommt rein“ (Auszug aus dem Bericht des Forschungsteams). Die Studierenden erkundeten den Ort, kamen in Kontakt mit den Cafébesucher_innen und initiierten ein Gruppengespräch. Im Zuge des Austauschs lernten sie die Bedeutung des Queer-Cafés für seine Gäste kennen und identifizierten einen Schlüsselbegriff: den des safe space. Die Cafébesucher_innen machten den Studierenden verständlich, was ein safe space für sie bedeutet: „Das Café ist ein Ort, an dem alle das gleiche fühlen“ (Auszug aus der Ergebnispräsentation des Forschungsteams). Das Teilen von Gefühlen, sich nicht in der Binarität von Mann und Frau verorten zu müssen, zu können und zu wollen, schafft eine Atmosphäre der Zugehörigkeit. Im Café sind alle Menschen willkommen, dabei ist es insbesondere jenen Menschen eine Anlaufstelle, die sich als Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Intersex oder Queer (LGBTIQ*) identifizieren und über ihre Erfahrungen in einer heteronormativen Dominanzgesellschaft sprechen wollen. Eine Verbundenheit der Cafébesucher_innen kann dabei nicht vorausgesetzt werden. So berichtete eine Besucherin dem Forschenden-Team: „[I]ch wusste zuerst gar nicht, ob ich hier reinkommen kann.“ (Auszug aus der Ergebnispräsentation des Forschungsteams) Dann aber sei ‚das Eis gebrochen‘ und der Ort wurde von der Besucherin angeeignet. Verbundenheit und Zugehörigkeit, so zeigt sich an diesen Schilderungen, entstehen in Momenten des Teilens von Gefühlen und im Erkennen der eigenen Erfahrungen im Gegenüber – ein Prozess, wie ihn Bude (2019: 55) als wesentlichen Grundpfeiler von Solidarität herausstellt: „Solidarität sagt […], dass […] Bindung und der gemeinsam erlebte Schmerz die Grundlage einer gelebten Nähe darstellen, die das Ich nicht mit sich allein lässt“. Gemeinsame Schmerz-, aber auch freudvolle Erfahrungen sind dabei entscheidend für den Zusammenhalt. Ausgehend vom Café kann so eine „emotional community“ (Baquero 2018: 415) entstehen, die durch Solidarität verbunden ist.

Eine solche Community zeigt sich auch im Internationalen Zentrum (iZ) der Universität Trier. Das Zentrum beschreibt sich selbst als Anlaufstelle „[v]on Studierenden für Studierende“ (Internationales Zentrum 2020: o.S.) und will Studierende unabhängig von ihrer Herkunft und Nationalität zusammenbringen und Austausch im Universitätsalltag fördern. Eines der Forscher_innen-Teams hat das iZ aufgesucht und mit Besucher_innen gesprochen. Dabei stellte sich heraus, dass das Zentrum für eine Studentin aus dem Iran als zentraler Ort in der Stadt fungiert: „[T]he most comfortable place for me.“ (Auszug aus dem Interview) Das Zentrum ermöglicht ein Gefühl des Zuhause-Seins und schafft eine Atmosphäre von Heimat, die über den konkreten Ort des Zentrums hinausreicht: „Heimat ist kein physischer Ort, sondern ein Gefühl.“ (Auszug aus dem Präsentationsplakat) Begegnungsorte wie das Internationale Zentrum sind Knotenpunkte, an denen sich eine kosmopolitische Verbundenheit zwischen Menschen aufbauen kann – und dies unabhängig von ihrer Herkunft oder der Dauer des Aufenthalts in der Stadt.


4.3 Solidarität durch Konsum auf Augenhöhe

Auf den ersten Blick mag überraschen, dass im Folgenden zwei Orte des Konsums in ihrer solidarischen Verfasstheit vorgestellt werden. Im ersten Fall handelt es sich um einen Umsonst-Laden, im zweiten Fall um ein Schuhgeschäft.

Im Umsonstladen Trier wird auf ehrenamtlicher Basis ein Konzept umgesetzt, das sich als Alternative zur kapitalistischen Konsumwelt versteht: „[W]er etwas hat, was er nicht mehr braucht, gibt es im Laden ab. Und wer etwas braucht, was er nicht hat, nimmt es mit.“ (Umsonstladen Trier 2020) Kund_innen können pro Tag eine begrenzte Anzahl an Dingen mitnehmen. Wer über Gegenstände wie Kleidung oder Haushaltswaren verfügt, die nicht mehr benötigt werden, kann diese im Laden abgeben. Im Konzept verschränken sich soziale und ökologische Anliegen. Konsum soll allen Menschen möglich sein, noch brauchbare Waren nicht achtlos weggeworfen werden. Im Gespräch mit einer der Engagierten erfahren die Studierenden von den Werten hinter dem Ansatz: Anliegen ist, mit dem Geschäft einen „Platz für alle Menschen“ (Auszug aus dem Ergebnisplakat des Forschungsteams) zu schaffen und allen Menschen gleich zu begegnen – unabhängig davon, in welcher Lebenslage sie sich befinden, ob sie gerade auf Arbeits- oder Wohnungssuche sind oder Fluchterfahrungen gemacht haben. Solidarität ist dabei mit dem Motiv der „Nächstenliebe“ und dem „christlichen Hintergrund“ (Auszug aus dem Ergebnisplakat des Forschungsteams) der Betreibenden verknüpft.

Auch Orte, die sich konzeptuell weniger offensichtlich einem solidarischen Miteinander verschrieben haben, wurden im Rahmen des Lehr-Forschungsprojekts unter die Lupe genommen. So explorierte eine Studierendengruppe einen Schuhladen in einer mehrheimischen Einkaufspassage. Mit mehrheimisch sind Betriebe gemeint, die von Unternehmer_innen mit internationalen Biografien gegründet wurden. Nicht selten tragen sie durch ihr unternehmerisches Handeln zu einer Attraktivitätssteigerung peripherer und marginalisierter Stadtvierteil und zur (Wieder-)Belebung urbaner Kultur bei (vgl. Hill/Yıldız 2020: 449). Die Studierenden hielten im Zuge ihrer Erkundung fest: Diese

„Passage ist für uns ein besonderer und spannender Ort, da er aufgrund seiner sozial-räumlichen Orientierung ein Treffpunkt verschiedener Nationalitäten ist. Hierbei fällt der Schuhladen zwischen den Afro-Shops, Internetcafés, dem Sitz einer christlichen Gemeinde, eines griechischen Restaurants, Reisebüros und internationalen Banken aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes und persönlichen Bezuges zum Besitzer besonders auf“. (Auszug aus dem Ergebnisplakat des Forschungsteams)

Dass mit mehrheimischen Betrieben ein gesellschaftliches Solidarisierungspotenzial einhergehen kann, ist ein wissenschaftlich noch weiter zu untersuchender Punkt, den die Studierenden nach den Ortserkundungen hervorgehoben haben. Im besuchten Schuhgeschäft stapeln sich Schuhe bis an die Decke, aus den Boxen dröhnt Musik, durch den Verlaufsladen führt ein schmaler Gang. Der Betreiber sitzt auf einem Hocker und adressiert die eintretende Kundschaft.

Abbildung 3
Abbildung 3: Schuhgeschäft Trier, Dezember 2019. (Fotografin: Vivienne Wendels)

Während eine Teilnehmerin der Forscher_innen-Gruppe von einer für sie neuen und überwältigenden Erfahrung berichtet („Für mich war das eine neue und ungewohnte Situation. Das war eine Reizüberflutung“), erzählt ein anderer Teilnehmer von seiner Vertrautheit mit dem Ort: „Für mich war das nicht fremd. Weil ich das Geschäft schon kannte. Als ich noch in der Einrichtung [CS: eine Geflüchtetenunterkunft] war, hab’ ich mich gefragt: Wo kann ich billig einkaufen? Von daher war ich schon mal in dem Schuhladen.“ (Auszüge aus dem Protokoll zur Abschlusssitzung der Veranstaltung vom 24.01.2020) Im Schuhgeschäft spielt das Verhandeln eine große Rolle. Für die Schuhe bezahlt die Kundschaft den Betrag, der ihnen möglich ist: „Keiner geht raus ohne Schuhe. Wenn ich sage: ich habe nur zehn Euro, ich kann so und so viel ausgeben, dann heißt es: Komm, nimm' mit. Ohne Schuhe geht keiner raus. Der Preis wird verhandelt.“ (Auszug aus dem Protokoll zur Abschlusssitzung der Veranstaltung vom 24.01.2020)

Die beiden Orte des Konsums verdeutlichen, dass sich der Umsonstladen einem karitativen Konzept verschreibt; im Schuhladen zeigt sich Solidarität hingegen bei der Aushandlung des zu zahlenden Preises. Solidarität bedeutet, Konsum für alle zu ermöglichen, indem der Preis für ein paar Schuhe individuell so definiert wird, dass die Schuhe für die jeweilige Kundschaft erschwinglich sind. Die Praktik des Aushandelns berücksichtigt die spezifische Lebenssituation der Kund_innen, ohne die Käufer_innen in der Rolle von Bittstellenden zu positionieren, wenn sie für ein paar Schuhe nur einen kleinen Betrag zahlen können. Die Aushandlung ist – so die These der Forschenden-Gruppe und Autorin – Ausdruck ökonomischen Treibens und solidarischen Miteinanders gleichermaßen. Die Studierenden fassten das Verhandeln in ihrer Ergebnispräsentation als transkulturelle Geschäftspraktik und als in Deutschland eher untypische Verkaufsstrategie. Diese transkulturelle Praktik wurde als solche überhaupt erst durch die biografischen Erfahrungen einer der Teilnehmenden aus der Studierendengruppe erkennbar: Dieser kannte die Strategie des Verhandelns aus eigener Erfahrung, weil er selbst einmal im Schuhladen eingekauft hat. Dieses Beispiel zeigt, wie different wir je nach unserer gesellschaftlichen Positioniertheit die aufgezeigten Orte lesen und verstehen können.


5. Orte inklusiver Solidarität als Bildungs- und Sozialisationsinstanz

Die spezifischen Felderfahrungen wurden im Zuge des Lehr-Forschungsprojekts gemeinsam reflektiert. Dabei wurde eines augenscheinlich: Solidarität wird an den aufgezeigten Orten auf verschiedene Arten sichtbar und materialisiert sich in den Gemeinschaftsräumen im Schammatdorf oder den Schuhen im Schuhladen. An allen Orten geht es um ein kreatives Bearbeiten gesellschaftlicher Ungleichheitslinien. Im Fall des Schammatdorfs werden solidarische Formen des Zusammenlebens bereits seit Jahrzehnten umgesetzt. Das Dorf richtet seinen Blick auf eine inklusive Raumgestaltung. Es reflektiert Menschen in ihrem Bedürfnis nach Unterstützung sowie in ihren Handlungsfähigkeiten, Community gemeinsam herzustellen. Solidarität versteht sich dabei als Wert, der von den Bewohner_innen geteilt wird und die Bewohner_innen in all ihrer Unterschiedlichkeit miteinander verbindet. Der Wert der Solidarität und die Entstehung einer inklusiven Community sind hierbei eng verwoben. Solidarische Wohnformen wie das Schammatdorf schaffen inklusive Orte und sind gegen einen ausgrenzenden Wohnungsmarkt, die Gentrifizierung von Stadtteilen und Vereinsamung von Menschen, etwa im Alter, positioniert. Das Dorf stellt eine Alternative bereit, die sich aus der Anteilnahme aller am Leben der jeweils anderen und einer damit einhergehenden Teilhabeorientierung speist.

Doch nicht ausschließlich das Wohnprojekt, auch das Queer-Café, das internationale Begegnungszentrum und der Umsonst- sowie Schuhladen sind Beispiele dafür, wie Menschen an ganz konkreten Orten über potenziell ausgrenzende Kategorisierungen wie sexuelle Identität, Nationalität oder soziale Herkunft hinweg solidarische Allianzen bilden, sich einander verbunden fühlen, Inklusion herstellen und die Konstruktion exklusiver „Binnengruppen“ (Bierhoff 2013: 166) gerade überwinden wollen. Sie schaffen neue Identitäten in der Stadt und brechen eine „dualistische Trennung zwischen Einheimischen und Fremden“ (Yıldız 2018: 160) oder wohlhabenden und armen Kund_innen auf. Diese Prozesse lassen sich mit dem Begriff der inklusiven Solidarität fassen.

Der Begriff der inklusiven Solidarität fußt auf einem spezifischen Verständnis von Inklusion als gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen – und dies ganz ungeachtet etwa ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft oder Fähigkeiten und Bedürfnisse (vgl. Katzenbach/Schröder 2007: o.S.). Inklusive Solidarität lässt sich als kosmopolitische Solidarität verstehen und umfasst ein entschiedenes Auftreten gegen Marginalisierung und Diskriminierung etwa queerer oder mehrheimischer Identitäten in einer transnationalisierten und pluralen Gesellschaft. Es ist das Strukturmerkmal inklusiver Solidarität, das allen der hier dargestellten Orte gemein ist. Als urbane Bottom-up-Strategie ist sie eine Antwort auf gesellschaftliche Ausgrenzungs- und Spaltungstendenzen und entspringt der Vorstellung einer sozial gerechten Welt für alle.


6. Fazit

Der Beitrag hat auf Basis der Ergebnisse eines Lehr-Forschungsprojekts solidarische Allianzen in der Stadt Trier untersucht. Die Ergebnisse sind im Konzept der inklusiven Solidarität verdichtet. Die im Rahmen der Ergebnispräsentation sichtbar gewordenen Gestalter_innen inklusiver Solidarität sind Impulsgeber_innen auch für die Soziale Arbeit in ihrer Suche danach, wie Inklusion umzusetzen ist. Mit ihrem Handeln bringen sie informelle Bildungs- und Aneignungsprozesse zum Ausdruck (vgl. Sting 2018: 406‒407) und lenken den Blick auf sich lokal entfaltende Praktiken der Inklusion, welche in ihrer Wirkmacht über die konkreten Orte hinausreichen können.

Die untersuchten Orte liefern mit ihren Protagonist_innen Antwortmöglichkeiten auf die Frage, in welcher Welt wir eigentlich leben wollen, und bieten Orientierungen für ein inklusives Zusammensein unter Bedingungen von Pluralität und Transnationalisierung an. Von der Sozialen Arbeit und Bildungs- sowie Sozialisationsforschung sind diese „Kulturen des Sozialen“ (Kessl/Maurer 2019: 171) wahrzunehmen und anzuerkennen – in Deutschland, Österreich sowie länderübergreifend. Denn sie machen agents mit hohem Inklusionspotenzial sichtbar, die auf ihre Umwelt Einfluss nehmen, in die Stadt hineinwirken, kollektiv Verantwortung in der produktiven Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheitsprozessen übernehmen und Community stiftende statt ausgrenzende Formen des Zusammenlebens – der Verbindung des Ichs mit der Welt – vorleben. Diese inklusiven Solidaritäten sind zur Herstellung von sozialer Kohäsion in einer „Weltrisikogesellschaft“ (Beck 2017) von höchster Relevanz und wegweisend: Sie liefern wichtige Ansatzpunkte dafür, wie Veränderungen hin zu einer inklusiven und solidarischen Gesellschaft ganz konkret gestaltet werden können.

Der Beitrag plädiert für eine Öffnung der Sozialen Arbeit hin zu solchen solidarischen Engagement-Formen. Zivilgesellschaftliche Allianzen können für die Soziale Arbeit Inspiration sein, sie sind aber auch potenzielle Kooperationspartnerinnen (Furman/Negi/Schatz/Jones 2008), die wertvolles Wissen in einen Austausch auf Augenhöhe einbringen können. Der Sozialen Arbeit bietet sich hierdurch die Möglichkeit, konviviale Bündnisse aus der gemeinsamen Zielperspektive eines guten Lebens für alle Menschen (und, noch weiter gedacht, für alle Tiere und Lebewesen) zu initiieren. Mit dem Begriff konvivial werden bejahende Praxen des Zusammenlebens und -seins beschrieben, eine gemeinsame Sozialität, „die in die herrschende gesellschaftliche Normalität intervenieren“ (Römhild, 2018: 66) und „Gegendiskurse“ (Gruber 2017: 51) zu Neoliberalismus und (Post-)Kolonialismus darstellen. In wissenschaftlichen Arbeiten wird Konvivialismus zudem als „Analysewerkzeug“ (Meyer 2018: 260) verwendet, „um sich tiefergreifend mit der Condition humaine und verschiedenen Vorstellungen des Miteinanders in migrationsgeprägten Gesellschaften auseinanderzusetzen“ (ebd.). Im Unterschied zu einer Marginalisierung, Separierung und Abschottung geflüchteter Menschen wird aus dieser Perspektive ein gänzlich anderer Fokus gesetzt: gesamtgesellschaftliche Fragen nach inklusiven Lebensweisen im Zusammenspiel von Mensch, Umwelt, Technik, Politik, Zivilgesellschaft, Kunst und Wissenschaft stehen im Zentrum.

Inklusive Solidarität durch die Initiierung und Unterstützung konvivialer Bündnisse zu fördern, liefert der Sozialen Arbeit neue Ansatzpunkte, um von der Kritik an Exklusionsmechanismen zu neuen Visionen auch für die Profession und Disziplin zu gelangen.


Verweise
1 Mein herzlicher Dank gebührt den Gestalter_innen solidarischer Orte in Trier, deren Türen für die Forschungsteams offenstanden, allen Studierenden, die mit großem Engagement am Lehr-Forschungsprojekt teilgenommen haben sowie Anna Kondziela, Hanna Nitzsche und Vivienne Wendels für die Bereitstellung der Fotografien für diesen Beitrag. Die beiden Seminare in den Bachelorstudiengängen wurden an ausgewählten Terminen gemeinsam von Dr. Anett Schmitz (Ethnologie, Universität Trier) und der Autorin als interdisziplinäres Co-Teaching-Format konzipiert, sodass Studierende aus der Erziehungswissenschaft (Sozial- und Organisationspädagogik) und den Sozialwissenschaften (Ethnologie) in einen Austausch kamen. Neben dem Thema der Solidarität wurden auch Fragen nach Diversität und Kultur interdisziplinär bearbeitet. Für diese bereichernde Erfahrung danke ich Anett Schmitz sehr herzlich.
In die Erforschung der im Beitrag benannten Orte waren involviert (in alphabetischer Reihenfolge): Justin Ackermann, Isabel Althen, Janina Bermes, Eva Finkler, Hangyu Guo, Mirjam Hubertus, Elisa Jacobs, Celine Kawohl, Jennifer Leder, Stella Lexen, Hanna Nitsche, Michelle Pusen, Linda Schmidt, Jasmin Stamm, Katharina Stemmer, Shekho Usso, Vivienne Wendels und Sarah Wünsch.
2 Durkheim nutzt die Bezeichnung „mechanische Solidarität“ (Durkheim 2019: 229) zur Charakterisierung „niederer Gesellschaften“ (ebd.). An dieser Stelle wird deutlich, wie verschiedene Formen von Solidarität spezifischen Personen zugeschrieben werden – etwa den „Indianern Nordamerikas“ (ebd.). Diese Zuschreibungen gehen mit Gruppenkonstruktionen und Hierarchisierungen einher und bedürfen einer kritisch-reflektierten Analyse. So hält Roskmann (2011: 31) fest, dass Durkheims Ausführungen in Teilen „deutlich diskriminierend“ sind, dies auch dann, „wenn man den Zeitpunkt einbezieht, zu dem Durkheims Werk entstanden ist“ (ebd.).


Literatur

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Über die Autorin

Caroline Schmitt, Dr. phil. Dipl. Päd.
schmitt_caroline@gmx.de

Caroline Schmitt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit den Arbeitsschwerpunkten Flucht*Migration, Inklusion und Diversität sowie trans- und internationale Soziale Arbeit.

Kontakt: https://www.researchgate.net/profile/Caroline_Schmitt2