soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 24 (2020) / Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“ / Standort Wien
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/view/697/1246.pdf


Marc Diebäcker, Katrin Hierzer, Doris Stephan & Thomas Valina:

Akutunterbringung und -versorgung in der Wohnungslosenhilfe

Einblicke in den internationalen Forschungsstand


1. Einleitung und methodisches Vorgehen

Durch die Auseinandersetzung mit dem relativ neuen Angebot der Chancenhäuser der Wiener Wohnungslosenhilfe, war es unsere Intention durch eine umfassende Recherche herauszufinden, ob es ähnliche Angebote der Akutunterbringung und -versorgung gibt und wie diese begründet und aufgebaut sind, um so einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand geben zu können. Aufgrund des begrenzten deutschsprachigen Fachdiskurses zur temporären Akutversorgung von wohnungs- und obdachlosen Menschen geben wir mit unserem Research Review vor allem einen Überblick zum englischsprachigen Forschungsdiskurs in diesem Feld. Im Sinne unseres Forschungsinteresses an Studien zu niederschwelligen Angeboten, die Wohnplatzversorgung mit fachlicher Beratung, Betreuung und Begleitung kombinieren,1 war die Recherche von der Frage angeleitet, welche Forschungsbeiträge im Feld der Unterbringung und Akutversorgung von wohnungslosen Menschen zwischen 2010 und 2019 in englischsprachigen Fachjournals erschienen sind.

In thematischer Hinsicht ging es uns darum, relevante Forschungsstudien zu Zielgruppen und ihren Bedarfslagen, zur Unterbringungsqualität sowie zur fachlichen Praxis in diesen Einrichtungen ausfindig zu machen und einen Überblick zu diesen zentralen Diskurslinien zu bieten. In methodischer Hinsicht grenzten wir die Recherche auf Beiträge in Fachzeitschriften ein, um einen Einblick in die aktuelle Forschungsdebatte zu bekommen. Als geeignete Suchmaschinen hierfür erwiesen sich base (Bielefeld Academic Search Engine), der Karlsruher virtuelle Katalog, Gesis (Leibniz Institut für Sozialwissenschaften), Science Direct, Jstor (Journal Storage), Taylor & Francis, Oxford Academic sowie Social Care Online.2 Insgesamt wurden in einem ersten Schritt 4060 Treffer (inkl. Mehrfachnennungen) erzielt, auf Basis der qualitativen Analyse der jeweiligen Abstracts wählten wir 369 Fachbeiträge aus, die für die Fragestellung sind. Ausgehend von diesen Artikeln wurden, teilweise auch bezugnehmend auf facheinschlägige Housing-Plattformen (FEANTSA, Canadian Homeless Hub, Housing Solutions Plattform), einige zusätzliche Forschungsbeiträge sowie relevante Policy Papers identifiziert und der Publikationszeitraum fallweise über 2010 hinaus ausgeweitet. Im Rahmen der inhaltlich-analytischen Auseinandersetzung erwiesen sich 50 Beiträge als relevant. Unter diesen sind 41 empirische Forschungsbeiträge, von denen 20 einen qualitativen, 18 einen quantitativen und drei einen methodisch-kombinierten Zugang verfolgen. Die neun nicht-empirisch ausgerichteten Beiträge sind Überblicksartikel oder Policy-Paper.

Viele Forschungsbeiträge beziehen sich auf Nutzer*innengruppen, deren spezifische Problemlagen und Bedarfe. Strukturelle Bedingungen von Einrichtungen, die lokalen Hilfesysteme mit ihren Schnittstellen oder wohlfahrtsstaatliche Rahmenbedingungen werden nur selten behandelt. Insofern können im Rahmen unserer Analyse auch keine vergleichenden Perspektiven geliefert werden. Das bedeutete für die Detailanalyse, dass sich eine themenzentrierte Auswertung anbot, bei der Aspekte der einzelnen Studien entlang von Forschungsfragen geclustert werden. Unsere Auswertungsergebnisse, die wir in diesem Beitrag vorstellen, gliedern sich entlang der gewählten Schwerpunkte: Spannungsfelder der Zielgruppenorientierung (Kap. 2), Unterbringungsqualität (Kap. 3) und fachliches Arbeiten (Kap. 4).


2. Zielgruppengruppenorientierung als Spannungsfeld

In einem Teil der untersuchten Forschungsbeiträge werden Bedarfslagen von Nutzer*innen beforscht und Bedarfslücken thematisiert. Aufgrund zielgruppenspezifischer Krisen, Bewältigungsstrategien und Ausschließungserfahrungen werden bestimmte Nutzer*innengruppen (z.B. junge Erwachsene, Frauen, LGBTIQ+ Personen, Familien, Personen mit Suchterkrankungen oder ältere Menschen) in den Beiträgen als besonders vulnerabel reflektiert, was in Folge zu einer häufig zielgruppenorientierten Angebotslandschaft führt. Zwar entstehen durch die Zielgruppenorientierung spezifische Unterstützungsangebote, zugleich sind mit dieser Spezialisierung häufig Zugangskriterien verbunden, die für andere Betroffene Barrieren darstellen und dadurch deren Ausschließung bedeuten können (vgl. Busch-Geertsma/Sahlin 2007: 73; siehe z.B. auch Abramovich 2016). Dabei steht für uns außer Frage, dass zielgruppenspezifische, niederschwellige Angebote häufig auf besondere individuelle Bedarfslagen und belastende Lebenssituationen von Nutzer*innen abgestimmt sind.

Die Zielgruppendiskussion in der niederschwelligen Wohnversorgung ist komplex, richten sich die Angebote doch in der Regel an Menschen mit unterschiedlichen biographischen Verläufen und vielfältigen Lebensführungen. In normativer Hinsicht sind die Einrichtungen daher meist als offenes, freiwilliges und akzeptierendes Angebot für akut von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen konzipiert, wobei dies oft auf eine Realität innerhalb der Einrichtungen trifft, die diesen Orientierungen entgegensteht.

Um dieser Widersprüchlichkeit auf empirischer Basis zu begegnen, sei an dieser Stelle auf eine Studie von Tim Aubry, Susan Farrell, Stephen Hwang und Melissa Calhoun (2013) verwiesen, die in ihrer Clusteranalyse die Aufenthaltsmuster von Einzelpersonen in Notquartieren dreier kanadischer Städte auswerten. Bezugnehmend auf eine ähnliche, US-amerikanische Studie der 1990er Jahre (vgl. Kuhn/Culhane 1998) differenzieren die Autor*innen ihre Ergebnisse nicht entlang von klassischen Zielgruppen, sondern in Form dreier aggregierter Cluster, die sich an der Häufigkeit und der Dauer der Aufenthalte von Nutzer*innen orientieren:3

„A temporary cluster (88–94 per cent) experienced a small number of homeless episodes for relatively short periods of time. An episodic cluster (3–11 per cent) experienced multiple homeless episodes also for short periods of time. A long-stay cluster (2–4 per cent) had a relatively small number of homeless episodes but for long periods of time. Despite their relatively small size, the episodic and long-stay clusters used a disproportionately large number of total shelter beds.“ (Aubry et al. 2013: 910)

In ihrer Studie zeigen die Autor*innen anhand dieser Systematisierung auch unterschiedliche Unterstützungsbedarfe für Personen der jeweiligen Gruppen auf. Für die Gruppe der temporären Nutzer*innen empfehlen sie eine rasche Unterstützung in finanziellen Belangen mit Geldaushilfen, Mietnachlässen und -erlässen sowie Unterstützung bei der Re-Integration in den Arbeitsmarkt. Diese Gruppe könne mit schnellem, insgesamt aber relativ geringem Unterstützungsaufwand ihre krisenhafte Wohnsituation überstehen (vgl. Aubry et al. 2013: 925).

Für Personen, die dem Langzeit-Cluster zugeordnet werden, schlagen sie eine Kombination aus Hilfe bei der Wohnungssuche und den Umzug in eine möglichst unbefristete Mietwohnung vor. Die Adressat*innen sollen dabei durch eine intensive und längerfristige Unterstützung durch soziale Dienste begleitet werden. Bezugnehmend auf Geoffrey Nelson und andere (vgl. Nelson 2010; Nelson/Aubry/Lafrance 2007) haben sich Housing-First-Ansätze, die mittels subventioniertem Wohnen, Unterstützung durch intensives Fallmanagement und Integration ins Lebensumfeld arbeiten, als wirksam erwiesen, um gerade für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen Perspektiven aus der Obdachlosigkeit zu entwickeln (vgl. Aubry et al. 2013: 925).

Nutzer*innen des episodischen Clusters wiederum können ebenso von den Maßnahmen für Langzeit-Nutzer*innen profitieren, wenngleich mit wiederkehrenden Schwierigkeiten und Episoden von Wohnungslosigkeit und Nächtigungen in niederschwelligen Einrichtungen zu rechnen ist. Die Autor*innen beschreiben, dass Personen, die dieses diskontinuierliche Nutzungsmuster aufweisen, vom Hilfesystem oft nicht als akut wohnungslos und unterstützungssuchend identifiziert werden und sich daher die instabile Lebensführung wieder verfestigt (vgl. Aubry et al. 2013: 925f.).

Exemplarisch zeigt sich anhand dieser Studie, dass eine klassische Zielgruppenorientierung, wie sie in zahlreichen Systemen der Wohnungslosenhilfe in vielen Ländern und Städten implementiert ist, dann zu kurz greift, wenn komplexe Bedürfnislagen und Verlaufsformen von Betroffenen, gerade im niederschwelligen Bereich, nicht systematisch erfasst werden und in die Planung der Angebotsstruktur integriert werden. 4


3. Unterbringungsqualität in niederschwelligen und temporären Angeboten

In der untersuchten Literatur zu niederschwelligen Unterbringungsangeboten werden die Begriffe shelter und hostel weitgehend synonym für kurzfristig oder nur eine begrenzte Zeit nutzbare Unterkünfte verwendet, ohne dass auf eine kriteriengeleitete Angebotsdifferenzierung oder vergleichbare Ordnungssystematik angebotener Leistungen rückgeschlossen werden kann. Die Studien verweisen auf unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche, häufig regional ausdifferenzierte Hilfesysteme.5 Zudem werden in ihnen der niederschwellige und unbürokratische Zugang zu Akuteinrichtungen sowie die Qualität der Unterbringung als wesentliche Faktoren für die Entwicklung einer stabilen Wohnperspektive, also dauerhaftes, eigenständiges und gegebenenfalls unterstütztes Wohnen, betont (vgl. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 75; Gřundělová/Stanková 2019: 3).6 Victoria Burns (2016: 15) argumentiert anhand ihrer Untersuchung zu Erfahrungen von älteren, wohnungslosen Erwachsenen, dass Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe ihre Angebotsstruktur auf spezifische Wohnqualitäten, wie Komfort, Privatheit, Sicherheit oder ein hohes Maß an Selbstkontrolle der eigenen Lebensführung, ausrichten müssen. Nur so können nach Burns bedürfnisorientierte, bedarfsgerechte und wirkungsvolle Maßnahmen für akut wohnungslose Menschen gesetzt werden.


3.1 Niederschwelliger Zugang und Zugangsbarrieren

Der Bedarf an einem niederschwelligen Zugang zu Akuteinrichtungen wird anhand qualitativer sowie quantitativer Studien beforscht. Diesbezüglich zeigen sich diverse Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen in der Angebotsstruktur. Die Barrieren für akut wohnungslose Menschen, temporäre Unterbringungsangebote anzunehmen, sind vielfältig und hängen oft mit den sozialstaatlichen Versicherungsleistungen und institutionellen Anspruchsvoraussetzungen zusammen. Wir fokussieren im Folgenden auf Studienergebnisse, die den Zugang aus der Perspektive tatsächlicher oder potentieller Nutzer*innen thematisieren.

Wohnungslosigkeit wird im gesellschaftlichen Diskurs nach wie vor eher mit individuellem Fehlverhalten als mit komplexen und vielschichtigen gesellschaftlichen Herausforderungen verknüpft (vgl. Ha/Narendorf/Santa Maria/Bezette-Flores 2015: 28; Ha/Thomas/Narendorf/Santa Maria 2018: 482). Unter diesen Bedingungen ist die Profession Sozialer Arbeit jedoch gefordert, Angebote zu entwickeln, die akute Wohnungslosigkeit als temporäre Situation mit Aussicht auf Veränderung in Richtung einer stabilen Wohn- und Lebensperspektive verstehen. Gesellschaftliche Stigmatisierungen und persönliche Schamgefühle erschweren die Kontaktaufnahme ebenso wie negative Erfahrungen mit institutionellen Unterbringungsformen (vgl. Jost/Levitt/Porcu 2011: 251f.). In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der Zugang von Nutzer*innen zu Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in hohem Maße kontrolliert ist und sie aufgrund mangelnder Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten (vgl. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 71) in die Rolle von abhängigen Notsuchenden oder Bittsteller*innen gedrängt sind.

Zugangsbarrieren entstehen durch fehlende institutionelle Ressourcen. So stellen z.B. Kapazitätsauslastungen und Wartelisten für akut wohnungslose Menschen eine wesentliche Ausgrenzungserfahrung dar, die mit persönlicher Abweisung und Unverlässlichkeit des institutionellen Ensembles verbunden sind (vgl. Ha et al. 2015: 29). Ein niederschwelliger Zugang zu Akuteinrichtungen kann durch ausreichende Informationen, auch zu Auslastungskapazitäten verbessert werden; so würde eine rasche, unkomplizierte und direkte Kontaktaufnahme ermöglicht. Neben einer mehrsprachigen Internet- und Social Media-Präsenz, werden in den untersuchten Studien die Informationsvermittlung über Streetwork, die aufsuchende Soziale Arbeit und der Einsatz von Peer-Arbeit als wesentlich erachtet (vgl. ebd. 30; Ha et al. 2018: 482).7 Auch eine erschwerte Erreichbarkeit und periphere Lage von Einrichtungen – u.a. schlechte öffentliche Verkehrsanbindung, fehlende Infrastruktur im Einrichtungsumfeld oder bauliche Barrieren in öffentlichen Räumen und damit verbundene Mobilitätseinschränkungen – stellen Ausgrenzungsfaktoren dar (vgl. Walsh/Graham/Shier 2009: 65).


3.2 Privatheit und räumliche Aneignung

Bezugnehmend auf fehlende bzw. mangelnde Privatheit spricht Lynn McMordie (2018: 6) in ihrer Studie zu temporären Unterbringungseinrichtungen in Irland von einem „lack of privacy, choice and control“ (ebd.: 7) und warnt vor den negativen psychischen und emotionalen Folgen in Gemeinschaftsunterkünften, insbesondere für Einzelnutzer*innen. Die verdichtete institutionelle Präsenz von Menschen mit materieller Deprivation oder Gewalt- und Ausbeutungserfahrungen bei einem hohen Grad an institutionellen Zwängen wirkt sich negativ auf die individuelle Situation aus (vgl. ebd.: 6). Andere Studien thematisieren insbesondere die Unterbringung in Gemeinschaftsräumen und Mehrbettzimmern, die die Autonomie, Intimität und Selbstbestimmung von Bewohner*innen stark einschränken (vgl. z.B. Neale/Stevenson 2013: 535f., Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 73, Gilderbloom/Squires/Wuerstle 2013: 7). In diesem Zusammenhang wird auf die Bedeutung hingewiesen, die persönliche Raumaneignung und Ausdrucksmöglichkeiten für die eigene Identität und den Selbstwert haben. Insbesondere die Studie von Jill Pable (2013: 270) zu Nutzer*innen und ihren Besitztümern macht deutlich, dass die räumliche Begrenztheit in den meisten Unterkünften und mangelnde Lagermöglichkeiten mit einem Verlust von persönlichen Gegenständen verbunden sind. Doch gerade in der Phase der Wohnungslosigkeit können diese wichtige identitätswahrende, biographische Anhaltspunkte sein und symbolisieren perspektivisch eine angestrebte Normalität eigenständigen Wohnens (vgl. Pable 2013: 274–284).


3.3 Tagesaufenthalt und -angebote

Busch-Geertsema und Sahlin (2007: 72f.) weisen darauf hin, dass Akutunterkünfte ohne Tagesaufenthalt für Nutzer*innen in Europa, analog zur Entwicklung in Kanada und den USA, rückläufig sind (vgl. dazu auch Hurtubise/Babin/Grimard 2009: 15, Gilderbloom et al. 2013: 4). Gleichzeitig müssen Nutzer*innen in vielen europäischen Städten ihre Nächtigungsmöglichkeiten in der Wohnungslosenhilfe tagsüber verlassen und sind gezwungen, ihren Tag auf der Straße oder in anderen niederschwelligen Angeboten mit Tagesaufenthalt zu verbringen (vgl. z.B. Neale/Stevenson 2013: 535). In den analysierten Fachbeiträgen besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass der Tagesaufenthalt innerhalb der Unterbringungseinrichtung uneingeschränkt zu ermöglichen ist und reine Nächtigungsquartiere für die Mehrzahl von Nutzer*innen fachlich nicht zu empfehlen sind. Dabei wird meist für ein breiteres und ressourcenstärkeres Angebot argumentiert, für die ein persönlicher Zugang zu beratenden Fachkräften, die den Übergangsprozess zu einer dauerhaften Wohnsituation begleiten, als wesentlich erachtet wird (vgl. Hurtubise et al. 2009: 15; Gilderbloom et al. 2013: 4).

Die Empfehlungen für den Tagesaufenthalt wird insbesondere mit dem Beziehungsaufbau zwischen Nutzer*innen und Fachpersonal argumentiert, um darüber u.a. persönliche Unterstützung für die heterogenen Nutzer*innengruppen, insbesondere für schwer oder diskontinuierlich erreichbare Personen leisten zu können. Die Möglichkeit, auf mehrere Beratungs- und Vermittlungsangebote zugreifen zu können, erhöht die Wahrscheinlichkeit des erfolgreichen Übergangs in eine stabile Wohn- und Lebenssituation.8 Beratungs- und Begleitungsangebote oder Beschäftigungsmöglichkeiten stellen wichtige institutionelle Anknüpfungspunkte während des Tages dar, die Menschen in ihren prekären Lebenssituationen zu entlasten oder ermöglichen, über Perspektiven ins Gespräch zu kommen (vgl. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 73; Humphries/Canham 2019: 15). Wenngleich Tagesangebote für manche Nutzer*innengruppen wichtige Anknüpfungspunkte darstellen können, weisen andere Autor*innen auch auf Risiken hin, wenn Nutzer*innen beispielsweise auf Dauer einen Großteil ihrer Zeit in der Einrichtung organisieren (vgl. z.B. Hurtubise et al. 2009: 13).9


3.4 Sicherheitsbedürfnisse

Sicherheitsbedürfnisse von Nutzer*innen der Wohnungslosenhilfe sind in vielerlei Hinsicht von ihren biographischen Erlebnissen geprägt, teilweise sind sie Ursache der eigenen Wohnungslosigkeit oder mit deren Bewältigung verbunden. Nutzer*innen von Notunterkünften sind auch mit Gefahren innerhalb der Einrichtungen, wie physischer Gewalt, Einschüchterung oder Diebstahl, konfrontiert. Neben diesen direkten materiellen oder immateriellen Gefahren birgt die Unterbringung selbst ein ständiges Risiko, realen Grenzverletzungen oder traumatisierenden Erfahrungen anderer Nutzer*innen zu begegnen (vgl. z.B. McMordie 2018: 9). Auch wenn in den analysierten Beiträgen die Diskussion um positive bzw. negative Effekte von szene- bzw. milieuspezifischen sozialen Beziehungen unter Nutzer*innen nicht geführt wird, scheint die permanente Konfrontation mit Krisensituationen und abweichenden Lebensentwürfen in Unterbringungseinrichtungen für viele Nutzer*innen der Aussicht auf einen stabilen und langfristigen Wohnplatz entgegenzustehen.10

In der Studie von Heath McLeod und Christine Walsh (2014: 65) weisen Mitarbeiter*innen auf den Bedarf an privaten Zugängen zu den Unterkünften hin, um diskreditierende Zuschreibungen von Anrainer*innen beim Betreten und Verlassen von Nutzer*innen zu reduzieren und Stigmatisierungseffekte zu vermeiden. Das individuelle Sicherheitsgefühl der Bewohner*innen bezieht sich auch auf die Lage der Unterkunft in der betreffenden Wohngegend. McLeod und Walsh (2014: 30) verdeutlichen, dass Nutzer*innen von Wohnungsloseneinrichtungen in einem Umfeld mit „burnt-out street lights, abandoned shops, unsafe parks, limited public transit, payphones out of order, and a lack of police presence“ (ebd.: 30) ebenfalls Unsicherheit empfinden.


3.5 Institutionelle Normen

Hausordnungen und Einrichtungsregeln beschränken den niederschwelligen Zugang. So formulieren sie häufig Ausschlusskriterien (z.B. Verbot der Mitnahme von Haustieren, Konsumverbot von Suchtmitteln), die für viele Nutzer*innen nicht einzuhalten sind.11 Oft stellen diese Einrichtungsregeln und damit verbundene Sanktionen für wohnungslose Menschen ein großes Hindernis für den Kontaktaufbau und Hilfeannahme dar, da sie sich in ihren Rechten auf Sicherheit, Privatsphäre und Intimität stark eingeschränkt fühlen. In den meisten Unterbringungseinrichtungen werden den Nutzer*innen soziale Normen in hohem Maße von Mitarbeiter*innen vorgegeben, manchmal werden diese auch von externem Security-Personal kontrolliert. Selten werden diese Regeln partizipativ gestaltet, was häufig mit dem zeitlich begrenzten Aufenthalt legitimiert wird.

Die Rechte der Nutzer*innen in der niederschwelligen Akutunterbringung sind in der Regel eingeschränkt, die Verfügungsmacht der Mitarbeiter*innen hoch (vgl. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 70f.), das Alltagsleben der Nutzer*innen ist in hohem Maße reglementiert und mit hohen Anpassungsleistungen der Nutzer*innen verbunden (vgl. Diebäcker/Reutlinger 2018: 29–31). Gerade Nutzer*innengruppen, die aufgrund ihrer komplexen Bedürfnisse diese Normen nicht einhalten (können), sind aus empirischer Sicht häufig von Ausschlüssen betroffen (vgl. McMordie 2018: 10f.). Dem widerspricht, dass in niederschwelligen Einrichtungen der normative Anspruch besonders hoch ist, Sicherheit, Unterbringung, Grundversorgung und Wohnplatz zu bieten. Aufgrund dieser Exklusionsbeobachtungen argumentieren Autor*innen, dass strikte Regelauslegungen, Verweise, Ausgangs- oder Besuchsverbote in niederschwelligen, temporären Akutunterbringungen zu vermeiden sind (vgl. z.B. McMordie 2018: 11; Ha et al. 2015: 5; Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 70f.).


4. Fachliches Arbeiten in niederschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe als Forschungslücke

Unsere Analyse der internationalen, englischsprachigen Forschungsliteratur zeigt, dass das fachliche Arbeiten in niederschwelligen Unterbringungsangeboten der Wohnungslosenhilfe eine relevante Forschungslücke darstellt. Wir konnten im Rahmen unserer Recherche keine Studien identifizieren, die explizit und ausschließlich fachliches Arbeiten in niederschwelligen Angeboten zum Inhalt haben. In verschiedenen Studien finden sich einzelne Aspekte zu diesem Themenbereich, die hier kurz skizziert werden.


4.1 Multiprofessionalität

Die analysierte Literatur bietet keinen ergiebigen Einblick in Teamkonstellationen oder detaillierte Qualifikationsanforderungen von Mitarbeiter*innen in Einrichtungen der niederschwelligen Wohnungslosenhilfe.12 Aus der Studie des Forscher*innenteams um Marta Gaboardi (2019) geht hervor, dass Multiprofessionalität und interdisziplinäre Zusammenarbeit wichtige Faktoren sind, um Prinzipien und Haltungen innerhalb eines Teams umsetzen zu können. So kann z.B. die Verantwortung in Bezug auf Menschen mit komplexen Bedürfnissen geteilt werden oder mit der Vielfalt an Arbeitsansätzen eine größere Bandbreite an Problemen adressiert und bearbeitet werden (vgl. Gaboardi et al 2019: 8). Mitarbeiter*innen können aufgrund ihrer Ausbildung(en) und/oder Erfahrungen ein spezifisches und reflexives Verständnis für die Lebensbedingungen von wohnungslosen Personen entwickeln. Daraus resultieren persönliche, soziale und fachliche Kompetenzen des Zuhörens, Verstehens und Eingehens auf die Bedürfnisse und Anliegen der Adressat*innen (vgl. Hurtubise et al. 2009: 7).13 Multiprofessionalität wird insbesondere auch bei der gesundheitlichen Versorgung von Nutzer*innen eingefordert, z.B. im Anschluss an Krankenhausaufenthalte oder im Rahmen des Entlassungsmanagements des Strafvollzugs (vgl. Gaboardi et al. 2019: 8). Die Schnittstellen zwischen stationären Pflege- und Betreuungseinrichtungen und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe können aufgrund mangelnder Koordination die Bedarfe der Nutzer*innen nicht immer ausreichend abdecken. Häufig verbleiben Nutzer*innen in Akuteinrichtungen, ohne angemessene, medizinische oder pflegerische Betreuung zu haben (vgl. Humphries/Canham 2019: 14; auch McLeod/Walsh 2014: 32).14


4.2 Professionelle Beziehungsangebote

Damit soziale Unterstützung innerhalb der niederschwelligen Einrichtungen von den Adressat*innen angenommen werden kann, behandeln einige Studien die Etablierung einer tragfähigen Beziehung zwischen Adressat*innen und Mitarbeiter*innen.15 Der niederländischen Studie zur Servicequalität von Notquartieren von Jolanda Asmoredjo, Mariëlle Beijersbergen und Judith Wolf (2017: 779) zufolge, gaben alle befragten Zielgruppen (wohnungslose Erwachsene, wohnungslose Jugendliche, Wohnungslose, von häuslicher Gewalt betroffene Frauen) an, dass die Beziehung zwischen ihnen und den Mitarbeiter*innen zu den positivsten Erfahrungen während des Aufenthaltes zählen. Eine kanadische qualitative Studie, im Rahmen derer wohnungslose Frauen über 50 Jahre befragt wurden, bestätigt, dass die Beziehung zwischen Bewohner*innen und den Mitarbeiter*innen eine große Rolle spielt und dabei Gleichbehandlung, Nicht-Verurteilung und Partizipation von wesentlicher Bedeutung sind (vgl. McLeod/Walsh 2014: 31). In einer qualitativen Untersuchung von Archard und Murphy (2015: 9f.) schildern Nutzer*innen, dass sie Beziehungen zu Mitarbeiter*innen schätzen, wenn sie genügend Zeit haben und ihnen aktiv Aufmerksamkeit entgegengebracht wird. Der Beziehungsaufbau gelingt insbesondere dann, wenn alltägliche, praktische Arbeiten miteinander geteilt werden. Die Basis für eine vertrauensvolle Verbindung entsteht für die Befragten im frühzeitigen, praktischen Miteinander-Tun, denn über gemeinsame Einkäufe, Aktivitäten und Begleitungen fiel es den Adressat*innen leichter, sich zu öffnen und vertrauliche Gespräche zu führen (vgl. Archard/Murphy 2015: 10).

Der Kontaktaufbau und Beziehungsarbeit stellen demnach die Basis für fachliche Unterstützung in niederschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe dar. In einem ohnehin sehr ungewissen und von Diskontinuitäten geprägten Umfeld kann eine konstante Ansprechperson einen wichtigen Beitrag zur weiteren Unterstützung für Betroffene leisten.16 Die professionelle Gestaltung der Beziehung wird allerdings in den analysierten Fachbeiträgen kaum thematisiert, ebenso ist die notwendige Qualitätsentwicklung von Beziehungsarbeit (z.B. verpflichtende, regelmäßige Supervision oder Fortbildungen) eine Leerstelle. Auffallend ist, dass der Widerspruch zwischen der kurzen Wohndauer in niederschwelligen Einrichtungen und dem Anspruch, in dieser Zeit eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufzubauen, nicht diskutiert wird.


4.3 Perspektivenentwicklung

Die Entwicklung von Perspektiven spielt für Personen, die von akuter Wohnungslosigkeit betroffen sind, eine prioritäre Rolle. Die rasche und dauerhafte Bereitstellung von Wohnungen, wie viele Beiträge zu Housing-First betonen, ist eine wesentliche Voraussetzung zur Deckung des dringenden Wohnbedarfs und zur Unterstützung von Betroffenen (vgl. z.B. Benjaminsen 2018; Gaboardi 2019; Jost 2011, Busch-Geertsema/Sahlin 2007). Die australische Studie von Catherine Robinson (2003: 39–40, 42) sieht in der intensiven und ganzheitlichen Fallarbeit im One-to-One-Setting eine wesentliche Voraussetzung für die Perspektivenplanungen für stabile Wohn- und Lebenssituationen und die Vermeidung von Ausgrenzungs- oder Hospitalisierungseffekte in stationären Angeboten. Das Erleben von Wohnungslosigkeit stellt eine akute Krisensituation dar und ist häufig mit dem Verlust von Hoffnung verbunden, daher ist in der Krisenbewältigung und fachlichen Unterstützung das Arbeiten an Zukunftsorientierungen von entscheidender Bedeutung, wie Gřundělová und Stanková (2019: 1f.) mit Rekurs auf Studien von Kirst, Zerger, Wise, Plenert und Stergiopoulos (2014), Webber/Joubert (2015), Henwood et al. (2015) und Snyder et al. (1997) betonen. Sie verweisen darauf, dass das Setzen von realistischen und erreichbaren Zielen aufgrund des individuellen Kontrollverlustes in einer Situation von Wohnungslosigkeit besonders schwer ist. Perspektive und Hoffnung sind eng miteinander verbunden und neben individuellen Erfahrungen schränken auch Faktoren wie fortschreitendes Alter, strenge Regeln in Nachtquartieren, normative Erwartungen von Sozialarbeiter*innen wie auch gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen die Entwicklung von Hoffnung und Bewältigungsperspektiven ein (vgl. Gřundělová/Stanková 2019: 11–12).


5. Hoher Bedarf an einrichtungsbezogener Forschung in der niederschwelligen Akutversorgung der Wohnungslosenhilfe

Die hier überblicksartig dargelegten Recherche- und Analyseergebnisse zu Forschungsbeiträgen im Feld der Unterbringung und Akutversorgung von wohnungslosen Menschen zeigen, dass diese Studien viele tiefergehende Anregungen bieten und Entwicklungsbedarfe formulieren. Damit überschreiten sie die gegenwärtige deutschsprachige Fachdebatte in diesem Angebotssegment in vielerlei Hinsicht. Unser exemplarisch skizzierter Themenaufriss zum Spannungsfeld der Zielgruppenorientierung, zu niederschwelligem Zugang oder zur Unterbringungsqualität in der Wohnungslosenhilfe weist jedoch nicht nur auf wesentliche Forschungslücken im Fachdiskurs hin. Viel eher indiziert er auch – vorausgesetzt, Nutzer*innenperspektiven werden ernst genommen und notwendige Unterstützungsbedarfe als handlungsleitend gesetzt –, dass sozialstaatliche Angebotsstrukturen und einrichtungsbezogene Unterstützungsleistungen vielerorts herausgefordert sind, Transformationsprozesse in der Akutversorgung einzuleiten.

Ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Studien, von denen wir hier nur Teilaspekte skizzieren konnten, ist zudem, dass die Beziehungsverhältnissen zwischen Nutzer*innen und Personal sowie insbesondere die fachliche Praxis von Sozialarbeiter*innen in institutionellen Settings der niederschwelligen Wohnungslosenhilfe international kaum beforscht sind. Für die Disziplin und Profession Sozialer Arbeit geht damit der Auftrag einher, in einem etablierten Praxisfeld der niederschwelligen Wohnungslosenhilfe den fachlichen Status quo zu erfassen und verstehbar zu machen. Mit Blick auf die komplexen, institutionellen Beziehungsverhältnisse scheinen sich qualitative und explorative Forschungsdesigns besonders zu empfehlen. Durch begleitende und teilnehmende Zugänge können die Deutungsweisen, Interaktionen und institutionelle Rahmungen beschrieben und reflektiert werden und so weitere Impulse für die fachliche und programmatische Weiterentwicklung niederschwelliger Angebote in der Wohnungslosenhilfe gegeben werden.


Verweise
1 Im Sinne des explorativen Charakters war es unser inhaltliches Interesse, Forschungsbeiträge zu identifizieren, in denen über Unterbringungsangebote mit Tagesaufenthalt für akut von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen geforscht und geschrieben worden ist. Dieses Ziel stieß in mehrfacher Hinsicht auf Grenzen. Die Begriffe shelter und accommodation werden in der Literatur zu Wohnungslosigkeit häufig genannt und unterliegen selbst einem inhaltlichen Bedeutungswandel (vgl. z.B. Neale/Stevenson 2013: 535). Detaillierte Bestimmungen bzw. Definitionen zu spezifischen Formen der in den Studien genannten Einrichtungen (z.B. Nachtnotquartier, Akutunterkunft mit Tagesaufenthalt, Kurzzeit- oder Übergangswohnen etc.), sind oft nicht identifizierbar. Teilweise lassen sich auch keine Aussagen treffen, ob oder in welcher Form Tagesaufenthalt in Einrichtungen angeboten wird.
2 Bei der Volltextsuche innerhalb der Datenbanken wurden die Schlagworte (1) homeless bzw. homelessness mit (2) shelter, accommodation oder social service und (3) temporary, emergency oder daytime kombiniert. Ergaben die Wortkombinationen sehr viele Treffer wurde (4) das Schlagwort research zur zusätzlichen Eingrenzung verwendet. Korrespondierende deutschsprachige Stichwortsuchen lieferten sehr wenige Ergebnisse, sodass das Forschungsteam frühzeitig entschied, den Fokus der weiteren Recherche auf den englischsprachigen Fachdiskurs zu legen.
3 Lars Benjaminsens (2018) Untersuchung zur Beteiligung von Notquartiernutzer*innen in Dänemarks Housing First-Strategie orientiert sich ebenfalls an der Typologie von Kuhn und Culhane (1998), um Nutzer*innen in unterschiedliche Cluster zu differenzieren.
4 Eine finnische Follow-up-Studie zu einstigen Nutzer*innen eines Notquartiers in Helsinki zeigt, dass die Sterblichkeit in dieser Gruppe mit 52 Prozent besonders hoch ist (vgl. Stenius-Ayoade et al. 2019). Die Studie beschreibt, dass nach zehn Jahren nur ein geringer Anteil der anderen Nutzer*innen noch obdachlos ist, ein geringer Anteil ohne Unterstützung in einer eigenen Wohnung lebt und viele Personen Unterstützung in ihrem Alltag benötigen. Dies zeigt auch, dass der Forschungsbedarf zu manifester Wohnungslosigkeit und erfolgsversprechenden Gegenstrategien gegenwärtig besonders hoch ist.
5 Tatsächlich scheinen vielfach die finanziellen Förderbedingungen für eine stufenplanorientierte Organisation von Angeboten der Wohnungslosenhilfe oder für selektive Anspruchsbedingungen für potentielle Nutzer*innen dazu zu führen, dass Unterbringung, Unterstützung und Weitervermittlung in stabiles Wohnen an vielfältige institutionelle Grenzen stoßen. Provisorische Unterbringungsangebote mit ihrer rudimentären Ausstattung können sich in Folge zur Regelstruktur entwickeln, sodass sich Aufenthaltsdauern abseits individueller Bedarfslagen und fachlicher Einschätzungen entgrenzen (vgl. z.B. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 81). Eine rasche Abkehr von traditioneller Unterbringungsversorgung über Herbergen und Heime sowie die schnelle Vermittlung in eigenständige und unterstützte Alternativen wie Housing First werden in der Forschung vermehrt als Verhinderung manifester Obdachlosigkeit positioniert (vgl. z.B. McMordie 2018: 8, Jost et al. 2011: 253f.).
6 Die qualitative Untersuchung von John J. Jost et al. (2011) in New York City beschreibt den großen Erfolg der direkten Wohnungsbereitstellung für Menschen, die von chronischer Wohnungslosigkeit betroffen sind, gegenüber gängigen Stufenplanmodelle, die auf „demonstration of ‚housing readiness‘“ (ebd.: 244) ausgerichtet sind. Aus Sicht der Nutzer*innen waren wichtige Erfolgsfaktoren u.a. die konkret zur Verfügung stehende dauerhafte Wohnmöglichkeit (als wesentlicher Auslöser für Veränderungsprozesse) sowie die Möglichkeit, jederzeit flexibel auf fachliche Unterstützung rückgreifen zu können (vgl. ebd.: 253–256).
7 Das Projekt No Second Night Out Greater Manchester versucht laut der Evaluation von Turley, Scullion und Brown (2014) akute und konkrete Unterstützung für wohnungslose Menschen zu organisieren und Herausforderungen durch eine direkte Kommunikation mithilfe von Streetwork und Peer-Arbeit sowie durch eine rasche Vermittlung zu Wohnplätzen entgegenzuwirken. Es zeigt sich, dass durch diese unmittelbare Unterstützung Zugangsbarrieren zu Akuteinrichtungen minimiert werden können (vgl. Turley et al. 2014: 5ff.).
8 Humphries und Canham (2019: 15) verweisen in ihrer Literaturanalyse auf eine Studie zu einem Londoner Nächtigungsprojekt (vgl. Warnes/Crane 2000) sowie auf ein Projekt mit älteren Erwachsenen in Ontario (vgl. Ploeg/Hayward/Woodward/Johnston 2008), in dem sich ein umfassendes, individualisiertes Case Management als erfolgreich erwiesen hat. Ähnlich argumentiert eine israelische Umfrage unter jugendlichen Nutzer*innen, die ergab, dass die Beziehungsqualität zu Mitarbeiter*innen auf hohe Zustimmung und Zufriedenheit trifft (vgl. Spiro/Dekel/Peled 2009: 268).
9 Der Aspekt der Freiwilligkeit ist in diesen niederschwelligen Settings unumgänglich, führen doch zahlreiche institutionelle Zwänge zu Abbrüchen des Aufenthalts und der fragilen Arbeitsbeziehungen, wie z.B. Ha et al. (2015: 31) für junge Nutzer*innen beschreiben. Ähnlich argumentiert McMordie (2018: 6–7), die die materielle Konditionierungen als Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts von Nutzer*innen problematisiert, z.B. wenn Auszahlungen von Geldleistungen an die Erreichung der gesteckten Ziele der Hilfeplanung oder Verhaltensänderungen geknüpft werden.
10 Petru Negură (2019) betont in seiner Studie zur Wohnungslosigkeit in Moldawien, dass die besonders von institutioneller und sozialer Ausschließung Betroffenen in der Wohnungslosigkeit beginnen, soziale Beziehungen mit ebenfalls wohnungslosen Personen zu entwickeln. Diese sozialen Netze mit ihren stützenden Funktionen können daher einerseits als Bewältigungsstrategie in der akuten Notsituation verstanden werden und zugleich wesentlicher Aspekt zur Verfestigung von Wohnungslosigkeit sein.
11 Studien zeigen, dass Tiere wohnungslosen Menschen oft eine besondere Stabilität bieten und eine große Ressource sind. So ist ein Einzug ohne das eigene Haustier in eine Einrichtung für viele nicht zumutbar, weshalb Angebote erst gar nicht genutzt werden (vgl. Labreque/Walsh 2011: 88).
12 Für einen Überblick zur Personalstruktur in der US-amerikanischen Wohnungslosenhilfe siehe die Studie von Joan Mullen und Walter Leginski (2010).
13 Eine kanadische Studie zur Genesungsphase in einem Notquartier nach Krankenhausaufenthalten kommt zu dem Schluss, dass mithilfe einer eigenen Rekonvaleszenz-Einheit innerhalb eines Notquartiers mit entsprechenden Angeboten die gesundheitliche Versorgung gesichert und die Nachbehandlung gewährleistet und der Substanz-Abusus gesenkt werden kann und letztlich hilfreich für die weitere Wohnversorgung ist (vgl. Podymow/Turnbull/Tadic/Muckle 2006: 380).
14 In ihrer Literaturstudie fassen Joe Humphries und Sarah L. Canham (2019) die Bedarfe für wohnungslose Erwachsene über 50 Jahren zusammen. Sie halten fest, dass diese Personengruppe gesundheitsspezifische und altersgerechte Angebote benötigt, damit in Akuteinrichtungen eine entsprechende Versorgung gewährleistet werden kann. Darunter fällt ebenfalls ein gut koordiniertes medizinisches Schnittstellenmanagement (vgl. Humphries/Canham 2019: 2). Neben der gesundheitlichen Versorgung, sind auch hier Privatsphäre und Selbstbestimmung von besonders hoher Bedeutung. Ferner wird eine Organisationsstruktur empfohlen, die flache Hierarchien vorsieht und Gelegenheit zur Interaktion auf Augenhöhe mit dem Personal ermöglicht. Damit wird auch die aktive Teilhabe der Bewohner*innen im gesellschaftlichen Leben außerhalb der Einrichtung begünstigt (vgl. McLeod/Walsh 2014: 4, 30).
15 Mehrere Studien betonen, dass sensible und professionelle Erstkontakte zwischen Nutzer*innen und Mitarbeiter*innen den Zugang zu einer Einrichtung erleichtern. Eine unvoreingenommene, offene und unterstützende Haltung gegenüber Betroffenen wird als professionelle Grundhaltung betont. Da Nutzer*innen von Akuteinrichtungen in der Wohnungslosenhilfe häufig auch an andere Versorgungsangebote angebunden sind, ist transparente und sensible Schnittstellenkommunikation im Sinne der Nutzer*innen von hoher Bedeutung (vgl. Black et al. 2018: 10; Ha et al. 2015: 32; McLeod/Walsh 2014: 21).
16 Aus der Evaluierung des Projekts No Second Night Out (NSNO-GM) geht hervor, dass nachgehende Beziehungsarbeit positive Auswirkungen auf Nutzer*innen hatte. Obwohl diese bereits temporäre Wohnplätze bezogen haben, blieb der Kontakt zu den Mitarbeiter*innen von NSNO-GM bei Bedarf aufrecht (vgl. Turley et al. 2014: 14f.).


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Über die Autor_innen


FH-Prof. Dr. Marc Diebäcker
marc.diebaecker@fh-campuswien.ac.at

studierte Politikwissenschaft, Geschichte sowie Soziale Arbeit und Erziehung in Duisburg, Edinburgh und Wien. Er lehrt und forscht an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Gesellschaftskritik, Sozialraum und Soziale Arbeit, Wohnen und Wohnungslosenhilfe, institutionelle Räume und Einrichtungsforschung, aufsuchende Soziale Arbeit.


Mag.a (FH) Doris Stephan
doris.stephan@fh-campuswien.ac.at

absolvierte eine Lehre zur Tourismuskauffrau, studierte Soziale Arbeit in Wien und ist systemische Supervisorin i.A.u.S. Sie war im Feld der Sozialen Arbeit u.a. im Bereich psychische Gesundheit, Gewaltschutz und Wohnungslosenhilfe tätig. Sie lehrt und forscht an der FH Campus Wien. Schwerpunkte: Wohnungslosenhilfe, Krisenintervention, Gewaltschutz, Praxisreflexion.


Mag. (FH) Thomas Valina MA
thomas.valina@fh-campuswien.ac.at

Diplomstudium der Sozialen Arbeit und Sozialmanagement an der FH Campus Wien sowie ein MA-Studium angewandtes Wissensmanagement mit Schwerpunkt E-Learning an der FH Burgenland. Er war langjähriger Mitarbeiter der Schuldnerberatung Wien, derzeit lehrt und forscht er an der FH Campus Wien mit dem Schwerpunkt materielle Grundsicherung.


Katrin Hierzer BA, BA
katrin.hierzer@gmx.at

absolvierte die Bachelorstudien Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und Soziale Arbeit an der FH Campus Wien. Sie arbeitet als Sozialarbeiterin in einer Einrichtung der Wiener Wohnungslosenhilfe und ist im Rahmen von Forschungsprojekten mit den Schwerpunkten Wohnen und Wohnungslosenhilfe an der FH Campus Wien als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig.